Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Elftes Kapitel

Tora Ljung sah bald, daß die Ruhe, die ein paar kurze Tage lang Oskar Steinert beherrscht hatte, nicht von Dauer war; und sie merkte auch an seiner ganzen Art, daß etwas geschehen sein mußte, das er nicht erzählen oder berühren mochte. Er kam und ging, ohne scheinbar sie und die Kinder überhaupt zu bemerken; und als sie einmal die Kinder fragte, war die Antwort:

»So ist Papa immer.«

Bloß abends, wenn die Kinder zu Bett gegangen und sie beide allein waren, konnte er plötzlich auftauen und mitteilsam sein. Dann konnte er allerhand erzählen in der offenen Veranda mit der Aussicht über die Bucht oder auch im Wohnzimmer mit dem offenen Kamin und den gelben Seidenvorhängen. Er erzählte von seinen Reisen, von den ehemaligen Freunden, lange, verwickelte Geschichten, oft voller Leben und Humor, dann wieder häßlich, quälend . . . Sogar Tora, die ihn doch kannte, wunderte sich über die Unmenge von Menschen, die diesem Mann nahe gestanden hatten. Einmal machte sie auch eine Bemerkung darüber. Aber da wurde Steinert plötzlich düster und verstummte mitten in seiner Erzählung.

»Alte Pfade wachsen mit den Jahren zu«, sagte er. »Da ist nichts zu machen.«

»Kann man gar nichts tun, sie offen zu halten?« fragte Tora vorsichtig.

»Doch; wenn man Zeit und Geld hat. Sonst nicht.«

Tora kannte diesen Gesichtsausdruck, mit dem er mitten im Wort abzubrechen pflegte, und der zugleich auch wieder um Vertrauen bat; und aus diesem Gesichtsausdruck, der die Worte begleitete, schloß sie, daß Steinert mehr von dem Urteil der Menschen über ihn wisse, als er sagen möge. Ihre Unruhe steigerte sich noch eines Abends. Sie war müde und wollte sich eben zurückziehen.

»Geh noch nicht!« bat er da nervös.

»Es ist ja fast Mitternacht. Du mußt selber zu Bett gehen.«

»Heut' nacht kann ich doch nicht schlafen«, antwortete er. »Und manchmal quält die Einsamkeit mich.«

Er sah bei diesen Worten fast furchtsam und zugleich beschämt aus.

»Meine Gedanken sind ganz in Unordnung«, sagte er wie zur Erklärung. »Manchmal gehorchen sie mir nicht mehr.«

Damit erhob er sich und fuhr in leichterem Ton fort: »Geh, wenn du müde bist. Es ist ja bloß Einbildung.«

Und er gab keine Ruhe, bis sie ihn allein ließ.

An einem andern Abend hatten sie lang von den Kindern, ihren Anlagen und Neigungen gesprochen, und Tora hatte zu ihrer Verwunderung gemerkt, wie wenig Steinert im Grunde seine Kinder kannte. Das Gespräch ging dann auf Kindheitserinnerungen im allgemeinen über, und plötzlich erhellte sich Steinerts Gesicht wie in einer frohen Erinnerung. Er war überhaupt an diesem Abend bei allerbester Laune, voller Einfälle und Späße.

»Hab' ich dir schon vom alten Björken erzählt?« sagte er.

»Nein, nie.«

»Weißt du, man hat ja nicht viel gelernt in den Schulen zu meiner Zeit«, fuhr Steinert fort. »Und wenn ich so recht darüber nachdenke, so wüßte ich keinen, dem ich überhaupt Dank schuldig wäre, außer gerade dem alten Björken. Was wir an reiner Schulweisheit von ihm lernten, davon will ich nicht reden. Gammelby, wo ich in die Schule ging, war eine Stiftsstadt, und der bischöfliche Geist ruhte über dem ganzen Gymnasium. Na, genug! Aber der alte Björken! Das war ein Mensch für uns – einer, den wir lieb hatten. Wie alt er jetzt ist, weiß ich nicht einmal. Aber er muß weit über die Siebzig sein; denn ich kann ihn mir überhaupt nur alt denken. Ich sag' dir, mit jedem Jahr hatten wir ihn lieber. Drei volle Jahre gab er uns fast alle Stunden. Ich glaube, nur Mathematik und Naturkunde gab er nicht. Das erste war immer, daß er den Jungens Angst einjagte. Ob mit Absicht oder nicht, weiß ich nicht. Aber wir hatten einen furchtbaren Respekt vor dem Alten. Er hatte einen dichten grauen Bart, der bis zu den Ohren ging; und da fing das Haar an, ebenso dick und auch graugesprenkelt, mit einer breiten, riesigen Locke, die er unaufhörlich zurückwerfen mußte, weil sie ihm immer in die Stirn fiel und die Augen verdeckte. Außerdem trug er eine Brille. Die Nase, die von dem immerwährenden Schnupfen ganz rot war, hing krumm wie ein Adlerschnabel über dem Bart. Ich weiß noch, wie schrecklich ich vor ihm Angst hatte, als ich in die Schule kam. Teils weil er so streng und furchtbar aussah, teils auch, weil er streng war und eine ganz besondere Art hatte zu strafen. Er zog die Jungens am Haar, und er rupfte sie nicht wie andere Menschen, sondern er wählte ein kleines Büschelchen dicht am Ohr aus. Das wickelte er um den Finger, und dann schüttelte er einen, daß man hätte schreien können wie verrückt. Ganz ruhig stand er da und schüttelte – dann ließ er einen Augenblick los und redete mit erhobener Hand und barscher, zitternder Stimme Worte der Ermahnung. Und wenn er fand, daß das Vergehen noch mehr Strafe verdiente, packte er den Haarwisch noch einmal; dann ging er grimmig, das mächtige Haar schüttelnd, wieder aufs Katheder zurück. Dort saß er dann in dem gelbgebeizten Lehnsessel, den er beständig schaukelte, und stemmte die Füße gegen den Tisch, so daß wir Jungens seinen Kopf mit der krummen Nase und dem Bart sozusagen immer von Stiefelschäften eingerahmt sahen.«

