Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Achtzehntes Kapitel

In einem Oktoberabend saß Oskar Steinert einsam in seinem Zimmer am Narvaweg; er war mit dem Lesen eines Briefes beschäftigt. Der Brief war dick und schwer, auf großen Quartbogen in einer klaren, kräftigen Frauenhandschrift geschrieben; die Briefmarken – es waren viele – trugen den italienischen Poststempel. Steinert hatte Toras Brief auf seinem Bureau erhalten und ihn, weil er nicht Zeit hatte, ihn zu lesen, in die Tasche gesteckt wie etwas, das man gern in Ruhe genießen möchte. Jetzt beendete er die Lektüre und begann dann langsam im Zimmer auf und ab zu gehen.

Er war heute in einer seltsam nervösen Unruhe. Die Ursache war ein Gespräch, das er ganz zufällig mit seinem Sohn gehabt hatte. Robin war zu einem sechzehnjährigen Jüngling erwachsen; er war für sein Alter groß, mit einem feinen, klugen Gesicht, dabei schwach – in seinem ganzen Wesen ein recht frühreifer junger Mensch. Steinert hatte den Sohn nie so recht verstanden. Es schien ihm, als hätte dieser etwas von dem gesellschaftskriecherischen, geschmeidigen, kaltblütigen Wesen, das er selber über alles in der Welt verabscheute. Mehr als einmal hatte er es sich voller Mißmut gesagt: »Der Junge ist dazu geschaffen, Karriere zu machen!« Und in diesen Worten lag sein ganzes Urteil: sein Sohn gehörte zu denen, die es mit den Mitteln nicht so besonders genau nahmen . . .

Frau Ellen war zu Tisch nicht daheim gewesen. »Die gnädige Frau ist ausgegangen«, hatte das Mädchen gesagt, und der Rechtsanwalt hatte diesem Umstand keinerlei Bedeutung zugemessen. Zufällig aber fielen im Verlauf des Mittagessens ein paar Worte, die Steinerts Aufmerksamkeit ganz besonders erregten. Ebba war es, die sie sagte. »Mama wollte zum Rektor«, sagte sie. Und während ihr die Worte entschlüpften, wurde sie rot und schlug die Augen nieder. Der einzige, der seine Fassung nicht verlor, war Robin.

»Mama wollte mit dem Rektor sprechen, ob ich vom Turnen dispensiert werden könnte«, sagte er mit einer Stimme, die sich so deutlich wie möglich bemühte, glaubhaft zu klingen.

»Warum denn?«

»Ich bin im Latein zurück. Und sonst komm' ich überhaupt nicht mit.«

Steinert begriff augenblicklich, daß der Junge log. Und er beschloß ebenso rasch, sich in dieser Sache Klarheit zu verschaffen. Er sagte gar nichts. Denn er sah ein, wenn der Knabe gelogen hatte, so war die Mutter seine Mitschuldige. Und um die Mutter nicht vor dem Kind bloßzustellen, schwieg er. Schweigend beendete er seine Mahlzeit, ging ohne ein weiteres Wort in sein Zimmer und schloß die Tür hinter sich.

