Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Zweites Kapitel

Im selben Augenblick fühlte der Oberlehrer eine Hand auf seiner Schulter, eine leichte, rasche Berührung. Als er sich umwandte, zuckte er zusammen. Der vor ihm Stehende nickte kurz, fast ohne seine Augen von der Szene vor ihnen abzuwenden.

»Weiß man, warum?« fragte er.

»Nein«, erwiderte Hjälm.

»Komm! Wir wollen gehen.«

Der Sprecher war ein kleiner Mann von nervösem Aussehen, mit einem auffallend großen Gesicht, das keinen Augenblick ruhig war. Ob es die Augen waren oder die große Stirn, der Mund mit seinen tiefen Linien oder der kräftige Schnurrbart über dem runden Kinn, was diesem Gesicht seinen Charakter gab, war schwer zu sagen. Denn der Ausdruck wechselte so rasch und so oft, daß man gar nicht dazu kam, die Einzelheiten der Züge zu beobachten.

Während sie Seite an Seite dahinschritten, betrachtete Hjälm seinen Begleiter. Eine Menge Erinnerungen erwachten in ihm, Erinnerungen aus Jugendtagen, aus der Zeit der Hoffnungen und Versprechungen, der Zeit, in der sein eignes Blut noch höher wallte. Einst hatte er diesen Mann, der jetzt neben ihm ging, bewundert, hatte ihm – so glaubte er wenigstens – nahegestanden. Und gerade jetzt mußte er kommen, tauchte er auf aus dem Menschengewimmel, das in einer Großstadt die Menschen voneinander trennt. »Er sieht furchtbar nervös aus«, dachte der Oberlehrer. Und im Gehen versuchte er nachzurechnen, wie viele Jahre verflossen waren, seit sie sich zuletzt gesehen hatten. Und er fragte sich: »Was ist aus ihm geworden?« So völlig in Unwissenheit war er über das Schicksal des Mannes, der einst sein Freund gewesen war.

Er suchte nach einem Wort, fand aber nichts als die gewöhnliche Bankrotterklärung, die meist das Gespräch zwischen ehemaligen Freunden einleitet:

»Es ist lang her, seit wir uns gesehen haben.«

»Und jetzt treffen wir uns hier! Ja – so geht's manchmal!«

Der andre lächelte still, als beschäftigten ihn ganz andre Gedanken, als die, die er aussprach.

»Stockholm hat sich vergrößert«, fuhr er fort.

»Ja, man sieht sich selten.«

Als halte er es für selbstverständlich, daß sie zusammenbleiben würden, bog der Neuhinzugekommene am Stureplan ab und ging auf das Hotel Anglais zu. Als Hjälm sagte, er müsse noch heim telephonieren, um sein Ausbleiben vom Mittagessen zu erklären, nickte er stumm und verschwand. Als der Oberlehrer gleich nachher den Gesuchten im Speisesaal nicht fand, meldete der dienernde Oberkellner mit einem Flüstern, als habe er eine äußerst vertrauliche Mitteilung zu machen:

»Der Herr Rechtsanwalt sind im Café.«

Eben erschien der Genannte. Als wäre nichts geschehen, ging er durch den Speisesaal und ließ sich an einem freien Tisch am Fenster nieder.

Ake Hjälm saß stumm da und dachte darüber nach, wie schnell auch die stärksten Eindrücke vergehen. Noch vor einer Stunde war er mit einem Gefühl der Stadt zugewandert, als schwanke der Boden unter seinen Füßen und als könne er nie wieder vergessen, daß er und die ganze Welt, der er angehörte, bei jedem Schritt auf einem Vulkan wandelten. Gleich darauf war er Zeuge eines so entsetzlichen Auftritts gewesen, daß er sich für immer in das Herz eines Mannes einprägen mußte, der für seine Mitmenschen fühlt und auch nur eine Ahnung von Gerechtigkeit hat. Und kaum war er wieder in der Umgebung, die er gewöhnt war als die seine zu betrachten, so begann schon der Aufruhr, in dem er sich befunden hatte, zu schwinden. So wenig paßte das, was er erlebt hatte, zu dem wohlgeordneten, heiteren Saal, in dem elegant gekleidete Herren und Damen die Plätze füllten, in dem er selber saß, vor sich einen schimmernd weiß gedeckten Tisch, eine Flasche guten Bordeaux und einen befrackten Kellner, der mit respektvoller Beflissenheit das Diner servierte. So ganz gewöhnt war er an die schroffen Übergänge von den Häßlichkeiten des Lebens zu materiellen und geistigen Genüssen, daß er, wie überhaupt wir alle, diesem Widerspruch im eigenen Leben nichts weiter zu widmen vermochte als eine flüchtige Aufmerksamkeit. »Zum Glück hindert uns unsere eigene Lebensintensität daran, daß wir unter allem so stark leiden«, dachte er. Und als er mit seinem Tischgenossen anstieß, war sein Lächeln wehmütig und mild. Seine Seele war erfüllt von Erinnerungen an die alten Zeiten, in denen sie beide, die das Leben später getrennt hatte, einander noch nahestanden. Und der Oberlehrer war ein freundliebender Mensch; ihm war die Freundschaft die beste Würze des Lebens.

»Und du bist, wie immer, glücklich in deiner Familie?« sagte Oskar Steinert.

