Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Drittes Kapitel

Dem Oberlehrer Hjälm war gar nicht wohl zumute. Dies lange Zusammensein mit seinen aufregenden Gesprächen und hitzigen Gedankenspielen hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Eindruck vom Vormittag war stark und ganz gewesen. Jetzt kam er ihm plötzlich zerrissen vor, verdünnt, aufgelöst in spritvermischtes Wirtshausgeschwätz. Er fühlte sein Hirn gleich einem Chaos unter einem unleidlichen, fremden Druck arbeiten, und dieser Druck rührte von den Gedanken eines andern her, die sich so gewaltsam mit seinen eigenen vermengten, daß es ihm vorkam, als könne er seinen Gedankengang gar nicht mehr von dem des andern trennen.

Es war darum vielleicht die reine Selbstverteidigung, daß er den ganzen Heimweg über nichts tat, als Oskar Steinert und alles, was dieser getan und gesagt hatte, kritisieren. Als ginge dieser Mann, in dessen Gesellschaft er den ganzen Tag verbracht hatte, noch immer an seiner Seite, so deutlich sah er sein Gesicht vor sich, einmal von Leidenschaft leuchtend, dann wieder in müdem Überdruß erschlaffend, oder mit dem Ausdruck bitterster Ironie, der ganz plötzlich dem der Milde weichen konnte. Dieser letztere Zug an Steinert war es, der Hjälm so sympathisch war und um dessentwillen er ein gewisses Gefühl, das er dem Manne immer bewahrt hatte, nie ganz vergessen konnte. So recht sicher fühlte er sich nie in Steinerts Gesellschaft. Eine Zeitlang hatte er sogar eine ausgesprochene Antipathie gegen ihn gehabt. Es war, als schnitten sich ihre beiderseitigen Gedanken auf irgendeine Weise, könnten nicht nebeneinander bestehen. Darum brachte ihn auch ein Tag mit Steinert immer mehr oder weniger aus dem Gleichgewicht. Und das war vielleicht auch die Ursache gewesen, daß der Oberlehrer sich einst von dem Freund zurückgezogen hatte. Er hatte hart kämpfen müssen, um das seelische Gleichgewicht zu erlangen, das ihm Rückgrat im Leben gab. Seit einigen Jahren war er der ›zerrissenen Naturen‹ müde. Seine Jugend hatte ihn in Berührung mit so vielen gebracht. Während er jetzt heimwärts ging, schien es ihm, als wäre der Boden, auf den er trat, nicht mehr so sicher. Die ganze Art des Unwillens, den er empfand, drückte sich in dem Gedanken aus: »Nie seh' ich den Mann klar vor mir!« Hätte Steinert diesen Gedanken vernommen, so hätte er wahrscheinlich erwidert: »Aber ich sehe dich klar.« Und damit war auch tatsächlich die Kluft, die die zwei Männer trennte, bezeichnet.

Langsam stieg der Oberlehrer die Treppen in dem großen Haus hinauf, in dem er wohnte. Es lag an der Ecke einer der vielen Quergassen der langen Drottningstraße, die im Mittelpunkt Stockholms beginnt und schnurgerade nach dem gewaltigen Kirchhof hinter Norrtull führt. Schon auf der Treppe hatte er das Gefühl, als sei die Tür zwischen ihm und etwas Störendem zugefallen. Und dies Gefühl der Ruhe und Sicherheit ward vollkommen, als er in seinem Studierzimmer angelangt war und das elektrische Licht entzündet hatte. Unter seinem grünen Schirm leuchtete es auf einen alten, vielgebrauchten Schreibtisch alltäglichster Sorte, auf dem eine Reihe von Photographien seiner Frau stand – als Braut – jung verheiratet – und etwas älter. In kleinen Rahmen, zu einem lustigen Ganzen zusammengestellt, kamen dann die Kinderbilder, ein kleines, nacktes Kindchen auf einem Teppich, ein größerer Junge in einer Zipfelmütze, der auf einer Treppe spielte, ein etwa acht Jahr altes Bürschchen, das in Kittel und Kniehöschen auf einem niederen Stuhl saß, zuletzt ein zwölfjähriger Bub in der Schülermütze, den Bücherranzen auf dem Rücken. Es sah aus wie eine ganze Reihe von Kindern, die sich alle ähnlich sahen wie Geschwister; es war aber immer ein und derselbe Junge, in verschiedenen Altersstufen, jedes Bild sorgfältig aufbewahrt und zu den früheren gefügt, eine Auswahl aus der Sammlung von Liebhaberaufnahmen in dem geschnitzten Kasten, den Folke selbst im ersten Jahr, als er in die Kunstgewerbeschule ging und sein eigenes Handwerkszeug bekam, dem Vater gemacht und verehrt hatte.