Es lag wie ein Gewitter in der Luft zwischen diesen Dreien, den Kindern, die stumm, des Vaters Gedanken durchschauend, da saßen, und dem Vater, der, das Schlimmste ahnend, fortging und die Tür hinter sich zuzog, ohne Heftigkeit, ohne sichtbaren Zorn. Ein Glück für Steinert, daß er das Gespräch nicht hörte, das die Kinder gleich darauf, als sie allein waren, miteinander führten, die lebhafte, blonde, raschäugige, vierzehnjährige Ebba, erfahren, frühreif – und der zwei Jahre ältere Bruder, der sich mit seinen sechzehn Jahren auf den Weltmann hinausspielte. Es war die Mutter, die aus dem Mund der Kinder sprach, die Mutter, so wie sie geworden war in den letzten schweren Jahren ihrer Ehe, die Frau Ellen in eine weltkluge, unruhige Dame verwandelt hatten, die vor allem immer Anstachelung suchte, im Verkehr mit andern, im Interesse für Fremde, in eigenem und fremdem Unglück, ja selbst in der Mutterschaft. Augenscheinlich wieder ganz gesund, hatte sie die Periode ihrer Krankheit weit hinter sich gelassen; sie war in Vergessenheit geraten, man sprach überhaupt nicht mehr davon. Und doch hatte diese Krankheit, die so gänzlich gehoben schien, einen Keim hinterlassen, und dieser Keim war gewachsen im Erdreich der Überkultur, die die moderne Frau, wenn der Mann ihr alles zu geben vermag, von jeder Arbeit befreit und entbindet. In der schwülen Luft, die die Entstehung aller offenen und verborgenen Krankheitserscheinungen der Gegenwart begünstigt, entwickelte sich dieser Seelenzustand, und ihre Verantwortungslosigkeit war jetzt, da sie frisch und gesund im Leben stand, genau dieselbe, wie damals, als sie ans Bett gefesselt und von fixen Ideen belastet war, die sie über die Grenzen des Normalen hinaustrugen. Der Unterschied war bloß der, daß die weiche Passivität, die sie früher niedergezogen und ihr das Aussehen gegeben hatte, als schmiege sie sich dicht an den geliebten Mann an und schenke ihm dadurch die ganze Süße, die der Mensch empfindet, wenn er eines Geliebten Last tragen darf, in einen nervösen Tätigkeitsdrang umgeschlagen war, der sie durchs Leben hetzte, von Wohltätigkeitsbasaren zu Frauenvereinen, vom Verein zum Vergnügen, vom Vergnügen wieder nach Hause. Wohin Frau Ellen kam, verbreitete sie Unruhe um sich, weckte ein Interesse für ihre Person, setzte ihre Wünsche durch. Jeder Widerstand war ihr eine persönliche Kränkung, und um ihn zu überwinden konnte sie eine Tätigkeit entfalten, die fast aussah wie planmäßige Energie. Sie gab und nahm Vertrauen, sie spann die Menschen, die sie gewonnen hatte, Männer wie Frauen, in ein geheimnisvolles Netz ein, daß sie mit ihren Augen sahen, mit ihren Worten redeten, mit ihren Gefühlen fühlten. Den Kindern war sie eine Mutter, die alle ihre Wünsche erriet, ihren Fehlern schmeichelte, sie durch die grenzenlose Nachgiebigkeit, die sie zeigte, gewann – vor allem ihren Schwächen und schlimmen Neigungen gegenüber. Bei alledem galt sie als eine gute Erzieherin; denn die Kinder waren so dressiert, daß sie sich unter Fremden wohl sehen lassen konnten. Ganz besonders aber gewann sie sie dadurch, daß sie, vorsichtig und geschmeidig, mit einer Offenherzigkeit ohne Grenzen mit ihnen über den Vater und die Verhältnisse sprach, die dereinst die Ehegatten auseinander gerissen hatten. Auf diese Weise herrschte sie unumschränkt im Hause. Es war, als sei in ihr eine neue Lebenskraft erwacht an dem Tage, als sie ihr Herz vor dem einst geliebten Mann verschloß, und als wäre sie erst völlig Herr über sich selbst und ihre Kräfte seit jener Nacht, in der sie die Konsequenzen dessen zog, was sie auf diese Weise begonnen hatte, und die Tür hinter sich schloß, so wie sie einst ihr Herz geschlossen hatte.

In seinem Zimmer ging mittlerweile Oskar Steinert auf und ab. Wie ein Fremdling kam er sich vor. Er hatte es jetzt so eingerichtet, daß er zwei Zimmer von der Wohnung ganz absondern und zwischen dem äußeren und dem Eßzimmer eine Doppeltür hatte anbringen lassen. Hier lebte er nun sein Leben ganz für sich; nur zu den Mahlzeiten ging er hinüber, wenn er überhaupt einmal daheim war, oder zu Gelegenheiten, bei denen die Anwesenheit eines Familienoberhauptes unerläßlich war. Aber er fühlte sich als Fremdling in dieser neuen Wohnung, in der er keine Spur von Glück, wohl aber viel Leid erlebt hatte. Und er bemühte sich, so wenig als möglich daran zu denken, was hinter den beiden geschlossenen Türen, die ihn von dem trennten, was die Welt »seine Familie« nannte, vor sich ging.