Des Oberlehrers Herz ward warm, wie immer, wenn von seiner Familie die Rede war. Die Gedanken, die seine Seele zerrissen hatten, solange sein Innerstes in Aufruhr war, waren verstummt, als der Aufruhr sich nach und nach legte und verging. Sie erschienen ihm so unwürdig jetzt, daß er sie am liebsten ganz vergessen hätte, und das Gefühl, seiner Frau ganz ohne Grund in Gedanken unrecht getan zu haben, erfüllte ihn mit einer Bewegung, als beuge er in einem Heiligtum die Knie.

»Noch schöner hab' ich's als damals, als du mich besuchtest«, lautete seine Antwort.

In den letzten Worten lag etwas wie eine Herausforderung; und wie um diesen Eindruck zu verwischen, fragte der Oberlehrer:

»Und du?«

Steinert lächelte; seine Augen glitten an dem andern vorüber ins Leere.

»Sprich nicht von mir«, sagte er. »Ich bin ausgegangen, um zu vergessen.«

Der Oberlehrer blickte fragend auf.

»Ja«, fuhr der andre fort. »Ist das was so Besonderes? Brauchen wir denn nicht alle Vergessenheit? Merk wohl, ich sage nicht, daß es etwas Unangenehmes sein muß. Man kann auch andre Dinge als unangenehme vergessen müssen. Ich kann mir sehr wohl den Fall denken, daß man in einem solchen Rausch von Glück gelebt hat, daß man auch das vergessen muß. Weißt du, was ich dachte, als wir uns vorhin trafen? Ich dachte: Das war auch einer, der Vergessenheit suchte. Und Gott weiß, ob er sie fand. Das dachte ich. Ich weiß, was du sagen willst. Du besitzest einen geordneten Gedankengang. Du denkst sozusagen systematisch. Fix und klar hast du ein für allemal deine Rechnung mit dir selbst gemacht, und das Resultat ist: was nachkommt, wenn ein Schuß knallt, ein Gift wirkt oder die Natur auf ganz gewöhnliche, gemeine Weise das Ihre getan hat, ist plus minus Null. Ich sah mir den Mann an, der dort lag, und er konnte nicht widersprechen. Aber dann fiel mein Blick auf die Frau, die danebenstand. Ich sah, daß auch du sie beobachtetest. Man konnte ja auch gar nicht anders. Wie ein groteskes Schreckbild stand sie da. Grotesk – denn sie war einfältig – häßlich – ihre ganze Stellung war plump. Und doch mußte man sie ansehen, und man wird sie wohl schwerlich so leicht wieder vergessen. Die dachte auch darüber nach, ob der Tote Vergessenheit gefunden hat oder nicht. Davon bin ich überzeugt.«

Der Oberlehrer lächelte.

»Davon bin ich nicht so überzeugt«, antwortete er. »Vielleicht deshalb, weil ich heute draußen auf dem Exerzierplatz war.«

»Und an den Kundgebungen der Unterdrückten teilgenommen hast? Die ›schwielige Faust‹ gedrückt?«

Ake Hjälm zuckte auf. Ein Ausdruck ehrlicher Empörung, der den andern zu amüsieren schien, kam in sein Gesicht.

»Von an Kundgebungen teilnehmen ist keine Rede«, sagte er ruhig. »Ob ein armer Schulmeister wie ich sich an einer Kundgebung beteiligt oder nicht, das hat wenig genug zu sagen. Sondern ich ging hin, weil ich einen freien Tag hatte und weil etwas mich gegen meinen Willen hinzog. Und ich ging weg mit dem Gefühl, es wäre gut, wenn's noch mehr so machten wie ich. Vielleicht wären wir alle dann einander weniger fremd.«

»Glaubst du?« unterbrach ihn Steinert.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht«, war die Antwort. »Jedenfalls wär es der Mühe wert, den Versuch zu machen. Aber, was ich sagen wollte: unmittelbar, nachdem ich von dort kam, wurde ich Zeuge jenes Auftrittes. Der Eindruck dessen, was ich draußen gehört und empfunden hatte, hielt mich noch gefangen. Und darum habe ich sie mit andern Augen angesehen als du. In dem Ausdruck versteinerten Entsetzens, der über ihrem Gesicht, ihrer ganzen Erscheinung lag, sah ich klar und scharf bloß den einen Gedanken: muß alles, was wir Armen hoffen, so enden? Ist für uns gar keine Hoffnung? Oder vielleicht auch: wie viele müssen noch so enden, ehe unser Tag kommt?«

Oskar Steinert sah vor sich hin. Als er wieder zu sprechen begann, lag ein andrer Klang in seiner Stimme. Seltsam leise und ruhig tönte sie, ganz anders als die, die noch eben so hart und scharf gewesen war.

»Man kann auch so denken«, sagte er.

Als bereue er, nachgegeben, ein Gefühl, das er hatte für sich behalten wollen, preisgegeben zu haben, fragte er wieder scharf:

»Meinst du das, was du da sagst, im Ernst?«

»Zweifelst du daran?« entgegnete der Oberlehrer.

Seine kleinen, tiefliegenden Augen glühten auf hinter der Brille.

