Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Zwölftes Kapitel

Wie ein Traum erschien es Oskar Steinert, daß er sich hatte entschließen können, zu reisen. Im Innersten war er Tora dankbar, daß sie ihn, fast gegen seinen eigenen Willen, dazu gezwungen hatte. Da ist die Heimat seiner Kindheit, die er wieder sieht, die kleine Stiftsstadt, die anfängt, groß zu werden, die Straßen, in denen er seine Gassenbubenstreiche verübte, die alten Bäume um den Dom, unter denen er einst seine Knabenträume träumte und sich danach sehnte, ein Mann zu sein. Lang, lang ist's her. Alles, was geschehen ist, scheint ihm wie ein einziger, zusammenhängender Traum, aus dem er nicht weiß, wann er erwachen wird. Ihm wird ganz weich ums Herz bei all den Erinnerungen; er wandert durch die Straßen und muß sich Gewalt antun, um unbewegt und ruhig zu erscheinen. Die Vorübergehenden sehen den Fremden neugierig an, der da an allen möglichen Plätzen stehen bleibt und sich umschaut . . .

Ein paar Stunden später sitzt er in dem einfachen Stübchen des Magisters mit dem alten Ledersofa, dem vielgebrauchten Schreibtisch aus Birkenholz, den Pfeifen an der Wand und dem kleinen Knabenbildnis über dem Sofa. Der Alte sitzt in der Sofaecke. Er ist sich so gleich geblieben, nur ein bißchen kleiner als früher, als hätte ihn das Alter zusammengedrückt. Steinert fühlt, wie ihm etwas vom Respekt des Schulknaben wiederkehrt, während er so in das bärtige Gesicht schaut mit den Augen, die er jetzt so viel besser versteht als einst. Der Alte ist ganz aufgeregt vor Freude über den Besuch und wiederholt das unaufhörlich. Seine Gattin, eine kleine, brünette Frau mit guten, freundlichen Augen und feinem Wesen geht ab und zu, bleibt eine Weile im Zimmer, um dem Gespräch zuzuhören, verschwindet dann wieder in der Küche –. Eben hat Steinert zu reden aufgehört; er hat erzählt, was er von seinem Leben erzählen kann und will; jetzt wendet er sich zu dem Alten und sagt:

»Und du hast die ganze Zeit hier verbracht?«

»Ja«, erwidert der Alte. »Freilich. Es wäre schon nett, wenn man auch manchmal hinaus käme. Aber es will sich nie schicken.«

Er schweigt eine Weile, wie um nachzudenken, nimmt eine gewaltige Prise aus der Silberdose und wischt sich mit einem riesigen rotgemusterten Taschentuch den Bart. Seine Augen hinter der Brille funkeln; er hustet, als müßte er sich besinnen. Als seine Frau zur Tür hinaus ist, sagt er leise, als fürchte er, sie könne ihn hören: »Es ist ja alles so ganz anders geworden, als der Kleine starb, siehst du. Wenn er noch am Leben wäre, so wär' er jetzt schon ein ganz alter Mann. Ja, ja.«

Die Erinnerung sitzt tief in ihm. An der Stimme, der Miene, dem ganzen Gesichtsausdruck sieht Steinert, wie lebendig sie ist.

»Wie ist es eigentlich gekommen? Woran ist er denn gestorben?« fragt der jüngere Mann.

Wieder blickte der Magister nach der Tür, als fürchte er, man könne seine Worte draußen hören; und mit derselben leisen Stimme erwidert er:

»Wir waren über den Sonntag hier herausgegangen. Den letzten Sonntag vor dem Semesterschluß. Er ging den ganzen Weg zu Fuß, jawohl. Er war kräftig für seine Jahre. Und er freute sich so, wenn er mit mir durfte. Nie war er so vergnügt, wie da. Meine Frau sagte immer, ich verwöhne ihn. Manchmal war sie fast eifersüchtig auf das Kind. Ja, ja.«

Ein freundliches, humoristisches Lächeln glänzte durch den strengen grauen Bart, wie ein Sonnenstrahl durch dicke Wolken.