Während er, die Heimkehr seiner Frau erwartend, in seinem Zimmer auf und ab schritt, nahm er aufs neue den Brief hervor und suchte darin. Ein ganz bestimmter Teil dieses Briefes war es, den er noch einmal lesen wollte. Er überschlug den Anfang, der die Eindrücke aus der Wunderstadt am Arno, Berichte über den im Gebirge verlebten Sommer, Gedanken, die das Zusammenleben mit der alten Kunst und ihren großen Menschen geweckt hatte, enthielt. Es war ein langer Brief, an dem die Schreiberin lange Zeit, da und dort, geschrieben und den sie lange nicht abgeschickt hatte.

Endlich fand er, was er suchte. Genau jedes Wort überlegend, las er:

»Eins ist in meinem Leben, was ich Dir nie habe sagen können – nicht weil Du ein Mann bist – weibliche Freunde habe ich nie gehabt – sondern weil ich einfach die Worte nicht über meine Lippen brachte. Wenn ich Dir das jetzt schreibe, so ist es darum, weil ich es Dir doch gern sagen möchte und weiß, mündlich kann ich's nicht. Wenigstens nicht so, wie ich möchte. Und wenn ich im Frühjahr wiederkomme, möchte ich, daß es gesagt ist.

Was ich Dir jetzt erzählen will, fängt damit an, daß ich vorigen Herbst oft einem Jungen begegnete, der ganz außergewöhnlich ärmlich aussah; er verkaufte Zeitungen. Es war ein kleines, blauäugiges Kerlchen mit einem erschreckten, scheuen Blick – sehr dünn gekleidet. Ich begegnete ihm meist, wenn ich ab und zu durch die Döbelnstraße nach der Trambahn ging. Anfangs kaufte ich ihm bloß eine Zeitung ab. Aber nach und nach wurden wir miteinander bekannt, und er erzählte mir von daheim. Schrecklich war, was er da erzählte. Hunger, Kälte, Schmutz, Schande! Er hatte große Angst vor der Polizei. Er sei zu klein eigentlich und dürfte noch nicht auf die Straße geschickt werden. Erst fünf Jahre alt.

Ich konnte den Kleinen gar nicht mehr vergessen. Eines Tages ging ich mit ihm heim und sah, daß alles, was er mir erzählt hatte, wirklich wahr war. Ich ging dann öfter hin, und die Leute ließen mich, weil ich ihnen immer etwas gab. Aber ich merkte wohl, sehr willkommen war ich nicht. Ein Mißtrauen blickte mich an aus ihren Augen, und mehr als das – Haß. Ich war keine von ihnen.

Ich weiß, das, was ich dann tat, war unklug. Aber so wie ich damals fühlte, konnte ich gar nicht anders. Nur wer es weiß, wie die Einsamkeit drückt, kann mich verstehen, und wer es hört, müßte ein Weib sein, um es ganz zu fassen. Wie ich so unnütz und so einsam geworden bin, wie ich es war, das gehört ja nicht zur Sache. Meine Geschichte ist ja nicht anders als die so vieler anderer. Jedenfalls war das, was ich durchgemacht hatte, mein Eigen – und das zwang mich auch, so zu handeln, wie ich's tat. Eines Tages, als ich wußte, der Mann war daheim, ging ich hin zu den Leuten und fragte, ob sie mir den Jungen abtreten wollten – ohne Vorbehalt und für immer. Ich versprach, ihn zu adoptieren. Ich versprach ihnen auch Geld. Und weißt Du, was der Mann mir antwortete? »Alles habt ihr uns genommen,« sagte er, »alles habt ihr für euch genommen. Habt ihr nicht genug an euren Kindern, ihr Reichen? Begehrt ihr auch noch das Recht, uns Armen die Kinder zu nehmen? Habt ihr nicht genug Spielsachen?« Er sagte noch mehr, Schlimmeres . . . Und ich konnte ihm nichts erwidern. Denn obgleich ich glaubte das Gute zu wollen, hatte er doch recht.

Aber mir war, als hätte ich ein einziges Kind gehabt und als wär' dies Kind gestorben. Monatelang trauerte ich um den Jungen; und als ich reiste, war es nur, um diese unvernünftige, unmögliche, verzehrende Trauer los zu werden. Als Du damals zu mir kamst – erinnerst Du Dich an jenen Abend? – war ich froh, als wäre mir was Glückliches geschehen oder müßt' es mir erst geschehen. Während ich mit Dir redete, sagte ich Worte, die ich jetzt nicht mehr weiß, über die Du Dich aber – das sah ich wohl – verwundertest. Du saßest vor mir und sahst mich an, als wolltest Du meine Gedanken erraten, und ich schwieg, weil ich eben nichts sagen konnte.

