Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Siebentes Kapitel

Die Maisonne leuchtete auf den Hügeln der Südvorstadt, wo Fliederbüsche und Bäume zu grünen begannen, glänzte auf den Dächern der dunklen Häusermassen, die zwischen den Brücken gedrängt stehen, lag wie ein Schimmer über den Wellen des Wassers, das am Kai entlang schoß und die neuangestrichenen, für die Sommerfahrten gerüsteten Dampfer umspülte, und glitzerte in den Strudeln im Kiel des Skärgardsbootes, das, langsam die Stadt hinter sich lassend, dem breiten Fahrwasser zudampfte. Es war Sonntagmorgen. Gruppen von Herren und Damen standen auf dem Verdeck und betrachteten stumm die frühlingsgrünen Ufer, die vorüberglitten.

Sonntagsstimmung und Landlust herrschten auf dem ganzen Boot. All die Menschen, die noch am Tag zuvor eilig und ernsthaft auf der Straße aneinander vorbeigelaufen waren, schienen heute völlig verwandelt. Die Augen strahlten, die Lippen schwatzten heitern Unsinn. Unbekannte tauschten lebhafte Blicke, frohe Ausrufe, freundschaftliche Worte. Männer und Frauen hatten, während sie sich einander näherten, ganz neue Gesichter, lächelten, gingen wieder auseinander und genossen stumm den Anblick der Buchten, die sich weiteten und wechselten, des Wassers, das immer klarer wurde, der Tannenwälder, die so dunkel darüberstanden, und der Möwen, die kreisend dem Boot folgten, untertauchten, sich wieder emporhoben, die Brotstückchen haschend, die eifrige Kinderhände in das schäumende Kielwasser warfen.

Auf der Kommandobrücke stand Ake Hjälm. Der Oberlehrer war ein ganz anderer Mensch heute. Der Freiluftmensch, das Landkind, das einst hervorgebrochen war, als er sich in Frau Liese verliebte, eine Natur, die seiner eigentlichen ganz fremd war, trat wieder zutage und jagte den Schulmeister zur Tür hinaus. Der Oberlehrer sah aus wie ein Kapitän in seiner geradschirmigen Mütze und der dicken Sportjoppe mit den Hornknöpfen. Er war in der eigentümlich festlichen und glücklichen Stimmung, die ihn stets beseelte, wenn er im Frühling das erstemal nach dem kleinen Häuschen hinausfuhr, in dem er jeden Sommer, seit er verheiratet war, mit seiner Frau zubrachte. Dies Häuschen mit seinem roten Anstrich und den weißen Fenster- und Türrahmen, das er selber zweimal hatte neu anstreichen lassen, war für ihn ein Heim, wie er es in der Stadt nicht fand. Ihm, dem Landkind, steckte das Bedürfnis nach einer festen Wohnstelle im Blut, und ganz bei sich selber begriff er nie, wie es den Menschen Freude machen konnte, gerade im Sommer, wenn die Natur so mild war und alle Geschöpfe an ihr Herz zog, umherzuflackern und ständig den Platz zu wechseln. »Ein Heim muß man haben,« pflegte er zu sagen, »einen festen Punkt auf Erden, wohin man immer zurückkehrt, ein Heim, und nicht eine Wohnung.« Während er jetzt an das Geländer der Kommandobrücke gelehnt dastand, blickte er hinaus über die Wasser seiner Jugend; und alte Erinnerungen erwachten. Als er und Frau Liese sich eingerichtet hatten, war der Oberlehrer einmal mit demselben Boot, das noch heute seinen alten Weg durch die Schären fuhr, auf gut Glück ausgezogen, um eine Sommerwohnung zu suchen, in der er sich und das Glück, das ihm so unerwartet in den Schoß gefallen war, verstecken konnte. Als das Boot bei Kulma anlegte, ging er an Land. In der Tasche trug er eine ganze Liste voll Adressen. Aber schon beim ersten Haus, das er sich ansah und das »die Kathe« hieß, kam es ihm plötzlich vor, als könne er gar nichts Besseres finden. Immer in Gedanken an Liese ging er lange umher, besah sich alles, ehe er sich entschloß, einzutreten und nach dem Preis und anderen materiellen Kleinigkeiten zu fragen. Ihm schien, als wäre das kleine Häuschen mit dem Verandazimmerchen nach dem See hinaus und den Birken im Garten just der Ort, von dem er immer geträumt hatte. Der Weg zur Bucht war schattig und schmal; und gleich hinter dem Gärtchen begann der Tannenwald. Licht und Dunkel untereinander, gerad wie das Leben auch, hatte er gedacht. Als er dann ins Haus kam mit seinen Tannenmöbeln, niederen Decken und weißen Gardinen, fühlte er sich gleich daheim. Die Kathe wurde sein, und zum erstenmal zog er ein zur lieblichen Mitsommerzeit, an einem Abend als die Sonne sank, die Buchfinken schmetterten und der Kuckuck im Wald rief. Da führte er Liese in das neue Heim und fragte sie, ob sie glaube, hier könnt' es ihr wohl sein. Und Liese, die an des Mannes Stimme hörte, wie glücklich er war, vergoß Freudentränen. Still und ruhig wie sein ganzes Leben, war dieser Sommer verronnen.

