Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Siebzehntes Kapitel

Ein paar Tage nach Tora Ljungs Abreise saß Oskar Steinert mittags auf seinem Bureau. Es war ungefähr drei Uhr, die Arbeit, die für heute noch vor ihm lag, war beinahe erledigt. Zufälligerweise hatte sich im Laufe des Vormittags keine Gelegenheit ergeben, Gesellschaft zum Mittagessen zu finden, und mit der Unfähigkeit des Melancholikers, einen Entschluß zu fassen, fürchtete sich Steinert ebenso sehr vor der Aussicht, allein im Restaurant essen, als daheim am Mittagstisch sitzen zu müssen.

Da klingelte plötzlich das Telephon. Der Anrufende mußte Steinert etwas Angenehmes mitzuteilen haben; denn des Rechtsanwalts Gesicht hellte sich auf und er antwortete mit seiner liebenswürdigsten Stimme: »Sehr willkommen!«

Und nach ein paar Minuten des Lauschens: »Je eher, desto lieber. Ich bin allein und erwarte auch niemand mehr.«

Darauf setzte er sich wieder und schrieb eifrig weiter. Ein beruhigter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Brief um Brief ward beendet; er legte alle offen vor sich hin, die Umschläge daneben. Als er fertig war, klingelte er nach dem Laufjungen.

»Die Briefe hier müssen kopiert werden. Sieh zu, daß sie mit der Abendpost fort kommen.«

»Herr Oberlehrer Hjälm ist draußen«, meldete der Bursche.

»Laß ihn eintreten.«

In den letzten Jahren hatten die beiden Freunde sich nie mehr getroffen. Auf der Straße waren sie mit einem kühlen Gruß aneinander vorbei gegangen, und obgleich er den Grund nicht begriff, hatte der Rechtsanwalt doch zu bemerken geglaubt, daß der andere wünschte, eine Art Abstand zwischen ihnen beiden einzuhalten. Mitten in all seinen inneren Erlebnissen hatte das Steinert mehr als einmal gequält, und er nahm darum die Anmeldung dieses Besuchs mit Befriedigung entgegen, obschon es sich dabei nur um eine ganz gewöhnliche geschäftliche Frage handelte.

Oberlehrer Hjälm seinerseits hatte keineswegs seine veränderte Stellung zu Steinert vergessen, der er einmal so stark Ausdruck gegeben hatte. Die Abneigung, die er in den letzten Jahren gegen die Persönlichkeit des Rechtsanwalts hegte, hatte sich nicht abgeschwächt durch die Tatsache, daß der Kreis, zu dem er gehörte, Oskar Steinert auch fernerhin und immer entschiedener als einen geistig Verunglückten betrachtete, der seiner Vergangenheit untreu geworden war. Mehr als einmal war der Name des Rechtsanwalts in jenem Kreis, in dem er damals abgeurteilt worden war, gefallen, und das Sündenregister, von dem er selber nichts wußte und das dafür andere um so mehr interessierte, hatte sich im Laufe der Jahre nicht verringert.

Daß der Oberlehrer Steinert jetzt aufsuchte, beruhte auf einer Eigenschaft des Rechtsanwalts, die ihm nicht einmal seine Feinde abstreiten konnten. Das war seine Verschwiegenheit. Der Fall, der den Oberlehrer beschäftigte, forderte Verschwiegenheit vor allen Dingen. Außerdem besaß Steinert für ihn – als Rechtsanwalt – eine Eigenschaft, die in diesem Augenblick alles ausglich: sie kannten einander. Sogar Professor Grape, dem Hjälm sich anvertraut hatte, hatte seinen Entschluß, sich in dieser Sache vertrauensvoll an Rechtsanwalt Steinert zu wenden, gebilligt. Und wie die Dinge lagen, war das für Hjälm eine große Erleichterung gewesen.