Aber in die Einsamkeit, aus der ich mich damals flüchtete, hätte ich nie mehr zurückkehren können. Das wußte und begriff ich gut, die ganze Zeit über. Wenn ich jetzt an meine Wohnung denke, bin ich froh, daß ich sie behalten, alles so gelassen habe, wie es ist. Dort habe ich einen wichtigen Teil meines Daseins verlebt, des Lebens, das für andere so unwichtig ist, und das für mich doch so viel bedeutet; denn ich sehne mich zurück, trotz all der Herrlichkeit, die mich hier umgibt. Hier ist's Herbst jetzt, Traubenzeit; und noch blühen die Rosen. Unter meinem Fenster fließt der Arno, zitternd vor Lichtfluten, wenn das Dunkel kommt, ich sehe die Hügel von Bellosguardos, den Palazzo Pitti und eine einsame Pinie, die schön und dunkel gegen den Himmel steht; die Dämmerung sinkt so leicht hier und so rasch, das Sterben muß leicht sein hier. Und doch hab ich Heimweh nach meinem Land, nach den paar Freunden, die ich habe, nach Dir und ein paar andern, nach allem, was sie daheim arbeiten, schreiben, malen, denken, nach dem wunderbaren Schneeland, wo der Winter so lang ist und der Sommer so kurz, nach allem, was ich selber träumte, hoffte, liebte, glaubte, wofür ich lebte dies ganze Leben lang, das so unbedeutend war und so reich ist jetzt.

Und weißt Du, warum ich das jetzt kann? Weißt Du, warum ich jetzt das Gefühl habe, als könne kein Zweifel, kein Druck mehr auf mich fallen, als wäre für mich der Tag gekommen, an dem das ganze Leben blüht? Das will ich Dir sagen: wenn ich heimkomme, komm ich nicht mehr allein. Was ich zu Hause einmal gesucht und nicht gefunden habe, was ich dort nicht ein zweitesmal mehr hätte suchen können, das hab' ich hier gefunden. Einen kleinen, braunen, schwarzäugigen Buben, der mir gehört. Ganz und gar mir. Keine Verwandten, keine Angehörigen, keinen Menschen, der mir meinen Platz streitig macht, niemand in der ganzen Welt! Grade wie ich!

Wie es zugegangen ist, das erzähle ich Dir ein andermal. Für heute schließe ich; denn einmal muß ja doch dieser Brief, der ein ganzes Buch geworden ist, fort. Bis zum Frühjahr bleibe ich noch hier und sehne mich heim, so wie ich mich früher oft hinaus gesehnt habe, und doch so ganz anders jetzt, da alles neu geworden ist für mich!«

Steinert schob den Brief auf dem Schreibtisch von sich und versank in Nachdenken. Ein Hauch von heller, starker und doch wehmütiger Lebenslust hatte ihn gestreift; zwischen der Stimmung, die diesen Brief diktiert hatte, und der, die ihn selber beherrschte, war ein Abstand – so groß, daß er sich ganz außerstande fühlte, die sonnige Freude, die ihn hier berührte, zu teilen. Eine Art Bitterkeit kam über ihn, wie wenn das neue Glück der Freundin ihn selber noch ärmer machte als zuvor, ihm etwas nähme, was er besessen, was er nie glaubte verlieren zu können, ihn noch einsamer zurückließe.

In diesem Augenblick hörte er draußen klingeln; er wußte, es war seine Frau, die heimkam. Er hörte ihre Schritte im Vorzimmer; sie klangen leicht und elastisch. Dann verstummten sie, und um ihn ward es still – eine Stille, die ihn beunruhigte, ihn zwang, zu lauschen.

Eine lange Weile verging. Dann hörte er dieselben Schritte wieder; diesmal klangen sie kurz und energisch. Sie näherten sich seiner Tür, und es klopfte. Steinert vermutete, seine Frau wolle dadurch ausdrücken, daß ihr Besuch rein formell und nur eine Zwangssache sei. Ein ironisches Lächeln glitt über sein Gesicht und machte, als die Tür geöffnet wurde, einem scharfen, forschenden Ausdruck Platz.

Frau Ellen sah erregt aus und atmete heftig.