Seitdem hatten die Gatten die Kathe behalten; jeden Sommer kehrten sie in das freundliche Haus unter den Birken zurück. Jetzt war's schon der elfte. Dem Oberlehrer wurde ganz wehmütig und ernst zumute, als er daran dachte. Alles, was da draußen war, war so ganz nach und nach gekommen; ihm war, als könne er die Jahre am besten nachrechnen, wenn er an all diese Sommer dachte und wie sich die Kathe unter seiner und seiner Gattin Hand nach und nach verwandelt hatte. Er genoß seine Ferien als echter Schulmann; und alles, was er auf seiner Kathe besaß, war ihm im Grunde weit lieber als seine ganze Stadtwohnung. Und während er jetzt daran dachte, freute er sich. Da lag das Fischerboot, wohlverwahrt unter einem Haufen Tannenreisig. Die Angeln hingen an ihren Haken in der Netzhütte, die Aalschnur lag in ihrem Kasten unterm Dach. Tonnen und Eimer, Gartenstühle und Hängematte, das neue Segel für das Fischerboot, das ein für allemal gemietet war – alles war da, wurde von einem Sommer auf den andern verwahrt und erwartete ihn, wenn er kam. Das letzte war die Glasveranda, die er gebaut hatte, als er einmal fand, er hätte die Mittel zu diesem Luxus, von dem er und seine Frau jahrelang gesprochen hatten. »Verandabesitzer bin ich«, pflegte der Oberlehrer zu sagen. »Hausbesitzer werd' ich ja doch nie.«

Gegen alle sonstige Gewohnheit standen heute der Oberlehrer und Folke allein auf der Kommandobrücke. Als das Mädchen zum Wecken kam, hatte sich Frau Liese ein bißchen unpäßlich gefühlt, und anfänglich hätte das fast dem Oberlehrer die ganze Freude an diesem Tag verdorben. Der Oberlehrer war gewissermaßen ein sentimental anspruchsvoller Mensch; er wollte, der Festtag, den er sich in der Einbildung so schön ausgemalt hatte, solle ohne Mißklang sein. Um der anderen willen bezwang er aber seine Verstimmung und hoffte, wenn Frau Liese sich in ihrer Kabine ausgeruht hätte, würde der Sonnenschein wiederkehren. Dieser Tag war nämlich ein Familienfest, fast eben so wichtig, wie Weihnachten oder ein Geburtstag. Die Sommerwohnung zu besichtigen war gar nicht nötig; die stand, wo sie stand, und Vesterberg war ein zuverlässiger Kumpan, auf den man sich, wenn er einmal gewonnen war, verlassen konnte. Auch wenn niemand hinkäme und nachsähe, würde der Garten bestellt, das Segelboot im Wasser und das Haus zum Sommer rein und in Ordnung gemacht sein. Aber es gehörte nun einmal zum Frühjahrsprogramm, daß die Familie ein paar kurze Sonntagsstunden auf der Kathe zubrachte, gleichsam als Vorschmack vom Sommer, daß man ruhig am Ufer sitzen und das Dampfboot pfeifen hören konnte, ohne hinunterspringen und die Flagge hissen zu müssen. Frühsommerfest nannte man diesen Sonntag in der Familie, und der Oberlehrer legte ihm fast höheren Wert bei als Folke, der ruhig beobachtend neben ihm auf der Kommandobrücke stand und seine Aufmerksamkeit zwischen den vorübergleitenden Ufern und dem Steuermann teilte, der einförmig an dem großen Rad drehte.