Immerhin trug er eine gewisse steife Kälte zur Schau, während er Platz nahm und die Unterredung, auf die er sich lange und sorgfältig vorbereitet hatte, eröffnete. Oskar Steinert aber sah nur den vergrämten Ausdruck, der ihm neu war, im Gesicht des anderen, und das an den Schläfen ergraute Haar.

»Wir haben uns wieder lange nicht gesehen«, begann der Oberlehrer. »Und als wir damals zusammen waren, dachte ich nicht, daß ich dich einmal in einer solchen Angelegenheit aufsuchen würde.«

Es lag etwas Gequältes in seinem Ton, das den Rechtsanwalt aufmerksam machte. Der Mann sah ja fast aus, als schäme er sich dessen, was er zu sagen hatte. Da Steinert jedoch nicht ahnte, wo der andere hinaus wollte, wußte er auch nichts zu erwidern. Um die Pause, die entstand, auszufüllen, sagte er: »Das war ein eigentümlicher Abend damals. Er ist mir noch gut in der Erinnerung.«

Der Oberlehrer nickte zerstreut. Er war völlig von seinen eigenen Gedanken in Anspruch genommen, für die er eine möglichst gleichgültige, weltmännische Form zu finden strebte.

»Wir trafen uns damals vor einem Toten, einem Selbstmörder«, fuhr Steinert fort. »Erinnerst du dich?«

»Ja, gewiß«, erwiderte Hjälm, im stillen verwundert, daß Steinert von etwas redete, was so gar nicht zur Sache gehörte.

»Und nachher aßen wir zusammen«, fuhr der Rechtsanwalt fort, »und verbrachten den Abend miteinander. Ganz wie früher, in unserer Jugend.«

»Ja!« war des Oberlehrers Antwort. »Die schöne Jugend, die so lang schon dahin ist! Auch ich entsinne mich gut an den Abend, wenn auch anders als du. Die Erinnerung daran hängt auf ganz seltsame Weise zusammen mit dem, was ich dir heute zu sagen habe. Warum hast du mich übrigens gerade daran erinnert?«

Ein Zug des Unwillens trat in sein Gesicht, das sich verfinsterte; er sah müde aus.

»Verzeih'«, entgegnete Steinert. »Ich wollte dir nicht weh tun.«

»Gerade in jener Nacht«, fuhr Hjälm fort, »ereignete sich etwas. Es war nicht das erste Mal. Es hatte sich schon oft wiederholt.«

Er verstummte plötzlich. Dies war nicht der Ton, den er hatte anschlagen wollen. Der Mann, an den er sich wandte, war ihm ja doch ein Fremder. Jahre des Mißverstehens und Schweigens lagen zwischen ihnen. Und jetzt saß er da und redete Worte, die er gar nicht reden wollte, und äußerte Dinge, die ihm ganz wider Willen entschlüpften. Und das Merkwürdige war, daß dieser Mann, den er seit Jahren innerlich vor sich selber heruntergerissen, den er mit einer ganzen Atmosphäre von herabsetzender Kritik umgeben hatte, ihm gerade jetzt so freundlich und verständnisvoll in die Augen blickte und in nicht mißzuverstehendem Ton sagte: »Du bist erregt. Was willst du damit sagen? Was hat sich schon öfter wiederholt?«

Der Oberlehrer hatte sich ausgedacht, er würde die ganze Sache völlig geschäftsmäßig nehmen, nur über Formalitäten und Banalitäten sprechen und ganz ruhig und kalt sagen: »Jedes Ding hat seine geschäftliche Seite. Halten wir uns einzig an diese.« Und während er da saß, vergaß er alles, was er hatte sagen wollen. Es war, als wäre das Mißtrauen, das Schweigen all der langen Jahre wie weggewischt. Ganz natürlich verschmolz das neue Ich, das die Jahre in ihm geformt hatten, mit dem alten; er sah sich Auge in Auge einem Mann gegenüber, der ihm fremd geworden war und es gar nicht zu ahnen schien. Klar und ruhig begegneten die scharfen Augen unter den graugesprenkelten Brauen den seinen.