»Ich war beim Rektor und habe alles in Ordnung gebracht«, sagte sie kurz. »Und in meiner Abwesenheit hast du die Kinder ausgefragt.«

Steinert war es augenblicklich klar, daß seine Frau so begann, um der Hauptfrage auszuweichen; und er begriff auch, daß er diesmal den Kampf aufnehmen mußte.

»Ist Robin vom Turnen dispensiert?« fragte er ironisch.

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

Die Worte kamen kalt, hochmütig und mit voller Sicherheit. Die Stirn unter dem blonden Haar zog sich zusammen, der kleine Mund lächelte kalt und spöttisch.

»Du verstehst mich sehr wohl«, erwiderte Steinert. »Es ist nicht das erste Mal heute, daß wir derartige Dinge besprechen. Du hast irgend etwas entdeckt, was ich nicht wissen soll, und weisest die Kinder an, mich zu belügen.«

»Du selber zwingst sie dazu.«

»Wie kannst du das sagen?«

»Ja, durch dein Fragen.«

»Ich habe nicht gefragt. Ein zufälliges Wort verriet sie. Und jetzt will ich wissen, was es ist. Daß es etwas Wichtiges sein muß, soviel habe ich begriffen. Als ich merkte, daß Robin die Unwahrheit sagte, hatte ich keine andere Wahl – ich mußte schweigen. Ich konnte dich doch nicht bloßstellen.«

»Das soll heißen, ich bringe den Kindern das Lügen bei?«

Steinert zuckte die Achseln. Er konnte nicht antworten.

Seine Frau hatte sich gesetzt. Mit kaltem Blick betrachtete sie ihren Mann. Sie hatte gar nicht auf seine Worte geachtet, sondern nur darauf gewartet, bis er fertig wäre, damit sie selber anfangen könnte. Daß er ihre letzte Frage gar nicht beantwortete, schien sie überhaupt nicht zu bemerken.

»Ich wollte warten, eh' ich dir's erzählte, bis alles in Ordnung war«, sagte sie. »War das ein Fehler?«

Steinert fühlte sich geschlagen und wich aus, obwohl er überzeugt war, daß diese Wendung selbst nur ein Ausweichen war.

»Worüber hast du mit dem Rektor gesprochen?« fragte er.

»Es war glücklicherweise nicht so gefährlich«, erwiderte Frau Ellen in gleichgültigem Ton. »Es handelt sich um ein paar von den Jungens, die hie und da bei einem Kameraden zusammen kamen und sich ein bißchen amüsierten. Wie Schuljungen nun einmal sind. Sie haben Schulden gemacht. So kam die Geschichte an den Tag. Ich habe das Ganze in Ordnung gebracht.«

»Das heißt, du hast bezahlt.«

»Ja. Hätt' ich das nicht sollen?«

»Und das ist alles?«

»Der Rektor hat mir versprochen, für diesmal die Sache totzuschweigen, so daß es keine Relegation gibt. So viel habe ich glücklich herausgeschlagen; aber es hat Mühe gekostet. Ich bin auch ein bißchen müde jetzt.«

Frau Ellen sah aus, als habe sie eine große, wichtige Tat vollbracht. Und trotz ihrer Müdigkeit begann sie zu erzählen. Sie erzählte mit viel Geschick und feuerte sich selber an, indem sie allerhand Details herbeizog, berichtete, wie die Geschichte entdeckt wurde, und die Schuld auf den Weinhändler schob, der Kredit gegeben, und auf die Eltern eines stadtbekannten Taugenichts, die den jungen Leuten erlaubt hatten, auf dem Zimmer ihres Sohnes zusammenzukommen, und schließlich die ganze Lehrerschaft von Stockholm kritisierte, weil sie die Knaben zu wenig beaufsichtigte und weil sie sich überhaupt absolut nicht darauf verstünde, eine Sache wie diese, durch die doch der gute Ruf vieler Familien aufs Spiel gesetzt würde, zu behandeln.

Trotz des unbefangenen Tones, in dem all dies vorgebracht wurde, lag doch etwas darin, das Steinerts Unruhe erregte, mehr als alles, was er seither in dieser Hinsicht erfahren hatte. Es waren in Frau Ellens Bericht Einzelheiten, die sich geradezu widersprachen, nicht so, daß man leicht einen Einwand hätte erheben können, aber doch so, daß ein Mißtrauen in die Glaubhaftigkeit der Erzählerin sich nicht ganz von der Hand weisen ließ. Grade in dem Eifer, mit dem die Verteidigungsrede vorgebracht wurde, lag etwas von der Verteidigung einer schlechten Sache; und dies Etwas erweckte einen um so heftigeren Mißklang in den Ohren des Mannes, je mehr er innerlich wünschte, er könnte den Worten seiner Frau glauben.