Der Oberlehrer zog seinen kurzen, grauen Arbeitsrock an und setzte sich an den Schreibtisch. Um ihn her war alles still. Und diese Stille, die er nirgends fand, als wenn er allein in seinem Studierzimmer war, schien das ganze Haus zu erfüllen und einen wohltuenden Einfluß auf ihn auszuüben. Er beugte sich vor, über den Tisch weg, und als müsse er sich selber hypnotisieren, um fremde Einflüsse zu verscheuchen, nahm er eine Photographie um die andere, betrachtete sie und stellte sie dann wieder auf ihren Platz. Gedankenvoll lehnte er sich in den Schaukelstuhl zurück. Seine Blicke schweiften über die breite Wand, die von Bücherregalen ganz bedeckt war und in deren Mitte das Schlafsofa stand, dann zu der Wand mit den alten Kupferstichen über der Kommode und der Voltairebüste, die auf rätselhafte Weise sich in dies friedliche Heim verirrt hatte und dunkel und schattengleich in der Ecke hinter dem niederen Lehnsessel grübelte. Ohne sich zu regen, saß der Oberlehrer so, mechanisch ging der Schaukelstuhl auf und ab. Plötzlich erhob er sich, öffnete, mit der Kerze in der Hand, sachte die Tür und ging leise durch das Eßzimmer. Die Tür ließ er hinter sich offen. Dann leuchtete er ins Kinderzimmer. Folke lag mit dem Arm über dem Gesicht und in die Kissen gewühlter Stirn. Er rührte sich nicht, als der Vater eintrat, sondern lag ganz still, eine kräftige, nackte Wade zeigend, die sich unter der Decke vorgeschoben hatte. Der Oberlehrer bückte sich, zog sorgsam die Decke zurecht und stopfte sie gewissenhaft um den Schlafenden fest. Ein warmer Ausdruck glitt über sein Gesicht. Still ging er wieder durch die dunkeln Zimmer zurück. Als er im Eßzimmer war, schlug die Uhr halb zwei.

Für den Oberlehrer war diese Wanderung fast wie ein Bußgang gewesen. Er hielt sein Heim heilig und fand, er hätte eigentlich seiner Familie heute einen Freudentag machen müssen, statt seine eigene Ruhe durch desperate Gespräche und Auftritte zu gefährden. Hätte er nicht gefürchtet, seine Frau könne aufwachen, so hätte er gern auch einen Blick ins Schlafzimmer geworfen. So setzte er sich ruhig wieder hin. Seine erste Stunde am zweiten Mai war erst um ein Uhr; der Oberlehrer hatte also alles Recht, auf einen dauerhaften Morgenschlaf zu hoffen.

Alles, was ich heute nachmittag gehört habe, dachte er, ist wie die Brandung nach den Stürmen der Jugend. Der Stimmungsausbruch eines Menschen, der in Disharmonie mit sich selber ist. Vielleicht unbewußte Gewissensbisse, daß er sich die Zeit unter den Händen hat weggleiten lassen, die Träume seiner Jugend vergessen und nur sich selber gelebt hat. Seltsam, wie viele Menschen so herumlaufen und ihre Jugend beweinen!