»Was sich schon öfter wiederholt hat, und was mich an jenen Abend erinnert und noch viel weiter zurück liegt,« fuhr Hjälm fort, »ist etwas zwischen meiner Frau und mir. Und ich bin gekommen, um dich zu bitten, du mögest uns dazu verhelfen, daß wir so bald wie möglich geschieden werden. Das war's, was ich dir sagen wollte. Ich habe mich an dich gewandt, weil wir einander kennen und weil es mir – trotz allem – leichter wird, mit dir zu sprechen, als mit einem Fremden.«

Die Augen des Rechtsanwalts glitten an denen des anderen vorbei ins Leere. Das Wort »trotz allem« hatte ihn getroffen. Aber er wollte es nicht gehört haben, wollte nicht die Meinung dieses Ausdrucks wissen, der dem Freund entschlüpft war.

»Die Ursache?« fragte er kurz und geschäftsmäßig.

»Ist es nötig, daß ich sie nenne?« war die Antwort.

»Etwas muß ich ja doch wissen.«

»Natürlich, ja.«

Der Oberlehrer stand auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Wider Willen fühlte er sich bei Oskar Steinert heimisch, wie schon so oft früher. Es war, als hätte das bloße Zusammentreffen allerlei ausgeglichen.

»Du brauchst nicht mehr zu sagen, als du willst«, bemerkte der Rechtsanwalt. »Ich muß nur irgendeinen Ausgangspunkt haben, etwas, woran ich mich halten kann.«

Der Ton, in dem Steinert dies sagte, war freundlich, und sein Gesicht drückte so viel Sympathie aus, daß dem Oberlehrer unwillkürlich warm ums Herz ward. Er fuhr fort, im Zimmer auf und ab zu gehen, und nach und nach begann er, sich in der Situation zurecht zu finden.

»Es lag vielleicht von Anfang an ein Keim zu Mißhelligkeiten in unserer Ehe«, sagte er endlich. »Weißt du noch, wie wir, du und ich, einmal darüber sprachen, eh' ich mich verheiratete?«

Oskar Steinert nickte.

»Ich weiß noch gut«, sagte er.

»Na, schön! Du sagtest mir schon damals, du wärst mit meiner Ehe nicht einverstanden«, sagte Hjälm plötzlich.

Oskar Steinert stutzte. Die Worte des anderen hatten einen bitteren, scharfen Klang wie von altem, tiefgewurzeltem Groll.

»Ich wüßte nicht, daß ich das je gesagt hätte«, erwiderte er.

»Du hast vermutlich schon viel gesagt, was du vergessen hast«, gab der Oberlehrer zurück. Seine Stimme klang noch immer scharf, seine Augen funkelten.

»Ich weiß es jedenfalls noch«, fuhr er ruhiger fort. »Denn was du damals sagtest, traf mich bis ins Innerste. Du kennst meinen Jungen, Folke, und alles, was mit ihm verknüpft ist. Du kanntest auch seine Mutter. Du hast sie einmal bei mir gesehen. Du weißt auch, wie wir, sie und ich, auseinanderkamen, und daß ich ihr Kind behielt. Folke war für mich, was wohl selten ein Kind für seinen Vater ist. Er war es, der mich früh im Leben ernst machte. So jung ich war, so war ich doch damals schon bereit, für meinen Sohn und nur für ihn zu leben. Dann kam Liese in mein Leben. Und du weißt – ich hab' es dir erzählt – daß keinerlei Kampf zwischen uns war wegen des Kindes. Sie sah unsere Zukunft ganz so wie ich. Sie verstand vollkommen, daß ich um meines eigenen Glückes willen nicht mein Kind opfern, meinen Sohn fort, zu Fremden, geben konnte. Ob er die Frucht einer früheren Ehe oder einer zufälligen Verbindung war, das war für sie wie für mich ganz einerlei. Sie gelobte, ihm eine Mutter zu sein. Glücklicher, als ich's unter irgendwelchen andern Verhältnissen je hätte sein können, heiratete ich. Fast zuviel hatte das Leben mir gegeben, meinte ich, und ich liebte meine Frau doppelt, weil sie mir neben meinem Glück noch erlaubte, ihr dafür dankbar zu sein, daß sie sich meines Kindes annahm.«