»Ja, ja,« sagte der andre, »natürlich meinst du das, was du sagst. Aber was will das heißen? Ich meine auch, was ich sage, wenn man den Sinn des Wortes ein bißchen dehnt. Und doch sitz ich hier und diniere und trinke Bordeaux. Ich nehme vielleicht auch ein Glas Madeira zum Nachtisch, eine Havanna zum Kaffee und ein paar Glas Whisky. Und du ebenfalls. Nichts auf der ganzen Welt kann uns daran hindern. Weder unser Schmerz über all das Unrecht im Leben, noch unser Entsetzen über den Selbstmord. Die Genußsucht beherrscht uns, siehst du. Ob wir nun Dichter oder Denker, Realpolitiker oder Träumer, Pharisäer oder Zöllner sind. Keiner von uns, weder du noch ich, trat vor und bot der Frau den Arm und führte sie fort. Vielleicht war es die Braut, die Frau, die Schwester. Wohl möglich.«

»Das ist schon wahr«, gab der Oberlehrer zurück. »Aber das kommt daher, daß wir uns immer durch Scheu und Unentschlossenheit, vielleicht auch durch Standesvorurteile zurückhalten lassen. Darum kann das, was wir fühlen, doch echt sein und gut.«

»Ja, aber schwach«, sagte Steinert. »Schwach und darum wertlos.«

Der Oberlehrer schwieg eine Weile. Dann sah er auf und sagte, ohne jeden ironischen Beiton, als spreche er etwas ganz Selbstverständliches aus:

»Warum schreibst du nicht?«

Der andre lachte auf; seine weiche Hand glitt langsam über sein Gesicht, als müsse er dort etwas verbergen oder wegwischen.

»Ich kann nicht«, sagte er. »Das weißt du doch. Ich schreibe meine Akten – als Rechtsanwalt.«

Der Oberlehrer fühlte wohl, daß er in diesem Augenblick vielleicht zuviel wagte. Aber ehe er sich Einhalt gebieten konnte, war ihm das »Warum?« schon entschlüpft.

»So hast du mich schon einmal gefragt«, erwiderte Steinert heiser. »Hast du's vergessen?«

Sein Gesicht wurde mit einem Schlage hart, die Augen stachen förmlich. Eine halbvergessene Erinnerung stieg in Ake Hjälm auf, eine Erinnerung an ein Gespräch, das ihm selber gleichgültig und fremd erschienen war, an ein Wort, das er gesprochen hatte, ohne sich etwas dabei zu denken, eine hitzige Szene, die den Worten gefolgt war, und an sein eigenes grenzenloses Erstaunen über die Wirkung, die seine Worte hervorgerufen hatten. Ihm war, als durchlebe er die ganze Szene noch einmal, als sei er plötzlich um Jahre zurückversetzt; er sah sich selber in einer Gesellschaft von Kameraden und hörte dieselbe erzürnte Stimme wie jetzt, sah dieselben stechenden Augen auf sich gerichtet, und dieselbe Bangigkeit wie damals überkam ihn, die Angst, wider Willen einem Menschen weh getan zu haben.

Es hatte überhaupt viele derartige Szenen gegeben zwischen Steinert und Hjälm, Szenen, die keiner von ihnen weiter tragisch nahm, die aber die beiden Männer doch schließlich auseinander brachten, weil sie sich im Grunde stets fremd gewesen, nur durch gemeinsame Freunde zusammengeführt und durch gleichartige Interessen damals zu allerhand ziellosen Jugendgesprächen getrieben worden waren. Hjälm dachte jetzt plötzlich daran, daß auch er sich derartiger Szenen erinnern konnte, wenn er nur erst ans Hervorsuchen ging, und während er daran dachte, kam ein unbestimmtes Gefühl von Groll über ihn, das noch von damals her in ihm lebte, trotzdem ihn so viele Jahre von dem Mann schieden, den er heute ganz zufälligerweise getroffen hatte.

»Ich seh es, daß du dich daran erinnerst«, fuhr Steinert in etwas milderem Tone fort. »Und ich möchte dir nur eins sagen: mir geht die persönliche Freiheit über alles, und zwar in einem Maß, wie du dir's wahrscheinlich gar nicht träumen lässest, daß Menschen sie überhaupt beanspruchen können. Ich will das Recht haben, mit meinem Leben anzufangen, was mir beliebt. Ich will mich selber ruinieren, zugrunde gehen, mich zu Tode quälen, innerlich verbrennen dürfen, ohne daß ein Mensch mich fragt, warum. Ich verlange, daß ich, wenn ich will, mich zu Tode trinken, durch Ausschweifungen und Leichtsinn zugrunde richten darf, ohne daß das irgend jemand was angeht. Verstehst du?«

Ake Hjälm besann sich einen Augenblick, ehe er antwortete. Aber der andere ließ ihm nicht Zeit, zu Worte zu kommen.

»All das ist fort – vergessen –« sagte er in ruhigerem Ton. »Wir können gut darüber reden. Und was dir damals fremd erschien, wird dir jetzt vielleicht weniger unerklärlich vorkommen. In jedes Menschen Leben können ja Ereignisse eintreten, die seine Lebenskraft ein für allemal zu Boden schlagen. Nimm an, etwas Derartiges sei mir geschehen. Was es war, oder ob überhaupt etwas war, das brauch' ich ja nicht näher zu erklären. Du erinnerst dich vielleicht noch an den Kreis, zu dem wir Jungen damals gehörten. Er stand in Berührung mit allem, was in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Literatur damals aufblühte. Ein Hauch der Wiedergeburt, der Neugeburt ging damals übers ganze Land. Wie sagt doch ein alter Streiter des Worts aus vergangener Zeit: »Die Geister sind erwacht. Es ist eine Lust zu leben!« Haben wir nicht etwas Ähnliches erlebt? Fühlten wir nicht rings um uns in der Luft den Gesang der Geister? Schien es uns nicht, als finge um uns und in uns ein neues Leben an? War es nicht eine Lust zu leben? In jener Zeit traf auch ich jene Männer und Frauen. Ich mußte ihnen näher treten, meinte ich – mußte ihnen die Hand drücken, ihre Stimme vernehmen. Mit allen schloß ich Duzbrüderschaft, zum mindesten doch mit allen Männern. Jetzt begegnen wir uns als Fremde. Ich hab' ihnen nichts zu sagen, sie mir nichts. Das Einzelleben hat uns in seiner Gewalt – keiner hört auf das, was der andre sagt.«