Steinert lachte bei der Erinnerung und fuhr fort:

»Aber hinter diesem Äußern steckte das gute Herz eines Kindes und die Gerechtigkeit eines Mannes. Je mehr wir den Alten verstehen lernten, desto mehr schätzten wir ihn. Wir verstanden seine unbestechliche Wahrheitsliebe und Ehrlichkeit, sein großes Kindergemüt, besser vielleicht als man glauben sollte, und wenn er einmal in Sonntagslaune war und mit seinen Jungens Spaß machte, das war ein Fest für die ganze Klasse. Aber auch noch in anderer Weise lernten wir ihn verstehen. Das kam durch seinen kleinen Jungen, der, als wir in der fünften Klasse waren, in die Abteilung für Anfänger kam. Es war ein kleiner, blasser, buckliger Kerl mit guten Augen und stillem Wesen. Mittags war er eine halbe Stunde vor uns Älteren fertig; wenn es noch eine Viertelstunde bis Schulschluß war, kam er herein, lächelte uns Große schüchtern an und setzte sich auf eine Bank bei der Tür. Er sagte kein Wort zu dem Alten. Er war jedenfalls grade so strenge gehalten wie wir. Aber wir sahen wohl, wie er und der Alte Blicke miteinander wechselten, wie des Alten Augen leuchteten und wie er in seinen Bart lächelte. Wenn er dann den großen Pelz umnahm, und die Mütze aufsetzte, erwartete ihn der Junge unten am Tor, steckte seine schmale kleine Hand in die des Vaters und trottelte mit, so gut er konnte. Denn der Alte nahm große, stete Schritte, ganz als ginge er über einen Acker.

Daran war er übrigens auch gewöhnt. Im Sommer war er Landmann. Eine Meile vor Gammelby lag sein kleiner Besitz, Runnarby. Seine Frau hatte ihm den in die Ehe gebracht. Ich weiß, er heiratete erst spät, und ich kann mir gut vorstellen, so wie der ganze Mann war, muß er aus reiner Schüchternheit so lange unverheiratet geblieben sein. Als dann eine wohlhabende Dame aus guter Familie ihn, der aussah wie ein alter Bär und nichts war als ein steifbeiniger Schulfuchs, tatsächlich heiraten wollte, da muß das den Mann mit einer unendlichen Dankbarkeit erfüllt haben. Alles kam spät für den alten Björken. Die Ehe, der Wohlstand und auch das Kind. Ich glaube, die Gatten hatten über zehn Jahre darauf gewartet. Als es dann kam, war es um so willkommener, und eben weil er so lange auf alles hatte warten müssen, lebte der Alte in einer immerwährenden Dankbarkeit für alles, was ihm das Leben geschenkt hatte: Wohlstand, Frau und Kind.

Sogar wir Jungens, oder wenigstens die besten unter uns, verstanden das. Es war ein altmodischer Mensch, der Alte, ein Original inmitten der neuen Zeit, die um ihn emporzusprießen begann. Darum fiel es uns auch gar nicht ein, ihn Doktor zu nennen wie die andern jungen Lehrer; sondern wir nannten ihn ›Magister‹. Aber wir gaben unserem Magister einen Ehrenplatz in unsern Herzen, und als die Zeit herankam, da er und wir uns trennen mußten, fühlten wir die Leere schon im voraus, obgleich wir uns darauf freuten, die fünfte Klasse zu verlassen und uns Gymnasiasten zu nennen, wie das in Gammelby so Sitte war.«

Steinert machte eine Pause, und Tora fragte:

»Hast du ihn seitdem nicht wieder gesehen?«

»Mehr als einmal«, antwortete er. »Wir haben sogar korrespondiert, und ich schreibe ihm noch jetzt ab und zu, obwohl der Briefwechsel in letzter Zeit, wie alles andere, darniederliegt. Der Tag unserer Trennung in der Schule wurde übrigens für ihn und uns zu einem denkwürdigen. Das Examen war auf zwei aufeinander folgende Tage verteilt, und schon am ersten Tag verbreitete sich das Gerücht, des Magisters kleiner Junge sei gefährlich krank. Der Magister selber sah den ganzen Tag ernst und gedrückt aus, und als die Glocke läutete, ging er gebückt und einsam mit raschen Schritten die Straße hinauf. Am nächsten Tag erfuhren wir, daß der Kleine in der Nacht gestorben war. Wir alle waren gespannt, ob der Magister kommen würde. Aber der Magister war ein altmodischer, strenger Mann, der die Pflicht über alles setzte. Mit dem Glockenschlag ging er den gewohnten Weg aufs Katheder. Aber als er uns dann das Zeichen gab, setzten wir uns nicht, wie sonst. Wir blieben alle stehen, wie beim Eintritt des Lehrers. Wir wollten ihm doch so gern irgendwie zeigen, was uns bewegte. Und der Alte verstand uns; mit einer halberstickten, sonderbaren Stimme, die uns beklemmte sagte er: ›Dank' euch, Jungens, danke!‹ Und damit fuhr er im Examen fort, und als es vorüber war, nahm er zum letztenmal Abschied von uns und ging. Der Alte, der ist meine schönste Schulerinnerung!«

»Du sagst, du habest ihn später noch gesehen?« flocht Tora wieder ein.

»Einmal ist mir noch ganz besonders in Erinnerung«, entgegnete Steinert. »Die alte Klasse – seine Klasse, zu der ich gehörte – hatte Maturitas gemacht; und natürlich waren das nachher sehr vergnügte Tage. Der Magister war überhaupt nicht mehr an der Schule. Seit dem Tod des Kleinen war er nicht mehr der Alte. Er ging den Menschen aus dem Weg – noch mehr als früher; ich glaube, er grübelte nur immer darüber nach, warum dies Unglück gerade ihn getroffen hatte, wodurch er es verschuldet, und ähnliches. Er ging ab, zog nach Runnarby hinaus und teilte dort seine Zeit zwischen der Landwirtschaft und dem Nachdenken über die Rätsel des Lebens. Viele wunderliche Geschichten über sein Leben dort hat man mir erzählt. Das Gut lag ziemlich nah, und so mieteten wir neugebackenen Studenten eines schönen Junitags gleich nach dem Examen einen Kremser und fuhren hinaus. Sieben Stück waren wir, die bei dem Magister in die Schule gegangen waren und uns gut mit ihm gestanden hatten. Es war ein fröhliches Zusammensein – der Punsch und die Reden strömten nur so. Der Alte war wie verjüngt. Er war mild und weich und gut und dankte uns sozusagen den ganzen Abend lang. ›Großes verlor ich, und Großes ward mein‹ – – wie es von Terje Vigen heißt. So, glaub' ich, war ihm damals zumute. Als wir wegfuhren, lief er noch auf einem kleinen Weg quer über die Wiesen, um uns ein letztes Lebewohl zuzuwinken. Ich sehe ihn noch, wie er da sprang – das graue, dichte Haar, das um ihn her flog, und den großen schwarzen Hut, den er zum Abschied schwenkte. Seither hat er mich ein paarmal aufgefordert, ihn zu besuchen. Es ist aber nie etwas daraus geworden. Nicht einmal damals, als ich soviel reiste.«

»Wenn du jetzt einmal hingingst?« sagte Tora.

Steinert schüttelte den Kopf.

»Das ist unmöglich, das weißt du doch!«

Tora schwieg; aber sie ließ den Gedanken nicht fallen. Plötzlich sagte sie:

»Wenn du von andern sprichst, da hast du einen so guten, klaren Blick. Wie kommt es, daß du nie so klar siehst, wo es sich um deine Nächsten handelt?«

Kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, so bereute sie sie auch schon. Wie sie auf Steinert wirkten, darüber war sie sich nicht klar. Er schien ruhig und äußerlich ganz unberührt. »Darüber hab' ich nie nachgedacht«, sagte er nur. Erst eine ganze Weile später, als sie schon lange über andere Dinge gesprochen hatten und Tora schon anfing zu hoffen, ihre unvorsichtigen Worte seien unbemerkt an ihm abgeglitten, sagte er, als habe er die ganze Zeit an nichts anderes gedacht: »In dem, was um mich her ist, sehen wir beide vielleicht nicht so klar – du nicht und ich nicht.«

Die Worte klangen fast ein bißchen scharf; aber der Blick, der sie begleitete, war freundlich. Und Tora hütete sich wohl, das Gespräch weiter, dem gefährlichen Punkt näher, zu führen.

 


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