Je mehr seine Gedanken wieder in das gewohnte ruhige Geleise kamen, desto zufriedener fühlte sich der Oberlehrer mit sich selber. Er streckte die Hand nach einem Streichholzhalter aus, der an der Wand hing, und während er seine Pfeife wieder anzündete, die am Ausgehen war, fand er sich plötzlich der Voltairebüste gegenüber. Der Schein des brennenden Hölzchens beleuchtete einen Augenblick das strenge, muskulöse Gesicht mit dem zusammengebissenen Mund, der so viel Schmerz verbirgt und so eisenharte Energie verrät.

Es fiel ihm ein, daß gerade dieser Zug des großen Fanatikers ihn dereinst bestimmt hatte, diese Büste in seinem Studierzimmer aufzustellen – das Bild eines Mannes, der das Unrecht der Welt niemals vergaß, der Jahre seines Lebens an die Befreiung eines einzigen unschuldig Verurteilten setzte. Der Retter Calas' war es, den er einst verehrt hatte, nicht das Genie.

Ob es wünschenswert wäre, daß wir alle wären wie er? dachte der Oberlehrer und schüttelte lächelnd den Kopf in der Erinnerung an die Illusionen der Jugend.

Er war ein stiller, ruhiger Mann, in dem noch eine kleine warme Flamme der Menschenliebe flackerte. Hätte seine Frau nur das Kind so lieben können, wie der Oberlehrer selbst diesen Sohn liebte, so hätte nichts auf der ganzen Welt seine Ruhe stören können. Was hatte ihm Voltaire zu sagen?

Eine Erinnerung dessen, was ich nie war, das ist er! dachte er weiter. Aber er dachte es ohne Bitterkeit und ohne Ironie.

Im selben Augenblick öffnete sich die Tür hinter ihm mit einem raschen Klinken; der Oberlehrer fuhr aus seinen Träumen auf.

Vor ihm stand seine Frau. Ein fußfreies, dunkelrotes Morgenkleid umschloß ihre Gestalt, das lange Haar hing ihr in einer schweren Flechte über die Schulter. Ihre Augen blinzelten vor dem Licht, als habe sie eben geschlafen, und ihre Wangen waren rot, wie bei einem aus dem Schlaf geweckten Kinde.

»Ich bin aufgewacht, wie du kamst, und hab' nicht wieder einschlafen können«, sagte sie.

»Aufgewacht?« sagte der Oberlehrer. »Hast du geschlafen?«

»Ja«, antwortete sie. »Ich lag auf der Chaiselongue und las. Und schlief dabei ein. Ich dachte nicht, daß du so spät kommen würdest.« Dem Oberlehrer wurde warm ums Herz. Wie sie so dastand, schlank und klein, wie Frauen werden, wenn die moderne Tracht ihre wirkliche Gestalt nicht fälscht, sah sie aus wie ein Kind. Alles, was es zwischen ihnen gegeben hatte, ward auf einmal so geringfügig, so fern, verschwand vor dem, was sie beide verband.

»Hast du auf mich gewartet?« sagte er.

Seine Stimme klang weich, seine Augen blickten sie gütig an.

»So darfst du nie wieder zu mir sein, wie heute«, erwiderte die Frau.

Ein Gefühl von Bitterkeit durchfuhr des Oberlehrers Seele. Wie oft hatte er diese Worte schon gehört, wie oft hatte er auf sie geantwortet, wenn der Streit vorüber war und sie beide danach verlangte, wieder an ein vollkommenes Glück zu glauben. Der Oberlehrer war überzeugt, – wenn seine Frau nur lernen könnte, jeden kleinen Zankapfel zwischen ihnen beiden so anzusehen, wie er, so würde ihr Glück eines Tages auch vollkommen sein. Gleichzeitig aber hatte er auch die feste Überzeugung, daß der Mann in seiner Frau vor allem den Menschen zu respektieren hat, und darum strebte er ehrlich danach, den Widerspruch zwischen dieser Überzeugung und dem rein männlichen Instinkt, der ungeschwächt unter dem Staub der Theorien lag, auszugleichen. Diesmal wählte er, um ein Gespräch über den empfindlichen Gegenstand zu vermeiden, den Ausweg, einfach zu tun, als wäre zwischen ihnen längst alles vergessen; und ganz überzeugt, daß er damit seinen Zweck erreichen mußte, sagte er:

»Daß du so lang auf mich gewartet hast! Weißt du, da hab' ich ein ganz schlechtes Gewissen. Ich hatte dich und mein Daheim fast vergessen. Und weißt du, warum?«

»Nein!« lautete die Antwort.