Als sie fertig war, erwiderte er darum erst gar nichts. Stumm saß er ihr gegenüber und überlegte, ob er besser daran tue, zu reden oder zu schweigen und die weitere Entwicklung der Sache abzuwarten. So viel jedenfalls war klar – zwischen seiner Frau und den Kindern herrschte ein geheimes Einverständnis, das nicht vom guten war. Sie hielten fest zusammen im Kampf, im Verschweigen und Verstecken; er war überhaupt bloß dazu da, ihnen Geld und Brot zu schaffen, er war der natürliche Feind, gegen den die Familie sich in gemeinschaftlicher Furcht vereinte. Und so heftig kam plötzlich die Schwere dieses Bewußtseins, das er ja längst in sich trug, über ihn, daß er die Worte, die schon so oft auf seinen Lippen gebrannt hatten, jetzt nicht mehr zurückzuhalten vermochte.

»Du siehst die ganze Sache so an, als wären die Kinder überhaupt nur deine, nicht unsere. Glaubst du, das kann so weiter gehen?«

Frau Ellen hob die Achseln.

»Ist es der Mühe wert, wieder davon anzufangen?«

Steinert blickte weg. Seine Worte klangen leise und doch gewichtig.

»Ellen,« sagte er, »wär's nicht besser, wir gingen auseinander? Ehrlicher, rechtschaffener, klüger?«

»Ich soll mit den Kindern allein bleiben?«

»Bist du das nicht schon?«

Frau Ellen blickte gereizt auf; wieder strömten ihr die Worte über die Lippen.

»Der ganze Fehler ist, daß du keine Grundsätze hast!« rief sie. »Nichts ist dir heilig. Du kannst mich verlassen und die Kinder. Du denkst an keinen Menschen als an dich selber. Was kümmerst du dich darum, was andere sagen? Du stehst ja über allem. Hochmütig und egoistisch gehst du deiner Wege, ohne an andere zu denken. Darum hast du auch keine Freunde. Alle wenden sich von dir ab, wie ich's getan habe und mit mir die Kinder.«

»Du sagst es also selber, die Kinder haben sich von mir abgewandt?«

Steinerts Gesicht zuckte.

»Das siehst du ja doch«, lautete die verächtliche Antwort. »Wie könnt' es auch anders sein? Sie sehen dich ja nie, und wenn etwas ist, haben sie keinen Menschen, als mich.«

Schon lag dem Mann die Antwort auf den Lippen – die Frage, wie denn alles so geworden sei. Aber er sprach sie nicht aus. Er fürchtete sich davor, noch mehr zu hören, bereute, daß er dies Gespräch angefangen hatte, das doch zu nichts führen konnte als zu bösen Worten und kränkenden Erinnerungen. Außerstande still zu sitzen ging er zum Fenster und blickte hinaus auf die breite, mit Bäumen bepflanzte Straße, über der weiße Wolken reglos in der herbstklaren Luft standen, während die Häuser auf der andern Seite im Sinken der Dämmerung gleichsam zu den Sternen emporzuklettern schienen. Er dachte daran, daß das, was heute geschehen war, doch eigentlich nichts sei. Eine so kleine Sache war es, und wäre sie auch zehnmal so schlimm, als seine Frau sie dargestellt hatte. Seit Jahren kämpften sie beide um diesen Sohn, und immer hatte die Mutter den Sieg davongetragen. Unter ihrer Gewalt stand er; im Schutz ihrer Blindheit würden seine bösen Neigungen sich frei entwickeln. Kaltblütig und frühreif war er schon jetzt. Die Gesellschaft, die sich zynisch, rücksichtslos selber aufgebaut hatte, würde ihn dereinst ganz ihr eigen nennen. Er würde die Laster, die gestattet waren, haben, und was er vom Leben nur erreichen konnte, an sich raffen. Leer würde er in die Welt hinausgehen, über alles, was dem Leben Wert verleiht, würde er lächeln, überlegen, engsinnig, nur hungrig nach Genüssen, nach Reichtum und Macht. Was heute geschehen war, war nichts als eine Konsequenz dessen, was der Vater längst wußte.