Ohne sich vom Platz zu rühren, stand der Oberlehrer, in seine Träume versunken, da. Und ohne sich stören zu lassen, beantwortete er Folkes Fragen und Ausrufe. In seinem Innern redete die Erinnerung, und er freute sich, wie jeder Platz, an dem sie vorüberfuhren, ihm so bekannt war. Wie schön das alles war an solch einem Frühlingsmorgen! Wie reich – wie voll! »Und doch,« dachte der Oberlehrer, »genieße ich das alles nicht so, wie einst. Als ich noch jung war, machte ich mir doch alles, was ich sah, auf weit innerlichere Art zu eigen. Meine Fähigkeit, alles in mich aufzunehmen, war viel intensiver. Ich war einfach jünger. Darin liegt alles. Man kommt eben in die Jahre. Das beste, was uns das Leben schenkt, hab' ich bereits gehabt. In meinen Jahren fängt man leise an, beiseite zu gleiten, zu den Stillen.« Als enthielte dieser Gedanke eine Ungerechtigkeit gegen seine Lieben oder einen Undank gegen das, was das Leben ihm gab, verscheuchte er ihn rasch. »Das Beste, was ich mir vom Leben gewünscht habe, hat es mir doch gegeben. Nicht so, wie ich's mir wünschte, aber vielleicht besser. Ich bin nicht einsam. Die Last, die mir sonst vielleicht schwer geworden wäre, hat sie mir tragen helfen.« Seine Gedanken flogen voll Wärme zu seiner Frau; und wie immer überkam ihn ein unbestimmtes Gefühl von Schuld, als er an sie dachte. Er nahm Folke mit sich in den Speisesaal, und nachdem sie zwischen der Menge am Frühstückstisch Platz gefunden hatten, gab er dem Jungen die Speisekarte und ließ ihn selber wählen. Folke war in strahlender Laune. Er schwatzte und lachte in einem fort, leise, still, weil so viele fremde Menschen da waren, aber dafür um so herzlicher; Vater war doch heute in der Landlaune! Die Dressur, mit der er sonst den Jungen oft quälte, hörte da ganz von selber auf. Machte der Kleine eine Dummheit, so tat der Vater, als merke er es nicht; und diese Gefühlsfreiheit beglückte Folke immer hoch. Papa war froh, weil er froh war. Das war etwas so Großes, weil es so selten vorkam. So gemütlich, wie es war, wenn sie an solch einem lichten Ferientag allein miteinander waren, war es sonst nie. Das wußte Folke sehr wohl; der einzige, der sich über den Sachverhalt täuschte, war der Oberlehrer selber. Er war felsenfest davon überzeugt, er tue alles für seinen Sohn und Folke habe nichts, was ihm das Dasein verdüstern könne.

Nach dem Essen ging er mit dem Knaben wieder auf Deck und freute sich, daß sie jetzt draußen in den Schären waren, wo die Bäume kahler wurden und die Luft kühler und frischer wehte.

Weit dehnte sich das Wasser zu beiden Seiten des Bootes: hoch in der Luft schrien die Möven.