Ake Hjälm unterbrach den Sprecher:

»Weißt du das so gewiß, daß keiner hört? Hältst du die Macht des Einzeldaseins wirklich für so fest gegründet?«

Oskar Steinert lachte sein kurzes, verschlossenes Lachen.

»Ich weiß nicht«, antwortete er. »Es kommt mir so vor. Ein besserer Zeichendeuter als andre bin ich ja auch nicht. Aber es kommt mir so vor, als gingen die Menschen wie in einer Art Nebel aneinander vorüber, in dem keiner sicher ist, wem er eigentlich begegnet, bis die zwei, die sich begegnen, schon so weit voneinander sind, daß es sich nicht mehr lohnt, umzukehren. Aber wie gesagt – damals war's anders. Damals war die Luft – ja, wie soll ich gleich sagen – kühl, durchsichtig, ein bißchen rauh manchmal, aber man konnte doch in ihr atmen. Weißt du noch unsere endlosen nächtlichen Gespräche? Ich glaube, damals erlebte ich Dinge, die nie wiederkehren. Das, was man Jugend nennt, und Leben, und Glauben, und so was. Jedes Buch, das erschien, lasen wir, jeden Zeitungsartikel, der Anlaß zu einem neuen Gespräch gab – wir warteten auf neue Bilder und Skulpturen wie auf weltbewegende Ereignisse, wir hörten die Reichstagsdebatten mit an und zitterten vor Eifer um das Ergebnis jeder Wahl. Wir erbebten vor den Geschehnissen der großen Welt, und wenn der Held des einen starb, trauerten wir alle. Weißt du, was das einzige war, das mich damals die ganze Zeit über gestört hat?«

Steinert beugte sich über den Tisch und sah dem Freund in die Augen. Seine eigenen leuchteten; wie Phosphorglanz lag es in ihnen.

»Du kannst es nicht wissen«, fuhr er fort. »Es ist auch zu verdreht. Es störte mich, daß du und ihr alle – die Kameraden, mein' ich – in diesem Kreis zu mir aufsaht wie zu einem ganz besonderen Licht. Ich hatte das Gefühl, ihr alle fordertet etwas von mir, erwartetet, daß ich irgend etwas schreiben, etwas tun, auf irgendeine Weise mich betätigen sollte.«

»Das taten wir auch«, sagte Hjälm plötzlich mit ganz ungewohnter Energie. »War dir das wirklich so unangenehm?«

»Es klingt sonderbar«, entgegnete der andre. »Und doch war es so. Ich wurde dann Rechtsanwalt. Verwertete mein Examen, wie es hieß. Da war's, als hätt' ich ein Verbrechen begangen. Ganz stumm wurde es auf einmal um mich. Vielleicht könnte ich die Ursache erklären. Aber all das ist so alt jetzt, daß man es am besten ruhen läßt. Sag mir nur eins: was hattet ihr, du, die Kameraden, andere Menschen überhaupt für ein Recht, mir Verantwortungen und Aufgaben aufzuerlegen, die ich mir selber nicht auferlegte? Ein Individuum ist ein Individuum. Wer hat das Recht oder die Möglichkeit, sich in einen andern einzudrängen und ihm vorzuschreiben, was er tun soll?«

Der Oberlehrer wurde warm.

»Niemand hat das Recht, seine Gaben zu verschleudern,« sagte er, »sein Pfund zu vergraben. Gaben, die man hat, verpflichten. Und die Ansichten, die wir über die Dinge haben, noch mehr.«

»Muß das nicht jeder mit sich selber abmachen, wozu er verpflichtet ist oder nicht?«

»Doch«, erwiderte der Oberlehrer. »Aber dafür haben andere auch das Recht, ihn zu richten.«

Steinert lächelte fein. Wenn die Worte ihn verletzten, so ließ er sich's jedenfalls nicht anmerken. Er antwortete:

»Es steht geschrieben: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet.«

Und da der andre nichts erwiderte, fuhr er fort:

»Ich will dir etwas sagen. Nicht zuwenig wird geschrieben in unserer Zeit, sondern zuviel. Jeder einzelne will reden. Keiner will zuhören. Beobachte einmal eine Gesellschaft – du wirst sehen, ich hab' recht. Jeder sitzt aus lauter Höflichkeit nur da und wartet auf eine Pause, daß er endlich selber mit dem kommen kann, was er zu sagen hat. Seine eigene Stimme will er hören, sich eine Weile einbilden können, daß die andern auf ihn hören, besser als er auf sie gehört hat. Kann man sich überhaupt vorstellen, daß ein Mensch sich einer solchen Illusion hingibt? Na – der Alkohol tut ja das Seine dazu. Ohne Alkohol reden wir ja nicht. Ohne Alkohol sind wir muckstill. Sieh mich an! Das ist mein zweiter Whisky. Ich bin fast beredt jetzt. Und ich bleib' dabei: es wird zuviel geschrieben bei uns. Wenn hier bei uns einmal etwas geschehen sollte, das Sammlung und nationale Erhebung, das heißt ganz einfach Handeln erforderte, da würden wir schon sehen! Einem nach dem andern würde die Nation Feuer unters Dach setzen – und dann schreien, daß wir nicht einen Mann haben, der uns führen kann. Aber wenn wir auch einen hätten – was würd's nützen? Ach nein – wir hätten ihn ja längst kaput kritisiert, ehe er noch überhaupt zu Wort kommen könnte! Jeder einzelne hat seine eigene Privatidee, wie alle Fragen gelöst werden müßten! Wir sind schlapp geworden, ohnmächtig. Der Ausdruck: ›die dummen Schweden‹ ist viel zutreffender, als die Leute glauben. Es schüttelt mich ordentlich, wenn ich höre, wie Schweden ihn zitieren und noch obendrein über sich selber lachen. Das ist eine furchtbare Selbstkritik. Denk doch einmal, wie's um uns steht. Wir werden von einem Reichstag regiert, der, dank seiner merkwürdigen Zusammensetzung überhaupt nichts ausrichten kann. Das Ganze ist eine Sache, die in allen Fugen kracht und jeden Augenblick auseinandergehen kann. Die Kammern sind dazu da, daß sie einander entgegenarbeiten, was sie auch nach Möglichkeit tun. Wir haben eine obere Klasse, die so übersatt ist, daß sie ihr Essen kaum verdauen und überhaupt nicht mehr denken kann ohne Sprit. Wir haben eine Zweite Kammer, in der keiner Herr sein kann und niemand Knecht sein will. Eine Erste Kammer, die eine Parodie dessen ist, was sie einst war, und die an Unkultiviertheit wetteifert mit unserer Volksleitung, deren Horizont nicht weiterreicht als bis zum Bauch. Weißt du, was unserer Ersten Kammer fehlt und womit wir vor der Linken nur nicht recht herauswollen, weil es gegen unsere Vorurteile stößt? Die Aristokratie fehlt ihr. Hast du die Reichstagsberichte aus den siebziger Jahren oder Anfang der achtziger gelesen?«

»Nein.«

»Lies sie, so wirst du schon sehen, was ich meine. Welch ein ehrenwerter, welch ein prächtiger Konservatismus! Altmodisch, beschränkt, unzeitgemäß, meinetwegen. Aber grundehrlich und sachkundig. Diese Hüttenbesitzer und Beamte, Bischöfe, Gutsherren und Militärs waren ganz anders gebildet als unsere! Die Bildung saß ihnen im Blut. Ein Hauch vom Geist der alten Geschichte steckte in ihnen; darum konnten sie auch davon reden, ohne daß ihr Pathos falsch klang und ihre Phrasen hohl. Es waren echte Schweden, was für Fehler sie auch haben mochten, und Aristokraten waren sie! Das heißt, sie waren Feinde alles Packs. Damit meinte man aber nicht das Volk. Und was haben wir jetzt?«

Ake Hjälm ward eifrig; in starken Worten redete er zur Verteidigung der Neuzeit, und redete lange.

»Unsere Zeit hat eine Aristokratie gefunden«, schloß er. »Die Aristokratie der Bildung.«

»Unsere Zeit hat eine neue Aristokratie gefunden«, antwortete Steinert kalt, »und sie heißt die Aristokratie des Geldes, was eine contradictio in adjecto ist. Wo ist die andere? Ein kleiner Kreis von wahrhaft Aufgeklärten und Gebildeten, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, sich gegenseitig zu beargwöhnen und zu verkleinern. Hast du je einen Schriftsteller über die Bücher eines andern oder einen Maler über die Bilder eines andern reden hören? Ich sag' dir, ich hab's gehört, und die Erfahrung hat mich erschreckt bis aufs Blut. Und weißt du, was das ist? Das ist der Schreck, der macht, daß der Lotse im letzten Augenblick versagt und sich nicht auf die wilden Wogen wagt, wenn das Notsignal ertönt!«

Steinert verstummte plötzlich, sah den andern einen Augenblick an, und ein humoristisches Lächeln erhellte sein Gesicht.

»Du findest, ich übertreibe«, fuhr er fort. »Und doch hab' ich noch gar nicht alles gesagt. Wie ich jetzt bin, rede ich nicht oft so, wie ich's eben getan habe. Darum kommt jetzt alles auf einmal, und wenn es keinem andern nützt, so nützt es doch mir selber. Wo war ich doch gleich? Ja, – was haben wir jetzt? Wir haben eine Hauptstadt, die ein geistiges Zentrum sein will, aber nicht kann, überhaupt – Wollen und Können! Das ist ein Kapitel für sich in diesem Land! Die Hauptstadt wird mit Mißtrauen angesehen von den Provinzen, das heißt, vom ganzen Land, das keinen Zusammenhang mit ihr hat; weder mit ihr noch untereinander fühlen sie sich zusammengehörig. Es ist weit von Skane nach Västerbotten, glaub mir, und nicht bloß auf der Karte! Das wissen wir ja alle; und wenn es sich um eine wichtige Sache handelt – was geschieht? Da kommen die Quacksalber mit ihren Broschüren und Zeitungen. Lies einmal die Spalten für »Mitteilungen aus dem Publikum« und sieh, was da steht. Nichts als die häßlichste Zusammenhangslosigkeit. Verrückte Ideechen, ausgebrütet von Gehirnen, die zu lauter Einzelteilchen verknöchert sind, unwürdig überhaupt jeder Diskussion. Jeder einzelne hat ein ganz eigenes Rezept und ist ganz überzeugt, wenn man es befolgte, wäre Schweden und die ganze Welt gerettet. Nirgends gedeihen die Quacksalber so wie hier. Quacksalber in der Frauenfrage, in der Friedensfrage, in der Arbeiterfrage, in der Nüchternheitsfrage. Nein – das ist wahr. Damit ist's besser. Die Leute trinken tatsächlich weniger als früher. Aber weißt du das Ärgste bei all dieser losgelassenen Verbesserungswut – weißt du, was das ist? Das ist, daß man nicht einmal darüber lachen darf! Tut man's, so kriegt man einen sehr verwunderten Blick – ich meine jetzt von unsern Freisinnigen; die andern, die lachen freilich, und ich wundere mich gar nicht drüber! – und man merkt gleich, man ist verurteilt. ›Aha! Jetzt bin ich abgetan! Er glaubt, mir fehlt der Ernst. Ich bin ein Komödiant. Ich habe keinen Respekt!‹ Es mutet einen ganz merkwürdig an, zu wissen, daß man der Nation Bellmans angehört, und dabei zu fühlen, wie der Sinn für Humor immer mehr schwindet.«