»Ich stehe ganz außerhalb«, denkt er. »Ich kann nicht mehr.« Etwas, das fast schon einem Entschluß gleich sieht, schießt in ihm auf. »Es ist ja eigentlich alles so einfach«, denkt er.

Auch Frau Ellen ist aufgestanden. Als sie an den Schreibtisch tritt, sieht sie den Brief, sieht, daß er lang und in einer Damenhandschrift geschrieben ist.

»Du hast Korrespondenz, wie ich sehe«, sagt sie gleichgültig.

»Ja, wie du siehst.«

»Darf man fragen, von wem der Brief ist?«

»Von Tora Ljung.«

»Ist sie verreist?«

»Ja.«

Steinert fühlt, wie der dunkle Entschluß in ihm wächst. Er weiß, es gibt einen Punkt in ihm, wo jede Nachgiebigkeit aufhört und der Selbsterhaltungstrieb einsetzt. Gedankenlos, gleichgültig, mechanisch beantwortet er die Fragen seiner Frau.

Bleich, mit funkelnden Augen steht Frau Ellen hinter ihm in dem schon halb dämmrigen Zimmer.

»Darum also willst du dich scheiden lassen«, sagt sie, und durch ihre Stimme bebt ein seltsames Gemisch von Verachtung und Groll.

»Das glaubst du ja selber nicht, was du da sagst«, erwidert Steinert.

»Nie soll dir das gelingen, nie trete ich zurück vor einer andern!«

Damit geht sie. Die Tür fällt mit einem Krach zu. Steinert steht reglos am Fenster. Es ist, als habe er gar nichts gehört, als sei er ganz empfindungslos für böse Worte und Gedanken. Nichts berührt ihn mehr. Der Entschluß wächst und wächst in ihm. In diesem Augenblick ist er weit, weit jenseits von Gut und Böse. Er bleibt den ganzen Abend in seinem Zimmer. Als es dunkel wird, klingelt er und bestellt sich sein Essen aufs Zimmer.

Am folgenden Tage steht er früh auf und geht fort, ohne gefrühstückt zu haben. Was er zu tun beabsichtigt, sagt er keinem Menschen. Zwei Nächte hindurch kommt er überhaupt nicht heim; über dem ganzen Haus liegt eine Gewitterstimmung. Frau Ellen schließt sich ein; diesmal wagt sie nicht mit den Kindern zu sprechen. Eine Ahnung, daß sie den Bogen zu straff gespannt hat, daß er ihr in der Hand zerbrechen könnte, beschleicht sie. Daß er schon zerbrochen ist – das sieht sie nicht, dazu ist sie viel zu hochmütig blind. Die Kinder sind ganz auf sich selber angewiesen. So oberflächlich sie auch sind und so wenig sie den Vater kennen, es ist ihnen doch von dem Respekt vor ihm eine gewisse Furcht geblieben; sie haben das unbestimmte Gefühl, daß er imstande ist, weiter zu gehen, als andere Menschen. »Papa tut, was er will«, sagt Ebba. »Er kehrt sich nicht an das, was andere sagen!« meint der Bruder. Sie fühlen beide ganz gut, daß sie diesmal an der Mutter keine Stütze haben. Ihre Macht ist zu Ende; und die Kinder fangen an, von ihr wie von einem gleichgültigen Menschen zu sprechen.

Am dritten Tage kommen vier Dienstmänner und fangen an zu packen. Der Rechtsanwalt weist sie selber an; dann geht er zu seiner Frau, und die beiden haben hinter verschlossenen Türen eine Unterredung, von der kein Mensch etwas erfährt. Dann geht er fort, ohne von irgend jemand Abschied zu nehmen; und durch das ganze Haus geht es wie eine Todesnachricht: »Papa zieht aus«. Ganz undenkbar. unmöglich, unerhört scheint es. Wie wenn die Wände plötzlich einstürzten und die ganze Welt sehen müßte, daß die Räume dieser vornehmen Wohnung voller Lumpen sind. Hinter diesen Gardinen, die von außen so blütenrein aussehen, hinter denen das Licht abends so friedvoll schimmert, herrschen böse Geister, spukt es Tag und Nacht; die Menschen sind Ruhelose, die sich gegenseitig wie wilde Tiere zerfleischen – Mann und Weib, Vater, Mutter und Kinder.