Der Oberlehrer überließ es jetzt Folke, sich auf eigene Faust zu vergnügen. Er selber setzte sich auf die Mittelbank unter dem Zeltdach und zündete eine Zigarre an. Während er sie langsam und sorgfältig zu Ende rauchte, amüsierte er sich damit, die Menschen ringsum zu beobachten, und freute sich, daß auch sie alle, grade wie er, einmal aus der Stadt entrinnen und vom Kulturleben ausruhen durften. Als die Zigarre aus war, sah der Oberlehrer nach der Uhr und fand, jetzt könnte es Zeit sein. Fröhlich, wie vor einem neuen Vergnügen, das ihn erwartete, ging er hinunter, trat vorsichtig in eine der Kabinen und betrachtete stillschweigend Frau Liese, die schlief und sein Kommen nicht gehört hatte. Als er sie weckte, sagte sie ziemlich unfreundlich:

»Warum weckst du mich denn? Ich schlief so gut.«

Aber der Oberlehrer ließ sich nicht stören.

»Du mußt doch frühstücken«, erwiderte er ruhig. »Sonst wird's zu spät.«

Frau Liese war keineswegs in derselben Stimmung wie ihr Mann. Sie hatte noch einen etwas schweren Kopf vom Gewecktwerden und war außerdem ein bißchen ärgerlich, weil sie ihrem Mann zuliebe ihre ursprüngliche Abneigung gegen die Reise überwunden hatte. Aber der Oberlehrer ließ sich durch nichts die gute Laune verderben. Er wartete, bis seine Frau fertig war, führte sie in den Speisesalon, bestellte Frühstück und freute sich über ihren Appetit, wie er sich heute überhaupt über alles freute, was ihm unter die Augen kam. In leisem, ruhigem Ton sprach er auf sie ein – wie herrlich der Tag wäre, wie seine Gedanken zu ihrer ersten Reise hier heraus zurückgewandert wären, und wie jede spätere Reise ihm immer reicher und schöner erschiene. Jedesmal war ein neues Jahr dazu gekommen, ein neues Jahr, das ihnen beiden so glücklich miteinander zu leben vergönnt war.

Frau Liese taute nach und nach auf. Sie vergaß, daß es überhaupt jemals eine Mißstimmung zwischen ihnen gegeben hatte. Sie reichte ihrem Mann über den Tisch die Hand, die er innig drückte, und er hatte das Gefühl, als habe er bei seiner Frau einen Widerstand besiegt.

Als sie landeten, sagte er:

»Seht, Kinder, Vesterberg hat geflaggt!«

Das hatte der Oberlehrer in all den zehn Jahren jedesmal gesagt; und Vesterberg, der seine Sommergäste kannte, unterließ es nie, ihnen auf jede nur mögliche Weise seinen guten Willen zu zeigen. Sie hatten ihm sein Haus frisch gestrichen, den Garten angepflanzt, neues Land dazu angebaut, die Glasveranda machen lassen. Darum liebte Vesterberg seine Mieter und empfing sie jedesmal mit einer Art mürrischen Sonnenscheins. Jetzt stand er am Landungssteg und grüßte. Das wettergebräunte Gesicht mit dem Backenbart unter dem dichten, graugesprenkelten Haar lächelte.

»Wo ist denn Eure Alte?« fragte der Oberlehrer, nachdem die Begrüßung vorüber war. »Sie ist doch nicht krank?«

Vesterberg hustete, warf einen Blick nach dem Dampfboot, das schnaubend und rauschend eben vom Steg abfuhr, und erwiderte:

»Sie ist mir im Frühjahr gestorben.«

Der Oberlehrer wurde ganz erregt.

»Und das habt Ihr uns nicht einmal geschrieben?«

»Nein«, antwortete der Alte. »Das hätt's ja doch nicht anders gemacht. Und ich dachte, es wär' noch Zeit genug, wenn ich's selber erzählte.«

Still wanderte die kleine Gesellschaft den Pfad zum Häuschen hinauf. Vesterberg berichtete von der Krankheit seiner Frau, wie lang sie gedauert hätte und wie schwer es gewesen wäre.

»Habt Ihr nicht nach dem Arzt geschickt?« fragte Frau Liese.