Der Oberlehrer hörte dem Sprechenden zu und wunderte sich immer mehr über das, was er hörte und sah. Mit dem Mann war eine Veränderung vorgegangen – eine Veränderung, zu der ihm ganz und gar der Schlüssel fehlte.

Die beiden Männer verließen das Café. Blaß hoben sich vom lichten Maihimmel die elektrischen Lichter ab, die Straßen waren voll von Menschen, die die neue Frühlingsluft genossen. Die beiden alten Kameraden, die sich so lange nicht gesehen hatten, blieben zusammen. Ake Hjälm fiel plötzlich die Gesellschaft ein, in der er erwartet wurde; er schickte eine telephonische Absage. Er und Steinert waren jetzt auf dem Punkt des Zusammenseins angelangt, wo keiner mehr ans Auseinandergehen denkt, wo die Gedanken, die im Einerlei des Alltags schliefen, erwacht sind, wo keiner mehr weiß, ob ihm eigentlich in der Gesellschaft des andern wohl ist, sondern jeder nur eben bleibt, weil die Macht der Trägheit beide hindert, auseinanderzugehen. Darum fuhren sie fort zu reden, zu trinken, Gedanken auszutauschen, als fürchteten sie sich beide vor der Einsamkeit oder erwarteten, daß aus all den Worten, die geredet wurden, schließlich doch ein Sinn kommen müßte. Sie waren jetzt im Königsgarten; durch das Laub schimmerte, durchzittert von Lichtstrahlen, das dunkelfarbige Wasser mit seinen tiefvioletten Frühlingswogen, auf denen der Schein der Laternen auf und ab schaukelte. Dunkel, schwer, ernst lag über dem Ganzen die Fassade des Schlosses, stumm und verschlossen, als spräche sie allein, abgeschieden vom Alltag, die Sprache vergangener Zeiten.

Und immerfort redete Oskar Steinert. Wie ein unaufhaltsamer, nie versiegender Strom flossen die Worte von seinen Lippen. Sein Gesicht drückte eine ganz unnatürliche Spannung aus – sein Mund öffnete und schloß sich krampfhaft und forciert, während die Augen immer leerer und schwermütiger wurden. Schließlich fanden sich die beiden in einer Ecke des großen Operncafés. Die Atmosphäre war drückend, der Lärm geradezu höllisch. Das ganze Café war voll von bekannten Gesichtern, Männern aus der Welt der Finanz, der Politik und der Presse. Es klang, als strengten sich Tausende von Menschen gleichzeitig an, einander zu übertäuben. Kellner drängten sich, riesige Tabletts voll Flaschen und Gläsern auf ausgestreckten Armen hoch emporhebend, zwischen den Tischen durch. Neuangekommene klopften auf den Tisch, um sich Gehör zu verschaffen und noch vor Mitternacht bedient zu werden. An einem Tisch mitten im Saal unter der Bronzenymphe redete ganz allein ein Mann. Die Worte verstand man nicht, man hörte nur, daß er etwas erzählte. Denn so oft er eine Pause machte, erschollen Lachsalven von der Gesellschaft, zu der er sprach. Die Gesichter waren rot und erhitzt. Da und dort glänzten ein paar ruhige, schwermütige Augen, die sich das seltsame Bild zu betrachten und darüber nachzudenken schienen. Sie wirkten wie eine wohlbekannte, ferne Musik, die im Menschengetümmel ertrinkt.

»Denke nur,« sagte Steinert – »und daran hat man auch einmal ganz ernsthaft teilgenommen! Du, ich, wir alle. Und just zu einer Zeit, als wir noch das Allerhöchste wollten – eigentlich gerade da.«

»Ja«, erwiderte Hjälm. »Vielleicht haben wir gerade dadurch den Willen verloren. Und den Glauben . . .«

Oskar Steinerts Blicke begannen zu funkeln; die Lippen unter dem Schnurrbart kräuselten sich. Es schien, als bereite ihm das Schauspiel, das er hier betrachtete, einen ganz besonderen Genuß.

