Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Zwanzigstes Kapitel

Ein regnerischer Maitag neigte sich mit klarem Sonnenuntergang zu Ende. Oskar Steinert wanderte langsam am Wasser entlang. Die Luft war durchsichtig klar und rein nach dem langen Regen, dazu weich und mild: der Frühling hatte endlich die lange Kälte überwunden. Sachte plätscherten die Wellen gegen den Kai, und schweigend breitete sich die lichte Dämmerung über das Gewirr von Takel und Tau, von schwarzen Dampferschornsteinen mit ihren weißen und roten Gürteln, von hohen Häusern, die aneinandergedrängt standen, und Lichtern, die matt gegen das Frühlingsdämmer leuchteten. Am Himmel, zwischen zwei Wolken, die auseinandergeglitten waren, glänzte der blasse Maimond und spiegelte sich in der Flut.

Steinert ging still seiner Wege, vorüber an allem, was ihm so heimisch und wohlvertraut war. Er ging, wie man in Gedanken dahingeht, halb sich bewußt, daß das, was man um sich her fühlt, schön ist, und doch ohne sich aufzuhalten, um zu genießen und zu sehen. Durch Gruppen von Spaziergängern, die das Frühlingswetter herausgelockt hatte, schritt er dahin und näherte sich einsam und unbemerkt der Nordbrücke. Dort stand er still und blickte über die Wassermassen hin, die unter den Brückenbogen wegströmten. In gelbbraunen Wogen stürzte die Frühlingsflut einher; vor ihm, am Himmel, lichteten sich die Regenwolken.

Oskar Steinert hatte just an diesem Abend in ganz ungewohnter und auffallender Weise empfunden, wie die Einsamkeit auf ihm lastete. Er, der seit langem die Einsamkeit als seine Rettung pries, begann mit einemmal sie als Bürde zu empfinden. Und um dieser Einsamkeit zu entfliehen war er ausgegangen und wanderte die altbekannten Wege. Er hatte ein Bedürfnis nach Menschen; und die Frühlingsluft wärmte so mild und schön. Unentschlossen wanderte er von Platz zu Platz, Straße auf, Straße ab, stand manchmal still, wie um zu überlegen, und wanderte doch immer weiter, als wage er es nicht, irgendwo einzutreten. Aus den Restaurants schimmerten die Lichter durch offene und geschlossene Fenster, aus den offenen Cafés schrillte die Musik und lockte Scharen von Lauschern unter die halbbelaubten Bäume, durch die ein Netzwerk zitternder Schatten und wechselnden Lichtes fiel. Und überall ging er vorüber. Nirgends wagte er sich hinein. Es war, als höre er überall Stimmen von früher, Stimmen, die er wiedererkannte, denen er einst gelauscht hatte. Und die Stimmen trieben ihn fort von den alten Plätzen, schreckten ihn mit ihrem Echo von Jugend und Freundschaft. Er wußte, wo er auch hinging, er würde sie hören. Und dennoch wanderte er von Café zu Café, blieb eine Weile unter der Tür stehen und spähte nach einem bekannten Gesicht, das ihm vertraut entgegenlächeln sollte – und nirgends fand er, was er suchte; nichts als fremde Blicke, die ihn anstarrten, gleichgültig – voller Verwunderung. Lang ging er so, und als er endlich umkehrte, um auf demselben Weg, den er gekommen war, wieder zu seiner einsamen Behausung zurückzukehren, sah er todmüde aus. Dennoch ruhte er nicht, bis er die offenen Plätze hinter sich hatte und wieder fühlte, wie die enge Straße, in der er sein Heim aufgeschlagen hatte, sich um ihn schloß.

Müde und resigniert stieg er die Treppe hinauf und trat in sein Zimmer. Als er die Tür hinter sich zugemacht und die Lampe angezündet hatte, atmete er tief auf – ein Atemzug der Erleichterung. Jetzt war er wenigstens wieder ruhig zwischen seinen vier Wänden –, nichts mehr, das sein Sehnen weckte. Er kannte sich selber – seine Stimmungen, er wußte im voraus, wonach er sich zu richten hatte, wie er mit sich selber dran war. Heute abend war ihm schlimmer als je zumute. Der Frühling quälte ihn. Als ob alle Irrtümer, die er in seinem langen, unglücklichen Leben begangen, ihn aufsuchten – nicht als Feinde, sondern wie Freunde, die er nur verkannt hatte. Als wäre er umgeben von unsichtbaren Geschöpfen, die, seiner eigenen Natur entsprungen, ihn mit freundlichen, wehmütigen Augen, in denen etwas von einer guten Ironie schimmerte, betrachteten. Diese Ironie war frei von jeder Schärfe. Sie zerbrach ihn, ohne ihm weh zu tun. In ihrem Licht sah er plötzlich sein ganzes Leben, und ihm schien, als wäre all sein Streben, soweit er zurückdenken konnte, nur auf das eine gestellt gewesen: sich selber zugrunde zu richten.

Er schenkte diesem Gedanken weiter keine Aufmerksamkeit; aber er glaubte doch zu fühlen, wie sich in diesem Augenblick ein Druck über sein Gehirn legte. Er erinnerte sich, daß er dies Gefühl schon früher hie und da gehabt hatte. »Ich mache mir zu wenig Bewegung«, dachte er. »Morgen geh' ich ganz früh weg und mache einen Spaziergang nach dem Tiergarten.« Seine Gedanken schweiften zurück zu seinem Vater, der so viel für ihn gewesen, zur Mutter, die ihm eine Fremde war. Er sah ein Landhaus mit hohen Bäumen, einen Bach, der sacht am Garten vorüberglitt. Von dort war er einst ausgezogen und war nie wieder zurückgekehrt. Der Weg, den er durchwandert hatte, schien ihm plötzlich so kurz und doch auch wieder lang. Er dachte an seine Frau, sah sie wie in einem Traum, zärtlich, glücklich, an seinem Arm irgendwo durch eine lichte Sommerlandschaft wandeln, wo Birken standen; dann sah er die Kinder, wie sie ganz klein waren, sah ihre Gesichter auf weißen Kissen ruhen, schlafend, mit halboffenen Mäulchen und rosigen Bäckchen. Eine ganze Reihe von Freunden umgab ihn, Männer und Frauen durcheinander; sie verschwanden wie in einem Nebel, machten andern Platz, und mit einer seltsam quälenden Beklemmung fühlte er ganz in seiner Nähe Tora Ljung; er wollte sie sehen und konnte nicht; ihm war, als müsse er durchaus etwas sagen, er rang mit aller Macht nach Worten und fand doch keine.

Die Lampe war längst erloschen; in dem Zimmer mit der niedern Decke und den Büchern, die alle vier Wände bekleideten, herrschte Dunkel. Bloß unter der zu kurzen Gardine durch fiel ein Streifen des Frühlingsmondscheins über den Teppich.

Oskar Steinert schlief; und noch im Schlaf arbeiteten seine Gedanken.

 


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