»Dran gedacht haben wir schon. Aber meine Alte meinte immer, wir sollten noch warten. Und eines Tags, wie ich heim kam, sah ich, daß kein Rauch aus dem Kamin kam. Da merkte ich, daß etwas passiert sein mußte, und ging ein bißchen langsamer. Und als ich hinein kam, lag sie im Bett und war tot.«

Folke ging stumm an der Seite des Vaters. Bei den letzten Worten ergriff er seine Hand und blickte mit großen Augen nach dem kleinen Haus, in dem solches geschehen war. Als dann Vesterberg in seine Stube ging, um die Herrschaften nicht länger zu stören, wandte der Junge sich zum Vater und sagte:

»Denk', – ganz allein ist sie gestorben!«

Daran hatte er die ganze Zeit denken müssen.

Frau Liese ging zu dem Kind hin und küßte es auf die Wange, was sie sonst nur selten tat.

Der Oberlehrer fühlte sich glücklich, wie immer, wenn seine Frau den Sohn liebkoste.

»Alte Leute sterben meist leicht«, sagte er.

Sie wanderten hierauf um ihre kleine Sommerwohnung herum, sahen, daß die jungen Obstbäume den Winter gut überstanden hatten, daß Krokus, Hyazinthen und Schneeglöckchen schon aus der Erde guckten, und daß die Tannenhecke um den Garten gewachsen war, seit sie sie nicht mehr gesehen hatten. Um die Veranda waren schon die wilden Reben gezogen und der Rosenstock vor dem Fenster war von seiner Hülle von Moos und Reisig befreit. Dann gingen sie hinunter zum Badeplatz, wo schon das Segelboot bereit lag. Alle drei stiegen ein, der Oberlehrer hißte das Segel, und hinaus ging's aufs Wasser. Hin und her kreuzten sie in dem schmalen Sund; wo er sich weitete und die große Bucht anfing, schoß das Boot mit vollem Segel dahin. Als sie endlich umkehrten und landwärts steuerten, nahm Folke das Steuer, und der Oberlehrer setzte sich neben seine Frau.

Wieder begann er von dem zu reden, was ihn am Morgen beschäftigt hatte. Er sprach leise, und Frau Liese antwortete ebenso. Folke war vollauf in Anspruch genommen durch die Freude und Verantwortung des Steuerns. Das Gespräch zwischen den beiden Eheleuten hatte einen vollen, vertraulichen, warmen Klang, wie zwischen zwei Menschen, die einander plötzlich sehr nah gekommen sind und vergessen haben, daß überhaupt jemals etwas die Harmonie zerreißen könnte, in der sie jetzt ruhen.

»Wie leicht alles hier wird!« sagte der Oberlehrer.

»Ja«, erwiderte sie. »Wenn wir nur nie wo anders sein müßten.«

»Auch im Winter nicht, wenn Schnee liegt und Eis?«

Der Oberlehrer lächelte heiter.

»Was tut das?«

Sonnenlichtblau schimmerte die Bucht. Rauschend schlugen die Wellen an den Bug der Bootes.

Da sagte Frau Liese plötzlich, gerade wie vorhin Folke:

»Denk' – ganz allein sterben müssen.«

»Du denkst an die Alte?«

»Ja. Und daß wir das jetzt grad hören mußten.«

»Wie meinst du das?«

»Es wird einem seltsam vorkommen im Sommer, immer zu denken, daß sie da im Winter ganz allein gestorben ist.«

Der Oberlehrer lächelte.

»Glaubst du, auf der ganzen Erde gäb' es einen Ort, an dem noch kein Mensch gestorben ist?« sagte er.