»Ich bin immer ein schlechter Moralist gewesen«, sagte er. »Das hier ist alles einfach Betäubung. Ganz gewiß eine recht grobe Art von Betäubung. Dafür aber eine um so zuverlässigere. Da hilft keine Nüchternheitspredigt, solange noch dies tiefe Lebensbedürfnis vorhanden ist!«

Kaum hatte Steinert diese Worte gesagt, als ein fürchterliches Krachen durch den Lärm scholl. Ein grauhaariger, breitschultriger Herr war – durch einen Schritt rückwärts – gegen einen Kellner gestoßen, der ein volles Tablett trug; die Folge war ein Haufen zerschmettertes Glas, eine Unruhe an den Tischen, auf die die Splitter fielen, und heftiges Schreien und Schelten, das sich gegen den unschuldigen Kellner richtete. Wie ein aus seiner Bahn geschleuderter Komet irrte der Grauhaarige umher und befand sich plötzlich Auge in Auge mit Steinert, den er zu kennen schien. Denn kaum hatte er ihn erblickt, so schüttelte er ihm auch schon die Hand, eine nicht ganz saubere Hemdenbrust und eine Reihe unregelmäßiger, gelber Zähne zeigend. Darauf ließ er sich auf einen freien Stuhl sinken, stemmte die Ellbogen auf den Tisch, betrachtete die beiden Herren mit verschleierten, glasigen Augen und sagte mit einem geräuschvollen Lachen, das zwanglos klingen sollte, aber eher wie Kriecherei klang:

»Aha – Whisky!«

Steinert warf seinem Gefährten einen Blick zu, der gleichsam um Nachsicht für des andern Gegenwart bat, und sagte kurz:

»Der Platz ist nicht mehr frei.«

»Ich auch nicht« – antwortete der Angeredete schlagfertig.

Er sah sich um, als suche er jemand.

»Ich suche meine Gesellschaft«, erklärte er.

Steinert sah amüsiert aus.

»Darf man wissen, wer es ist? Vielleicht haben wir sie gesehen.«

Der Grauhaarige machte einen gewaltsamen Versuch, den Nacken steif zu halten, und schielte mit einem mißtrauischen, bösen Ausdruck nach dem Sprecher hin.

»Meine politischen Freunde«, sagte er mit selbstzufriedenem Lächeln. »Ich danke dir, daß du mich daran erinnerst!«

Er ergriff Steinerts widerstrebende Hand und hielt sie fest, während er fortfuhr:

»Ich werd' dir was sagen. Du bist immer nett zu mir gewesen. Nein, widersprich mir nicht. Du bist nett zu mir gewesen. Darum will ich auch ehrlich gegen dich sein und dir die Wahrheit sagen. Die schwedische Politik ist des Teufels. Warum? Darum, weil noch immer der rechte Mann nicht gefunden ist. Boström taugt nicht mehr. Um das übrige Ministerkonsilium geb ich keinen roten Heller. Es gibt überhaupt in Europa bloß drei Persönlichkeiten – oder vielmehr es gab drei – die sich in unserer Zeit auf Politik verstanden. Der eine von ihnen ist tot.«

Damit legte er seine freie Linke an den Mund, stemmte die Rechte, mit der er fortwährend Steinerts Hand krampfhaft festhielt, auf den Tisch und brüllte dem Rechtsanwalt, um sich in dem Lärm verständlich zu machen, ins Ohr:

»Bismarck, König Oskar und ich. Oder vielmehr – Bismarck war einer davon. Jetzt sind es bloß noch König Oskar und ich.«

Nachdem er das gesagt hatte, ließ er Steinerts Hand los und erhob sich schwankend. Listig blinzelnd fügte er hinzu:

»Aber das darf Er nicht wissen!«

Wer dieser Er war, erklärte er nicht. Sich von Tisch zu Tisch durchlotsend, verschwand er im Gewimmel.

»Hast du gesehen,« sagte Steinert, »wie glückselig er aussah, als er sein großes Geheimnis auskramte? Ich hab's ja schon öfter gehört – und viele haben's schon gehört. Glaub mir, von dem Gedanken lebt er. Ohne ihn könnt' er gar nicht existieren.«

»Wer ist er denn?« fragte Hjälm.

»Ein Schwede«, erwiderte Steinert trocken. »Oder, wenn ich deutlicher sein soll: einer, der sich gern so nennt.«

Er tat stillschweigend einen Zug und fuhr dann, zum andern gewandt, fort:

»Ja, du lachst. Ich lach auch. Aber anders als du. Der Mann, der von uns ging, ist einzig in seiner Größe. Er ist so groß, daß er nie etwas ausgerichtet hat. Und da die Menschen ihn nicht verstehen, verbirgt er seine Gedanken, bis er betrunken ist. Wenn er das nicht täte, hätte man ihn schon längst eingesperrt.«

»Du meinst, es gehöre zur Charakteristik des Schweden, daß er immer die eine oder andere fixe Idee hat, die ihn völlig beherrscht? Für gewöhnlich verschweigt er sie. Wenn ihm aber die Zunge gelöst ist, kommt der Wahnsinn zutage?«

Steinert starrte den Tabakswolken nach, als sähe er etwas ganz Besonderes in dem phantastischen Rauch, der im Luftzug stieg und sank. Es war schwer zu sagen, ob er die Worte des andern überhaupt hörte oder nicht. Seine Miene war plötzlich so zerstreut, als habe sein Denkvermögen aufgehört zu funktionieren. Dann sagte er in müdem Ton, der ganz anders klang als sein vorheriger, von Eifer und Kampflust gefärbter: »Weißt du, wie die eine Klasse von Mitbürgern heißt, in der die Individuen, so wie das Schweden von heute sich entwickelt hat, sich nicht isoliert fühlen?«

Der Oberlehrer wurde aufmerksam. Der Ton des Redenden war plötzlich ganz frei von der Possenreißerei, die den ganzen Nachmittag so aufreizend auf ihn gewirkt hatte.