»Ja – siehst du – ich bin auf Abenteuer ausgewesen – und nicht gerade die heitersten.«

Und der Oberlehrer begann zu erzählen. Er berichtete seiner Frau, wie er den Tag verbracht hatte, glitt über den Nachmittag und das Zusammensein mit Steinert leicht hinweg und hielt sich dafür um so länger bei dem Eindruck auf, den ihm der Arbeiterzug, und was darauf folgte, gemacht hatte. Ihm war, als sähe er alles noch einmal, erlebte alles aufs neue, hörte die zündenden Worte, das Stampfen der Scharen, sähe den Ernst ihrer Gesichter, erlebte noch einmal die Szene bei der Bank, auf der der tote Arbeiter lag. Frau Liese hörte ein bißchen zerstreut zu. Sie war mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, und es interessierte sie eben gar nicht, daß ihr Mann so über allerhand gesellschaftliche Verhältnisse nachgedacht und sie darüber vergessen hatte.

»Ich bin die ganze Zeit daheim gewesen und habe an dich gedacht«, sagte sie ein bißchen scharf.

Sie strich das starke, blonde Haar, das sich gelockert hatte, aus der Stirn, dies prächtige, üppige Haar, das des Oberlehrers Freude und Stolz war; dann legte sie die kleinen, weißen Hände übereinander, blickte den Mann ein bißchen unwillig an und fügte hinzu:

»Ich war ordentlich böse, als du telephoniertest.«

Der Oberlehrer war nicht befriedigt von der Wendung, die das Gespräch genommen hatte. Im Glauben, etwas Beruhigendes zu sagen, fuhr er fort:

»Wenn man einen kleinen Zwist gehabt hat, wie das doch manchmal vorkommen kann – ist es da nicht am besten, man bleibt einen Tag lang auseinander? Ich glaub's.«

Frau Liese seufzte.

»Was weiß ich!« sagte sie. »Wir haben versucht und versucht. Und ich finde, es wird nur immer ärger. Weißt du, was ich manchmal glaube? Ich glaube, wir alle miteinander haben einfach viel zu viele Bücher gelesen. Über die Ehe, über die Liebe, über Entwicklung und Kindererziehung und Gott weiß was. Alles ist so fertig und klar und deutlich, daß man zuletzt gar nicht mehr weiß, an was man sich halten soll.«

»Die Bücher sind dazu da, daß sie uns durchs Leben helfen«, sagte der Oberlehrer.

»Ja, ich weiß schon«, erwiderte die Frau.

Und ihr eifriges Gesicht rötete sich.

»Aber tun sie das auch immer? Das ist ja eben die Frage. Wenn ich ganz allein bin und an irgend etwas denke, das mich bewegt, so fängt plötzlich dies oder jenes Buch an in meinen Ohren herumzuspuken. Und da weiß ich dann schließlich nicht mehr – bin ich ich selbst oder irgendeine Person aus meinem Buch!«

»Verstehst du denn nicht, daß das, was du da sagst, bloß beweist, daß du die Bücher gelesen hast ohne sie zu verdauen?«

»Wohl möglich. Aber was hilft mir das?« erwiderte sie rasch und unerschrocken. »Vielleicht taug' ich überhaupt nicht zum vielen Lesen. Früher – daheim, in unserer kleinen Stadt, haben wir gar nichts gelesen. Und damals hab' ich alles viel besser verstanden als jetzt. Und war nie ratlos. Ich wußte immer, was ich zu tun hatte. Und wenn ich einmal traurig war, so wurde ich auch wieder froh, ohne so hart zu kämpfen und nachzudenken.«

Wider Willen fühlte der Oberlehrer, daß in diesen Worten, die er im stillen ein kindisches Geschwätz nannte, doch etwas lag, das ihn rührte.