Hjälm holte tief Atem und fuhr dann fort: »Erinnerst du dich, daß ich dir das alles einmal erzählte?«

»Ja«, antwortete Steinert. »Du fragtest mich um Rat.«

»Jawohl«, gab Hjälm zurück. »So war's. Und du antwortetest mir mit Hohn. Du verspottetest mich, daß ich so etwas von einer Frau verlangen könnte!«

»Und das glaubtest du?« unterbrach ihn Steinert.

Sein Ton hatte etwas so unsäglich Schmerzliches, Bitteres, daß Hjälm ganz unwillkürlich aus seinem eigenen Gedankengang gerissen und gezwungen ward, zuzuhören.

»Was willst du damit sagen?« sagte er kurz und zweifelnd.

»Das will ich sagen, daß du dich irrtest«, erwiderte Steinert, »und daß es jetzt zu spät ist, den Irrtum wieder gut zu machen. Aber du kannst mir schon glauben, wenn ich es dir jetzt sage. Ein Verhöhnen, ein Spott, das lag mir am allerfernsten.«

»Warum redetest du dann so?«

Steinert blickte zu Boden. Es schien, als kämpfe er mit etwas in seinem Innern, ehe er Worte fand.

»Warum?« sagte er. »Darauf läßt sich schwer antworten, ohne daß ich dich wieder verletze. Aber wie du damals vor mir standest, ganz voll vom Glauben an die Zukunft und an die Frau, die du dir erwählt hattest, da war es, als riefe in mir eine Stimme: ›der Mann träumt Unmögliches‹. Gerade so, wie du eben erzähltest, sah ich dich vor mir. Und neben dir sah ich deine Braut, jung, weiblich, gut, voll schöner Vorsätze, voll Glück über das Leben. Und gerade während du zu mir von deiner Zukunft sprachst, schien mir das ganze nichts als eine Illusion. Leider hatte ich ja auch nicht unrecht. Für dich war der Gedanke an deinen Sohn weit mehr, als ein bloßes Vatergefühl. Es war das Gefühl der Verantwortlichkeit gegenüber der Klasse, der seine Mutter angehört hatte und aus der du ihn emporhobst. Ein modern zusammengesetztes Gefühl steckte hinter deinem Tun, so neu und so stark, daß erst wenige es noch teilen. Für deine Braut aber war all das nur ein Wort. Was sie tat, das tat sie, weil sie dich liebte und das Bedürfnis hatte, zu glauben, daß zwischen euch nichts Trennendes war. Das Verlangen, alles zu opfern für den Geliebten, hat mancherlei Formen und täuscht uns oft. Genug. So sah ich euch beide, dich und sie, nebeneinander vor mir; und ich dachte: eines Tages werden die zwei ein Kind haben; was wird dann? Oder so was ähnliches. Was weiß ich? Aber jedenfalls wußte ich – sagen könnt' ich dir all das nicht. Hätt' ich es dir gesagt – du hättest meine Worte nicht einmal angehört. Es wäre einfach an dir vorübergegangen. Darum redete ich so, wie ich's tat, mengte Scherz und Ernst durcheinander, weil ich selber erregt war. Und du nahmst das für Hohn.«

Hjälm ging noch immer im Zimmer auf und ab. Seine Schritte waren langsamer geworden, gleichsam stiller. Der Groll, den er solange gehegt hatte, saß tief; aber als er ihn jetzt wieder hervorholen wollte, war alles, was er selber noch eben gesagt hatte, so unwirklich, daß er sich schämte.

»Dann hätt' ich dir also ein großes Unrecht angetan«, entschlüpfte es ihm unfreiwillig.