»Es ist ja alles vorüber jetzt«, fuhr er fort. »Überstanden, kann ich wohl sagen. Aber ich möchte nicht, daß meine Frau es hört, daß wir vom Kleinen sprechen. Ich glaube, ich habe schon zu viel von ihm gesprochen, trotzdem es jetzt schon so lang her ist. Ich sehe ja kein Unrecht dabei. Aber ich denke doch manchmal, ich hab' ihn zu lieb gehabt, darum hat Gott ihn mir genommen. Man darf über solche Dinge nicht zu viel sprechen. Nein, nein. Man darf's wohl nicht.«

Der Magister saß im Sofa, das Kinn in die Hand gestützt, als rede er mit sich selber, während ihm die Erinnerungen nach und nach auftauchten. Als geniere ihn die Brille dabei, schob er sie hinauf auf die Stirn, so daß seine klaren Augen mit dem scheuen Kinderblick frei darunter hervorleuchteten.

»Ich bin ein bißchen einsam geworden hier«, fuhr er fort. »Darüber sprechen wir nachher noch. Das letztemal, als der Kleine und ich hier waren, das vergess' ich nie. Er war so froh, daß die Schule aus war und daß er ganz allein mit mir hier war. Immer waren wir am allervergnügtesten, wenn wir zwei ganz allein miteinander waren. Wir blieben über Nacht; er schlief in meinem Bett, und ich fühlte seinen kleinen, mageren Körper neben mir, beim Einschlafen und beim Aufwachen. Wahrscheinlich hat er sich da erkältet; und ein paar Tage darauf war er tot. Ja, ja.«

Der Alte hustet und bricht ab. Still gleitet die Frau ins Zimmer und setzt sich in den Lehnsessel an der Tür. An ihrer Miene sieht Steinert, daß sie gut weiß, worüber die beiden Männer gesprochen haben, und daß sie daran gewöhnt ist. Eine Weile hört man nichts als das Ticken der alten Wanduhr.

Langsam vergehen die Stunden; Steinert genießt die Ruhe. Er begreift, daß sein Besuch wie ein großes Ereignis ist in diesem Haus, eine seltene Unterbrechung im stillen Alltagsleben dieser zwei Menschen. Tagelang hat man an seine Ankunft gedacht, ehe er kam. Darum ist auch alles so fein und so rein. Der Fußboden glänzt, die bunten Läufer sehen aus wie neu. Weiße Gardinen hängen vor den Fenstern, blank schimmern die Mahagonimöbel, das Silber, Kupfer und Porzellan. Der Tisch ist reich besetzt; im Gastzimmer, das ihn erwartet, duftet es von frischem Tannenreisig, das Bett steht so rein und licht mit der bunten Seidendecke unter den weißen Vorhängen, und der alte grüne Kachelofen glänzt so frisch gewaschen an der geblümten Tapete. Steinert glaubt zu sehen, wie die zwei Alten hier auf ihn gewartet, alles besprochen, alles geordnet, ihn mit einer ganzen Atmosphäre von Freundlichkeit umgeben haben, noch ehe er da war. Und all das fühlt er, all diese Freundlichkeit umgibt ihn so wohltuend, und der Gegensatz zwischen seinem eigenen Leben und dem, das er hier sieht, beschäftigt seine Gedanken, ohne doch seine Ruhe zu stören. Er fährt ordentlich zusammen, wie bei einer Erinnerung, die nicht in diese traulichen Heimatgefühle paßt, als die alte Dame ihn fragt:

»Lebt Ihr Vater noch, Herr Rechtsanwalt?«

»Nein«, erwidert er. »Er ist tot.«

»Und auch meine Mutter«, fügt er hinzu, wie um einer zweiten Frage vorzubeugen.

»Ja, ja«, sagt der Magister. »Bald sind überhaupt bloß noch wir Alten da.«

Oskar Steinert denkt an seine Heimat. Ihn durchfährt der Gedanke, wie wenig er dereinst Vater und Mutter gegeben hat, nachdem er von ihnen gegangen war. Ihm ist fast, als stehe er den beiden Alten hier, die ihm doch im Grunde so fremd sind, näher, als den eigenen Eltern, die er überhaupt kaum gekannt hat. »Man wählt sich seine Eltern nicht«, denkt er; und zugleich merkt er, wie wenig dieser kalte Gedanke zu der Umgebung paßt, in der er sich hier befindet.

Wieder verschwindet die alte Frau, lautlos, wie sie gekommen war, und wieder fängt der Alte zu sprechen an.