»Nein«, sagte er.

»Der Arbeiter«, war die Antwort. »Ich könnte den Gedanken noch weiter ausführen. Aber jetzt gerade ist es mir unmöglich.«

Der Oberlehrer sah schweigend und nachdenklich auf seine Zigarre. Der andere, der nicht rauchte, ließ gedankenlos die Finger an seinen Westenknöpfen auf und ab gleiten, als müsse er sie wieder und wieder zählen, um sich ihrer Anzahl zu versichern. Plötzlich erhellte ein vieldeutiges Lächeln seine Züge, so daß sein zuvor fast düsteres Antlitz mit einem Male ein ganz gutmütiges Aussehen erhielt.

»Ich bin ja so ziemlich in der ganzen Welt herumgekommen«, sagte er. »Habe Reisen gemacht, geträumt, gearbeitet, gefaulenzt, wie's gerade kam. Jetzt habe ich mich in meinen Winkel verkrochen. Und da hocke ich in meiner wohlverschlossenen Stube. Allerhand Leute kommen und gehen. Und ich helfe ihnen, so gut ich kann. Ich habe die Befriedigung, mich als Radikaler zu fühlen, ohne daß es mich was kostet, und jede Sitzung im Rathaus macht mir ein ganz unbeschreibliches Vergnügen. Leider ist dies Vergnügen ein ziemlich einsames, woraus du ersehen kannst, daß ich eben aus Erfahrung sprach. Trotzdem gebe ich mich der Illusion hin, ab und zu ein bißchen nützlich zu sein. Und das ist doch immerhin was.«

Diese letzte Mitteilung berührte den Oberlehrer unangenehm. Positiv veranlagt, wie er war, weckte diese lächelnde Bankrotterklärung sein Mißfallen, und da er selber viel zu sehr gewöhnt war, geradlinig und direkt zu denken, kam es ihm gar nicht in den Sinn, daß diese Worte vielleicht eine Nebenbedeutung enthalten könnten, die dem Sprecher wichtiger war als die Worte selbst. Hätte der Oberlehrer diese Worte in einem Buche gelesen, gut unterstrichen und in der richtigen Beleuchtung, so wäre ihm ihr Sinn natürlich nicht entgangen. Nun er sie in Wirklichkeit hörte, erschienen sie ihm brutal und abstoßend und erkälteten ihn plötzlich gegen den Mann, der sie ausgesprochen hatte. Darum antwortete er gar nicht darauf, sondern fuhr, in das frühere Geleise des Gespräches zurückkehrend, in seinem eigenen Gedankengang an der Stelle, wo er kurz zuvor unterbrochen worden war, fort:

»Vielleicht hast du recht mit dem, was du von der Zusammenhangslosigkeit sagst. Vielleicht leiden wir hauptsächlich unter der Abgesondertheit aller von allen. Vielleicht ist das unser Unglück. Daß der Arbeiter darin nicht so fühlt, davon habe ich heute einen Eindruck empfangen, den ich so leicht nicht wieder vergessen werde.«

»Meinst du damit die Erinnerung an die Bank im Humlegarten?«

Steinerts Augen funkelten, um seine Lippen spielte wieder das eigentümliche höhnische Lächeln.

»Du weißt recht gut, was ich meine«, erwiderte Hjälm gereizt.

Steinert trank seinen Grog aus und sah nach der Uhr.

»Natürlich«, sagte er. »Ich wollte nur noch das eine sagen: wenn unser klassenbewußter Arbeiter wüßte, welch ein Glück darin liegt, sich nicht isoliert zu fühlen, so würde er sich weniger beklagen.«

»Sei überzeugt, daß er dies Glück zu schätzen weiß«, sagte Hjälm scharf.

»Um so besser.«

Der Lärm hatte jetzt eine Höhe erreicht, daß man nur noch ein einziges Getöse hörte, das abwechslungsweise anschwoll und wieder sank. Die Hälfte der elektrischen Lampen war schon ausgelöscht; aber die Menschen saßen noch fest auf ihren Plätzen. Aus der Dunkelheit schimmerten Gesichter und Augen halb unkenntlich nach den reichlichen Libationen des Tages. An dem Türpfosten, den die beiden Herren auf ihrem Weg nach dem Vorsaal passierten, stand ein Kellner, müde, halb schlafend, ungestört von dem Lärm, der um ihn her tobte. Die kühle Nachtluft draußen war eine wahre Wohltat.

»Gehst du nach Hause?« fragte der Oberlehrer.

Und wie um eine Versäumnis nachzuholen, die er sich selber zum Vorwurf machte, fügte er freundlich hinzu:

»Wie steht's denn daheim bei dir?«

Steinert sah ihm in die Augen und antwortete ruhig:

»Schlecht. Es ist nichts zu machen!«

Damit sagte er hastig, als fürchte er weitere Fragen, Gutenacht. Der Oberlehrer sah ihn mit raschen Schritten davongehen. Ohne sich umzusehen, rief er bei der Jakobskirche eine Droschke an, stieg ein und verschwand. Langsam schlug der Oberlehrer den Weg nach der Drottningstraße ein.

 


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