»Unrecht tun wir einander fast immer«, sagte Steinert lächelnd.

Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, wie glücklich ein solches Geständnis von einem Mann, der ihm wirklich Unrecht getan hatte, ihn vor kurzem noch gemacht hätte, und wie wenig es jetzt für ihn bedeutete.

»Ist dir nicht auch aufgefallen,« sagte er, »daß das Beste, was das Leben dem Menschen zu bieten hat, fast immer zu spät kommt?«

Hjälm verstand ihn nicht. Er war in Gedanken mit sich selber beschäftigt. Nachdenklich lehnte er sich an den großen Schreibtisch in der Mitte des Zimmers.

»So, wie du gefürchtet hast, kam es übrigens doch nicht«, sagte er. »Meine Frau und ich hatten keine Kinder. Wäre das anders gewesen, so wären wir wahrscheinlich nie so weit auseinander gekommen.«

»Weißt du das so sicher?«

»Sie hat es mir selber gesagt. Eben weil wir keine eigenen Kinder hatten, fing der Junge an, sich zwischen uns zu schieben. Was uns zwei Ärmste dereinst zusammenführte, das trennt uns jetzt.«

Hjälm setzte sich; sein Gesicht mit dem lichten Bart und den milden Augen trug einen qualvollen Ausdruck der Müdigkeit.

»Wir haben uns gegenseitig erschöpft«, sagte er. »Es geht nicht mehr.«

Unwillkürlich dachte Steinert an sich selber; und während er den andern betrachtete, kam ein Gefühl über ihn wie Neid. Sich trennen? Sich frei machen? Er begriff nicht, daß Menschen die Kraft dazu hatten!

»Ist es nicht ein wunderliches Gefühl, dieser Entschluß, auseinander zu gehen?« sagte er. »Heißt es nicht, das Weib, das man einmal geliebt hat, einsam in die Welt hinausstoßen? Und die Welt ist grausam!«

Die ganze Geschichte, die er da gehört hatte, kam ihm auf einmal so unwirklich vor. Es war nicht eine Geschichte von Menschen, die einen Gewinn davon erhofften, daß sie ihre eignen Wege gingen. Es war das unbewußte Geständnis eines Irrtums, der erst durch die Scheidung unwiderruflich ward . . .

Aber er bereute seine Worte, sobald er sie ausgesprochen hatte. Er mochte nicht aufdringlich erscheinen; Andern Rat zu erteilen war ihm geradezu verabscheuenswert. Glücklicherweise war Hjälm viel zu sehr in seinen eigenen Schmerz vertieft, als daß er es so empfunden hätte.

»Ja«, sagte er. »Du hast recht. Ich dringe ja auch viel weniger darauf, als sie. Und – ist das nicht merkwürdig? Sie sagt, wenn ich verheiratet gewesen wäre, wäre mein Kind ihr nicht so zuwider. Und jetzt kann sie den Jungen überhaupt nicht ansehen, ohne daran zu denken, daß er der Sohn eines – wie sie sagt – schlechten Frauenzimmers ist.«

Der Rechtsanwalt erwiderte nichts. Diese Mitteilung bestärkte ihn nur in der Auffassung, daß es sich hier um Menschen handelte, die sich tief innerlich liebten und einander brauchten, und die sich nur in eine Erhitztheit hineingeredet hatten, in der ein Vorwurf aus dem andern erwuchs, ohne Zusammenhang, ohne Logik . . . Er erwiderte nichts, sondern stand nur auf und sah nach der Uhr.