Bald sind die zwei Zimmer oben leer, und ihr ganzer Inhalt ist nach einer kleinen Wohnung in der Südstadt gebracht. Hier richtet Rechtsanwalt Oskar Steinert sich sein einsames Heim ein. Er will möglichst weit weg von dem vornehmen Stadtviertel, vor dem er seinen Namen preisgibt, um zu retten, was noch von seinem Ich zu retten ist. Tief unter seinen Fenstern sieht er den Mälar, die Schleuse, das Gewirr von Häusern und durcheinanderlaufenden Straßen. Über sich hat er den Himmel – weit – frei . . . Und als der Abend kommt, glänzt die Stadt, aus der er geflohen ist, wie im Festschmuck auf.

Da sitzt er am ersten Abend, als alles fertig ist und still; und er fühlt, wie ihm die Einsamkeit heilende Ruhe schenkt. Er sieht sich um; was ihn umgibt, ist wenig mehr, als was er dereinst als junger Student besaß. Der Schaukelstuhl, der Schreibtisch, das Sofa – – nicht dieselben wie damals, und doch so gleich. Nur die Bücher haben sich fast verhundertfältigt; in dichten Reihen stehen sie an den Wänden, wo nur ein freies Plätzchen ist – alte und neue, große und kleine durcheinander – fest in Reih und Glied wie Soldaten. Über dem Bett im Schlafzimmer hängt in blaugoldenem Florentinerrahmen ein Kupferstich, eine Kopie von Leonardo da Vincis »Mona Lisa«, dem Weib mit dem ewigen Rätsel um die Lippen, dahinter die seltsamen Traumgrotten und Berge. Steinert hat dies Bild in einem Anfall von Selbstironie aus dem alten Heim mitgenommen. Wie ein alter Student, ein bemoostes Haupt, kommt er sich vor, wenn er es betrachtet. Er hat die Abendzeitung vor sich ausgebreitet; und während er liest, graben sich tiefe Falten in seine Mundwinkel. Ein Artikel über Schulverhältnisse hat seine Aufmerksamkeit erregt. Der Verfasser berichtet, als von einer ganz bekannten, für die Eingeweihten schon längst nicht mehr neuen Sache, von einem Skandal, der kürzlich die Schulwelt in Aufregung versetzt hat. Es handelt sich um einen Kreis von lasterhaften, unreifen Jünglingen, die schlechte Häuser besucht, sich halbe Nächte lang auf den Straßen herumgetrieben und es verstanden hatten, sich auf alle mögliche ungesetzliche Weise das Geld zu diesem Lebenswandel zu verschaffen. Der Artikel schließt mit einer scharfen Anklage gegen die Schuldirektion, die viel zu schlapp vorgegangen sein soll; es wird auch geradezu ausgesprochen, daß derartiges ganz undenkbar wäre in einer Schule, wo nicht einflußreiche Eltern durch ihr Eingreifen den Gang der Gerechtigkeit aufhielten.

Oskar Steinert legt die Zeitung weg und blickt hinaus über die lichterfunkelnde Stadt. Der Novemberwind ächzt um das alte Haus, in dem er wohnt; der Himmel ist so in dickes, graues Gewölk gehüllt, daß es fast aussieht, als hätte er seinen ganzen Sternenschmuck von sich geworfen, um ihn drunten der Erde überzudecken – kleine glimmende Funken, die das Dunkel der großen Stadt erhellen.

Der einsame Mann hat in diesem Augenblick alles, was ihn von daheim vertrieben hat, vergessen. Er bereut nichts, nichts möchte er anders haben. Aber in ihm schreit die Stimme des Bluts, das Gefühl für den Sohn, den er einst auf seinen Armen getragen, den er seine Hoffnung genannt hat! Weit, weit weg ist all das jetzt – weit – unwirklich – –. Das beste, das in ihm ist, wird dereinst sterben in diesem Sohn, der sein Gegenstück geworden ist. Er weiß, er ist an ihn gefesselt, mag er nun sein oder werden, wie er will – gefesselt durch unsichtbare Bande.

Und während er so durchs Fenster schaut, wird der Himmel dunkler und dunkler, und drunten die Stadt lichter und lichter.

 


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