»Wird's dir denn so schwer, klar und geordnet zu denken?« sagte er lächelnd.

Liese merkte wohl seine Ironie, ließ sich aber nicht stören. Den ganzen Abend hatte sie hierüber nachgedacht – jetzt mußte es heraus, mochte es kosten, was es wolle.

»Ja, vielleicht fehlt's mir eben gerade daran«, sagte sie und lachte, daß ihre weißen, ebenmäßigen Zähne aufblitzten. »Vielleicht denk' ich zuwenig? Aber du, Ake? Denkst du nicht zuviel?«

»Das werd ich mir wohl schwerlich abgewöhnen können!«

Des Oberlehrers Stimme klang etwas gereizt.

»Könntest du's nicht einmal versuchen? Ich würde dich dann so viel besser verstehen!«

Er legte seine Pfeife weg, und, sich im Sessel zurechtsetzend, sagte er:

»Heut' haben wir uns wegen Folke gezankt. Glaubst du, solche Streitigkeiten kommen davon her, daß man zuwenig oder zuviel denkt?«

Er setzte dabei eine überlegene, gereizte Miene auf, die ihm schlecht stand. Frau Liese sah es.

»Wenn ich ganz gewiß wüßte, daß du nicht böse wirst, möcht' ich dir sagen, was ich heut' gedacht habe«, sagte sie mit einem ängstlichen Blick auf den Mann.

Und als er ihr mit den Augen antwortete, fuhr sie fort:

»Als du damals Folke zu dir nahmst, Ake – war das da wirklich etwas, was du selber so recht wolltest?«

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, war es nicht eigentlich etwas, was du dir – angelesen hattest? Du tatest es, weil du glaubtest, es sei deine Pflicht, und weil es in deinen eigenen Augen etwas Schönes war. Du glaubtest, du müßtest es tun – aber du selber wolltest es eigentlich gar nicht so recht.«

Der Oberlehrer wollte sie unterbrechen, aber sie fuhr fort:

»Oft ist es mir so vorgekommen, und darum hab' ich mich auch nie damit abfinden können, wie mit etwas völlig Natürlichem.«

Jetzt wurde der Oberlehrer ganz ernstlich böse. Daß seine Frau einen Zweifel in die Aufrichtigkeit einer Überzeugung setzte, die durchzuführen ihn gar nicht wenig gekostet hatte, verwundete ihn an seiner empfindlichsten Stelle; er erwiderte scharf:

»Hast du vergessen, was mich das dereinst gekostet hat?«

»Daß man dich in der Rektoratsbesetzung übergangen hat?« sagte Frau Liese.

»Ja – übergangen, aus lumpigen, konventionellen Rücksichten, weil ich ganz einfach meine Pflicht tat.«

Des Oberlehrers Stirn zog sich zusammen, und zwischen den Augen zeichnete sich ein scharfer, senkrechter Strich ab.

»So hab' ich das nicht gemeint«, fiel Frau Liese ängstlich ein. »So gar nicht.«

Ihr Gedankengang war mit einem Male gestört, umgestürzt von dieser unbeweglichen Logik, gegen die sie sich nicht verteidigen konnte. Und in dem Gefühl, ihrem Mann, ohne es zu wollen, unrecht getan zu haben, sagte sie:

»Jetzt bist du doch böse.«

»Gewiß nicht«, erwiderte der Oberlehrer und strich seiner Frau über das schöne Haar.

Und bei sich dachte er über das große Unglück ihrer Ehe nach: daß sie keine Kinder hatten. Sonst, dachte er, wäre wahrscheinlich alles anders. Er hätte seine Frau gern gefragt, ob sie sich noch immer darüber gräme, wie sie es – das wußte er – früher getan hatte. Aber er getraute sich nicht.

»Es ist spät«, sagte er. »Schon viel zu spät, Liese!«

Und zusammen und doch so tief getrennt durch Neigung, Ansichten und Natur gingen die Gatten durch die dunkeln Zimmer zur Ruhe.

 


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