»Es ist spät«, sagte er. »Hast du Lust, den Tag mit mir zusammen zu bleiben? Ich bin frei.«

Hjälm nickte, und der Rechtsanwalt telephonierte nach einer Droschke. Als er abklingelte, sagte der Oberlehrer:

»Ich habe viel an die Vergangenheit gedacht in letzter Zeit. Das tut man ja meist in einer derartigen Situation. Und da ist mir der Gedanke gekommen, wie eifrig sich unsere Generation mit Reformplänen beschäftigt. Wir müssen wohl gleichsam in einer Art hysterischer Erhitztheit leben; alle beschäftigen sich mit der Untersuchung, wie weit die äußeren Formen des Lebens auf sie drücken oder nicht. Nichts ist mehr recht; alles muß umgeformt werden. Jeder einzelne trägt einen Reformgedanken mit sich herum. Wenige nur besitzen Ruhe und Gleichgewicht genug, um innerhalb der gegebenen Formen ein harmonisches Leben zu leben. Die Umformungswut läßt uns ganz einfach nicht Zeit zu leben. Schließlich stürzen wir, zu Tode gehetzt, ins Grab. Der Glücklichen unter uns sind wenige, und als gleichsam Uninteressante stehen sie unter ihrer Umgebung nicht gerade hoch im Kurs.«

Steinert antwortete nichts. Nichts hätte ihn mehr verwundern können, als gerade diese Worte und gerade aus Ake Hjälms Mund. Plötzlich fuhr er auf und sagte: »Die Droschke wartet.«

Die beiden Herren verließen das Zimmer. Durch die schmutzigen Straßen, in denen der Schnee in der Märzsonne schmolz, führte die rasselnde Droschke sie dahin, über die offenen Plätze, wo unter den Bäumen noch der Schnee lag, vorbei an der Nybrobucht, wo die Eisstücke im Lenzwind schaukelten, während philosophierende Krähen, die schreienden Möven nachäffend, am Rand des Eises umherspazierten und in den Spalten, die Wind und Sonne gerissen, nach Beute spähten. Als die Droschke über die Tiergartenbrücke hinaus war, und der Lärm verstummte, sagte Hjälm mit einem plötzlichen Lächeln: »Na – deine Frau und meine sind ja recht gut Freund jetzt!«

Steinert zuckte zusammen.

»Seit wann?« entschlüpfte es ihm.

»Weißt du das nicht? Schon längst.«

Wütend über sich selbst, weil er verraten hatte, wie wenig er von seiner Frau und ihrem Tun und Lassen wußte, entgegnete Steinert: »Gewiß, freilich. Ich weiß wohl.«

Er hätte gern noch einmal gefragt, wie das zugegangen war, wann und wo die beiden sich getroffen, was sie zusammengeführt, wie sie ihre alte Antipathie überwunden hatten. Aber weil er nicht willens war, sich selber bloßzustellen und mit einem andern über seine Frau zu sprechen, schwieg er. Er entsann sich, daß seine Frau früher immer gegen Frau Liese die lebhafteste Antipathie gehegt und sie auch keineswegs verborgen hatte; und es fiel ihm auch plötzlich ein, daß er in letzter Zeit, seit ihm die große Veränderung, die mit seiner Frau vorgegangen war, klar geworden, bemerkt hatte, wie Personen, die ihr früher fremd gegenüber standen, ihr auf einmal sympathisch wurden, wie überhaupt ihre Interessen grade das Gegenteil von ihren früheren geworden waren. Und zugleich dachte er an seine ganze Häuslichkeit, und es kam ihm auf einmal vor, als gingen dort, ohne daß er es wußte, Dinge vor, die er zu fürchten hatte. Warum? Das wußte er nicht. Er wußte nur, daß ein unbestimmtes Gefühl in ihm lauerte, und daß er das schon öfter empfunden hatte . . .