»Viel ist nicht mehr darüber zu sagen«, meint er. »Aber man spricht ja doch am liebsten von dem, woran man immer denkt.«

Später gehen der Magister und Oskar Steinert miteinander aus, sehen sich die Ställe an, gehen durch die Äcker, wo der Roggen schon anfängt gelb zu werden und das Heu gehäuft ist. Steinert bemerkt, welch ein herzliches, vertrauliches Verhältnis zwischen dem Alten und den Leuten herrscht. Als hätte er seine Gedanken erraten, sagt der Magister:

»Ich bin gewiß recht streng gewesen gegen meine Jungens. Und ich hab' es manchmal bereut, wie so manches andere. Aber es war nie bös gemeint. Hier, unter meinen Leuten, könnt' ich nicht so sein. Ich könnte ja nicht leben ohne sie.«

Es ist eine schöne Gegend; der Juliabend ist weich und mild. Birkenhage wechseln mit Walddunkel, mitten im Saatfeld heben sich Sträuße alter Eichen, fern, wo die Sonne untergeht, zittern goldrot die Blätter der Espen gegen den Himmel . . . Auf einem Umweg sind sie wieder zu dem alten Garten gelangt, über dem sich des Hauses gewölbtes Ziegeldach erhebt. Die Beete sind frisch geharkt, die Bäume schimmern von unreifen Früchten. In der einen Ecke ist ein Punkt, von dem aus man über Wiesen und Äcker hinausschaut; drunten windet sich der Fluß wie ein schmales, lichtes Band. Eine alte Linde steht da, von einer grünen Bank umschlossen. Sie setzen sich, und der Alte sagt: »Das ist mein Lieblingsplatz. Jeden Abend sitze ich hier, so oft ich kann. Meistens allein. Frederika wird das Gehen ein bißchen schwer. Schön ist's hier!«

Er blickt hinaus übers Land. Eine breite, lichte Wolkenwand türmt sich über der Sonne, gleitet in Purpurstreifen über das Himmelsgewölbe und löst sich hoch oben in kleine, wollige Wolken auf, die frei in der klaren Luft zu hängen scheinen.

»Wir sind recht einsam geworden«, fuhr der Alte fort. Und, indem er seinen Gast mit scheuer Frage ansah, fügte er hinzu: »Vielleicht hast du davon gehört, was ich in den letzten Jahren hier getrieben habe?«

»Nein«, erwidert Steinert ein bißchen erstaunt.

Die Stimme des Alten ist ganz feierlich geworden; und dazu sieht er verlegen aus, wie alte Leute oft, wenn sie die Kritik der jungen fürchten.

Nachdenklich nickend fährt er fort: »Das ist mir recht. Dann kann ich dir's selber erzählen. Weißt du, daß der Boden hier gar nicht mehr mir gehört?«

Steinert fährt zusammen. Er versteht nicht. Der Alte sieht beglückt und doch verlegen aus.

»Das ist nämlich so«, fährt er mit ein bißchen zitternder Stimme fort. »Ich habe ihn verschenkt – an die, die hier arbeiten. Und sie bezahlen mir jährlich eine Summe, die für mich und meine Frau reicht.«

»Und später – wenn du einmal tot bist?« sagt Steinert.

»Dann gehört das Grundstück ihnen ganz. Sie können es untereinander teilen. Ich bin eben auch ein bißchen Sozialist, auf meine Weise.«

Die Augen des Alten glänzen vor Zufriedenheit, als wäre er froh, daß er jetzt das Ärgste hinter sich hat. Und da die Kritik, vor der er sich vielleicht gefürchtet hat, ausbleibt, fährt er, zu seinem Zuhörer gewandt, fort: »Ich habe mir immer so meine eigenen Gedanken gemacht, weißt du, darüber, wie wir Menschen eigentlich miteinander leben. So manches, finde ich, ist da nicht in Ordnung.«

Die milden Augen glühen in einer sonderbaren Schärfe auf. Mit gesenkter Stimme fährt er fort:

»Ich habe ja auch mancherlei gelesen, und schon lange war es mein Gedanke: wenn jeder, der etwas besitzt, teilen wollte, so wäre die Welt glücklicher und besser. Im Anfang sagte ich mir selber: wenn du ganz allein das deine verschenkst – wer dankt es dir? Ich dachte lange, lange nach. Ich lebte hier, auf meinem Besitz, und nahm, was mein war. Sparsam bin ich immer gewesen; und als ich da immerzu auf die hohe Kante legte, fragte ich mich schließlich: Für wen sammelst du eigentlich? Meine Frau und die Verwandten haben ja genug, und mehr als genug. Eine Zeitlang dachte ich, ich sammelte für meinen Sohn, und es brauchte eine gute Weile, ehe ich einsah, daß das nur eine Phrase war, daß ich im Grunde eigentlich nur für mich selber sammelte. Ich merkte, siehst du, daß mir das Geld lieb ward; und das ist gefährlich. Dann kam der Tag, an dem der Herr den Jungen von uns nahm.«

Der Alte bricht kurz ab; er zieht das bunte Taschentuch heraus und schneuzt sich mit einer Heftigkeit, die Steinert ein Lächeln ablockt, weil sie ihn an die Schulzeit erinnert. Der Magister merkt das nicht; er fährt in bewegtem Tone fort:

»Meine Frau dachte nicht so wie ich. Es hat allerlei Meinungsverschiedenheiten gegeben zwischen uns. Aber als wir dann ganz allein waren, da war es, als kämen unsere Gedanken sich näher. Sie gab nach, Zoll für Zoll, und jetzt klagt sie nicht mehr.«

Oskar Steinert hört dieser Beichte eines Menschen im Kampf mit sich selber zu, und keiner von all den Einwänden, mit denen er sich sonst auf die Theorien und Handlungen der Menschen stürzt, erwacht jetzt in ihm. Er sieht nur den Alten an, und mit einemmal geht es ihm auf, daß eine Gewissenszartheit, wie man sie sonst nur in der Einbildung antrifft, die Ursache zu allen Handlungen dieses Mannes sein muß. Gewissenhaft ist er gewesen, in seiner Strenge, als Vater, so gewissenhaft, daß er den Boden, den er trat, nicht sein eigen nennen mochte. Ganz eigentümlich widerspricht das strenge Aussehen dem schwärmerischen Glanz der Augen und den zitternden Lippen . . .

Der Alte blickt über die Felder hinaus und fährt fort: »Ich kann das alles jetzt so ruhig ansehen, weil es gar nicht mehr mir gehört. Aber ein bißchen einsam hat es uns schon gemacht. Den Herren der Umgegend paßte das, was ich tat, gar nicht recht, den Bauern noch weniger, und dem Pfarrer am allerwenigsten. Er predigte einmal gegen den Hochmut und stellte mich von der Kanzel aus so hin, daß jeder mich erkennen mußte.«

Der Alte lächelte bitter. Aber als bereue er sogar diese kleine Selbstverteidigung, fuhr er fort:

»Ich habe ja gewiß auch meine Fehler. Und hab' darum so etwas wohl auch ab und zu verdient. Und ich weiß wohl, daß all diese Gedanken viel schwächer waren in mir, solange der Kleine noch lebte. Ich hab' es seither oft gedacht – es war doch wunderbar, daß er sterben mußte, damit ich in mir selber zur Ruhe käme. Solange er lebte, war es, als hätt' ich alle Dankbarkeit vergessen. Alles, was mir gehörte, hatte ich doch von andern. Ich habe geerbt, und meine Frau hat geerbt. Und eigentlich konnte ich mich nie damit abfinden, daß das alles mein sein sollte. Ich dachte an das Wort: ›Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden. Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.‹ Aber solange der Kleine lebte, hatte das Wort keinen Sinn für mich. Ja, ja. So war's.«

Während sie langsam heimwärts wandern, sagt der Magister – und sein Gesicht wird barsch, wie auf dem Katheder, und doch auch lustig und frisch:

»Du glaubst, ich sei ein alter Narr, der sich da an Rätseln abmüht und noch glaubt, er tue damit was Gutes. Aber ich habe nicht anders können. Und getan ist getan.«