»Nein. Aber ich weiß, hier in der Einsamkeit werd' ich immer daran denken müssen.«

»Und vorhin hast du doch immer hier wohnen wollen? Sogar im Winter, wenn Schnee und Eis liegt?«

Der Oberlehrer lächelte ein bißchen ironisch; aber, als fürchte er seine Frau zu kränken, fuhr er fort:

»Weißt du, warum du jetzt an den Tod denkst?«

»Nein.«

»Man tut das meist, wenn man glücklich ist.«

Mit einer raschen Gebärde nahm Frau Liese die runde Reisemütze, die sie trug, ab, und indem sie näher zu ihrem Mann hinrückte, schmiegte sie sich an ihn und lehnte den Kopf an seine Schulter. So blieb sie still sitzen, bis das Boot eine Wendung machte und Folke vorsprang, um mit dem Bootshaken den Anprall an die Ufersteine aufzufangen. Und während sie so saß, dachte sie darüber nach, weshalb nur das Leben nicht stets so einfach sein konnte und leicht wie ein Sonnentag im Mai, wenn der Wind in den Segeln spielt.

Ein paar Stunden später standen die Gatten mit Folke wieder drunten auf dem Steg, von dem die kleine weiße Flagge flatterte, zum Zeichen für den Dampfer, daß er anlegen mußte. Auch Vesterberg war da, um Adieu zu sagen; und als das Boot davonrauschte, schwenkte der Alte zum Abschied die Mütze; das graugesprenkelte Haar glänzte in der untergehenden Sonne. Und wieder packt Frau Liese der Gedanke an den Alten, der seine Frau, mit der er fast ein Menschenalter zusammen gelebt hatte, verlieren mußte. Sie wandte sich zu ihrem Mann und sagte leise, um nicht von all den Menschen ringsum gehört zu werden:

»Siehst du ihn, wie einsam er dort steht?«

Der Oberlehrer nickte. Auch er fühlte etwas von dem eisigen Vorgeschmack der Möglichkeit einer Vereinsamung, den das Bewußtsein der Nähe des Todes gibt.

»Vielleicht ist er im Grunde ganz zufrieden mit dieser Einsamkeit!«

»O, pfui!« sagte Frau Liese. »Wie kannst du so etwas sagen!«

»Ja,« erwiderte der Oberlehrer wehmütig, »man kann nie wissen.«

Frau Liese saß in Gedanken da. Wie so oft schon, wenn der Oberlehrer etwas gesagt hatte, das sie nicht fassen konnte, dachte sie: »Ist er vielleicht im Innersten unbefriedigt mit mir? Sehnt er sich ganz in der Stille nach dem Alleinsein?« Scheu sah sie zu ihrem Mann auf. Sein Profil zeichnete sich von der Luft ab. Er sah gerade vor sich hin und schien ganz vergessen zu haben, daß sie neben ihm saß.

Da wandte er sich um und sah den Ausdruck im Gesicht seiner Frau. Instinktiv ahnte er, was sie dachte, und fühlte auch sogleich, daß über seine eigenen Züge ein Schatten glitt. Er blickte hastig weg, damit sie es nicht merken sollte. »Immer mißtraut sie mir!« dachte er. »Nicht einmal heut ist sie ganz glücklich!«

Er mochte aber jetzt nicht darüber sprechen. Er wollte nicht, daß eine ihrer langen, endlosen Streitereien beginnen und die Erinnerung an die schöne Freude dieses Tages trüben sollte. Darum zwang er sich zu einem Lächeln, und es gelang ihm. Und als hätte sie ihn verstanden, lächelte Frau Liese zurück, ein scheues, wehmütiges, dankbares Lächeln, in dem etwas von der lichten Resignation zitterte, die nur so wenige erlangen.

So näherten sie sich wieder der Stadt. Die Sonne war untergegangen, die Ufer dunkelten, und als sie wieder hell wurden, glitzerten rundum die tausend und abertausend Lichter Stockholms. Überall tuteten und rauschten die heimkehrenden Dampfer, die Kais waren schwarz von Menschen, und als sie ans Land stiegen, schlug ihnen der eigentümliche Stadtgeruch entgegen, der ihnen heute noch viel dumpfer und drückender vorkam als sonst.

Stumm gingen sie miteinander die Drottningstraße hinauf zu der großen Eckkaserne, in der sie, umgeben von Fremden, wohnten.

 


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