Er setzte sich in der Droschke auf und warf einen raschen Blick auf seinen Begleiter. Hjälm saß ebenfalls tief in Gedanken da und rauchte dabei eine Zigarre, deren graue Rauchwolken hinter der Droschke verschwanden. Durch den Tiergarten, wo der Wind in den alten Eichen rauschte und durch die braunen Blätter raschelte, rollten sie dahin; wohltuend senkte sich das Schweigen über den alten Groll, die alte Freundschaft, die alten Erinnerungen. Auf der Veranda des Restaurants, die die Bucht überblickt, ließen sie sich nieder, voll Freude über die Sonne, über das Stück blauen Wassers, das zwischen den Eisstücken offen lag, über den Wald, der jenseits auf den Hügeln sich erhob . . . Wie zwei Alte saßen sie da, redeten von vergangenen Tagen, wichen jedem Streitobjekt aus, hüteten sich, allzu vertraulich zu werden oder allzuviel zu fordern, denn jeder wußte, dieses kurze Beisammensein war für sie beide ein Ruhetag, der nicht so bald wiederkehren würde. Vor allem vermieden sie, das halb vergessene Mißverständnis wieder zu berühren, das die Veranlassung zu der langjährigen Kühle zwischen ihnen gewesen war. Sie wußten beide: allzuviel reden über alten Groll verstärkt die Feindschaft, und beide hatten sie das Bedürfnis, zu vergessen, die ganz eigene Ruhe zu genießen, die uns überkommt, wenn wir mit alten Freunden reden, bei denen es nicht vieler Mühe, nicht vieler Worte bedarf. Die Überhitztheit, die sie noch bei ihrem letzten Zusammensein aufgestachelt hatte, war vorbei. Ruhig sahen sie beim Abendgrog die Sonne sinken, die elektrischen Lichter um sich her aufflammen. Und zufrieden dankten sie einander für den angenehmen Tag und gelobten sich gegenseitig, bald wieder so zusammen zu sein. Und obgleich sie beide wußten, daß ein solches Beisammensein sehr unwahrscheinlich war, machte ihnen das Versprechen doch eine Art Freude. Erst kurz vor dem Auseinandergehen kam der Rechtsanwalt mit einer Andeutung auf die ernste Veranlassung, die sie zusammen geführt hatte. Er sprach von den Papieren und Formalitäten, und nachdem dieser Gegenstand abgehandelt war, fragte er: »Wie denkst du dir denn überhaupt die Zukunft?«

Hjälm konnte nicht verhindern, daß bei dieser Frage ein Lächeln, fröhlicher, als er selbst es, streng genommen, für passend hielt, über seine Züge glitt. Die Zigarre, die eben ausgehen wollte, frisch ansteckend, fuhr er fort:

»Ich muß eben wieder da anfangen, wo ich aufgehört habe. Ich hatte als Junggesell schon den Jungen zu mir genommen. Wir hatten damals zwei kleine Zimmer, er und ich. Das Mädchen schlief in der Küche. Wir müssen uns eben wieder eine Wohnung suchen und von vorn anfangen.«

Er sah ordentlich verlegen aus ob dieser Vaterliebe, die der Quell all des Kummers der verflossenen Jahre war und alles überdauerte . . .

»Wie alt ist der Junge jetzt?« fragte Steinert.

»Fünfzehn«, war die Antwort.