Als sie nach Hause kommen, ist der Abendtisch gedeckt; und an den Blicken, die die beiden Alten wechseln, sieht Steinert, daß Frau Björken ihren Mann kennt und weiß, wovon sie geredet haben. Früh gehen sie auseinander; Steinert sitzt noch lang wach in dem hellen Gastzimmer mit dem Apfelbaum vorm Fenster und denkt nach über diese persönliche Lösung der Armenfrage, auf die er hier so unvermutet gestoßen ist. Es packt ihn, wie einfach und frei von Eitelkeit, wie stark diese Tat ist, die sich da herausgearbeitet hat als Frucht eines Menschenlebens. Er erinnert sich, daß er von diesem Mann hat sprechen hören als einem Knicker, weil er sparsam war, als einem Original, weil er anders war als andere, als einem harten Menschen, weil er streng war in seinen Forderungen an andere und sich selbst. Und dennoch ist in ihm keine Ironie gegen die Welt. Ihr Widerstand erscheint ihm notwendig, damit die Tat sich so einfach schön davon abhebt, wie sie in Wirklichkeit ist.

Drei Tage bleibt er; als er wieder heimfährt, ist ihm, als wäre er lang fort gewesen. So unmerklich vergeht ihm die Zeit, so ausgefüllt ist ihm jede Stunde vom Kampf dieser beiden Menschen gegen das Leben, gegen sich selbst und gegen einander. Die Bücherständer sind ganz voll von Büchern; auf einem kleinen Tisch unter dem Pfeifenbrett liegen die Bibel und Henry George nebeneinander. Auch Tolstoi ist da und Ibsens Brand und Übersetzungen der englischen Philosophen; moderne deutsche Theologie hat ihren Weg hierher gefunden und vieles aus der schwedischen Literatur, altes und neues. Der Magister zeigt ihm das alles; er spricht gern davon. Vor dem Gast, der aus der Hauptstadt kommt und draußen in der großen Welt lebt, setzt sich der Alte gleichsam bescheiden auf die Schulbank und will, der einstige Schüler soll ihn jetzt über vieles belehren, was der alte Lehrer selbst nicht mehr zu verstehen glaubt.

Denn kritisieren – das tut der Magister nicht; er wählt nur einfach aus, was er für sich gebrauchen kann. Darum liegt auch sein Henry George neben seiner Bibel. Und Oskar Steinert wird wieder zum Kind und freut sich, daß eins der Lebensrätsel hier gelöst worden ist, gelöst durch die Tat eines einsamen, unbekannten Mannes, der sein ganzes Leben ausgefüllt hat mit einem einzigen, großen, auf jene Frömmigkeit des Kindersinns gegründeten Gedanken, die die Helden und Märtyrer schafft. Als er endlich abreist, stehen die zwei Alten auf der Haustreppe; und als der zwischen Linden und Obstbäumen eingebettete Garten so nach und nach verschwindet, hat Steinert wieder das Gefühl, als sei das Ganze nur ein Traum gewesen, der ihn gefangen genommen, als er den Zug verließ und durch die Straßen seiner Kindheit wanderte . . . Ach – wie viel gäbe er nicht für ein Alter, so abgeklärt, so erinnerungsreich, wie dies!

Erst im Zug findet er das alte, aufreizende Gefühl ewiger Unruhe wieder, an das er sich gewöhnt hat, wie Menschen sich an alles, und sei's das Schlimmste, gewöhnen. Und als er endlich wieder daheim ist, vermißt er noch lang, lang die Gemütsruhe, die er bei den zwei Alten gefunden hat . . . So vergeht der Sommer; je näher der Tag rückt, der ihn wieder in die alten Verhältnisse zurückführt, desto stärker fühlt Oskar Steinert, daß er diesem Tag, nach dem er sich doch so mächtig zu sehnen glaubte, mit geheimem Bangen entgegensieht. Keinem Menschen kann er das anvertrauen, mit niemand kann er darüber reden . . . Am allerwenigsten mit Tora Ljung. Bei ihr fühlt er jetzt die Kritik seiner Frau gegenüber, diese Kritik, die ihm früher ganz entgangen ist; und dies Gefühl fesselt ihm die Zunge mehr als alles andere. Er ist ihr zu großem Dank verpflichtet; aber wenn er davon anfangen will, bricht Tora immer ab. Und als der Herbst kommt, trennen sich die beiden wie alte Geschwister, die das Leben zusammengeführt hat, die ruhig wieder auseinandergehen und das ganz natürlich finden.

 


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