Wieder dachte Hjälm daran, wie er dereinst diesen Mann, der da vor ihm saß, verdammt hatte, und etwas wie Gewissensbisse, das unbestimmte Gefühl, als habe er sich trotz allem geirrt, beschlich ihn. Zum erstenmal bemerkte er, daß Steinert gealtert war; und er war nahe daran, es auch auszusprechen. Im selben Augenblick fielen seine Augen auf die Whiskyflasche, die vor ihnen stand. Sie war über die Hälfte geleert; und Hjälm wußte, er selber hatte nur ganz wenig getrunken. Trotzdem saß Steinert gänzlich unberührt und beherrscht da, wie er es den ganzen Abend über gewesen war. Seine Stimme klang ruhig, wenn er sprach, nur an den Augen, die ungewöhnlich hell funkelten, konnte man sehen, daß er getrunken hatte. Hjälm fiel plötzlich ein, was er von seiner Frau über die Ehe des Freundes gehört hatte; und zugleich erinnerte er sich, daß er grade im letzten Jahr recht viel darüber gehört hatte. Frau Steinert hatte ihr Leid der Freundin geklagt, und die Freundin hatte alles ohne Vorbehalt ihrem Mann wieder erzählt. Je weniger ihr eigenes Verhältnis es vertrug, daß man daran rührte, desto eifriger beschäftigten sie sich mit den Angelegenheiten anderer. Es war eine Leidensgeschichte, die Hjälm gehört hatte, die Leidensgeschichte einer Frau, die einen egoistischen Mann hat, der sie nicht verstand, der sie allein ließ, der trank . . . Mit Hilfe des dilettantisch-psychologischen Kombinationsvermögens, das die Würze des modernen Klatsches ist, war dies Bild Steinerts Hjälm ganz wahr vorgekommen und hatte auch ganz vortrefflich zu der Charakterlosigkeit gestimmt, die er längst als erwiesen und klar angenommen hatte. Als er jetzt Steinert vor sich sah, wieder unter dem Einfluß seiner Persönlichkeit stand, begann er doch zu zweifeln. Das Bild, das er sich aus einem gewissen Abstand gemacht hatte, schien ihm nicht mehr so glaubwürdig, wie zuvor. Ob es vielleicht doch, wie Tora Ljung damals zu allgemeiner Entrüstung gesagt hatte, noch eine andere Erklärung gab? Vielleicht gab es überhaupt immer noch eine andere Erklärung, wo Menschen einander aburteilten? Und wie Hjälm so da saß, kam ihm der Gedanke, er hätte doch vielleicht diesem Mann unrecht getan, nicht nur damals, bei der einen Gelegenheit, sondern viel öfter – immer? Vielleicht ein ganzes Leben lang? Hjälm saß auf seinem Platz und wünschte, er könnte dies aussprechen, dem andern die Hand reichen . . . Ihm war, als müßte ein solcher Handschlag mehr auswischen als nur dies zufällige Mißverstehen zwischen zwei Männern, müßte den Weg für Weiteres, Größeres bahnen . . . Er wußte nicht recht, was . . .

Aber während er noch mit diesem Gedanken kämpfte, erhob sich Steinert und knöpfte den Rock zu.

»Es ist spät«, sagte er.

Und vor diesen Worten erlosch der Vorsatz, der wie ein schwacher Wunsch im anderen aufgeglüht war, und blieb unausgeführt, wie so vieles andere, das aufflammt und zu Asche sinkt. Stumm gingen sie beide hinunter zu der Droschke, die auf sie wartete, und während der Wagen sie durch das Gehölz führte, das dicht und dunkel zu beiden Seiten des Weges stand, empfand Hjälm es fast als Erleichterung, daß kein gefährliches Thema aufs Tapet gebracht wurde, keinerlei Versuch, der zu einem Mißverständnis führen, die Harmonie des Abends hätte stören können . . . Ein Zweifel stieg in ihm auf, ob die Erklärung, die der andere über die Jugendgespräche in den alten Tagen gegeben hatte, auch wirklich ehrlich gemeint sei . . . Es schien dem Oberlehrer so unfaßbar, daß eine so langjährige Mißstimmung zwischen zwei Männern so grundlos sein sollte . . .

Sie waren beide stumm. Und Steinert in seiner Wagenecke kämpfte mit sich selbst. »Warum habe ich überhaupt versucht, zu sprechen?« dachte er. »Morgen ist alles vergessen, und ein Groll, je ungerechter er ist, desto fester sitzt er! Warum habe ich mich so zwecklos selber preisgegeben?«

Vor ihnen empor stieg die Lichtflut des Horizonts der Stadt, der sie zufuhren; näher kamen sie und immer näher; schon rollte die Droschke durch Reihen von Licht, die gegen das Dunkel ankämpften. Und die zwei alten Freunde trennten sich, und beiden folgte die Wehmut – dem, an dessen Tür die Droschke hielt, und dem, der einsam weiter rollte seinem verödeten Heim entgegen . . .

 


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