Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

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Zehntes Kapitel

Muttergefühl heißt die Macht in Tora Ljung, die sie von Anfang an, seit sie und Oskar Steinert miteinander bekannt sind, Freundschaft für diesen Mann fassen hieß; daß sie wußte, wie nötig er diese Freundschaft brauchte, wie wohl sie ihm tat, das war vielleicht der stärkste Grund dafür, daß ihr Gefühl auch mit den Jahren keinerlei Veränderung erlitt. Instinktiv ahnte sie, daß dieser Mann gleich ihr ein einsamer Mensch war; sie verstand dies sogar zu einer Zeit, da er und die Welt einander zuzulächeln schienen. Als er später in seiner Ehe so glücklich schien, hatte sie, ohne eigentlich eine Ursache dafür zu finden, doch nie glauben können, dies Glück würde für ein ganzes Leben ausreichen. Sie beobachtete Steinerts Frau und sein ganzes Familienleben mit ganz anderen, wacheren und schärferen Blicken als er selber.

Für sie war Frau Ellen Steinert eine im Grunde kalte Frau mit Leidenschaften, aber wenig Herz. Und sie wußte auch, daß sich diese Natur nicht verändern würde, auch wenn die psychische Krankheit, die über sie gekommen war, wieder geheilt werden konnte. Es war darum für Tora keine ganz leichte Aufgabe, täglich mit Oskar Steinert den Traum zu teilen, in dem er lebte. Denn ein Traum war es, ein Traum, wie ihn die Liebe, die blind macht, um den Menschen her schaffen kann. Nie war ihr das so klar geworden wie in der letzten Zeit. Sie konnten überhaupt nicht zusammen sein, ohne daß er mit ihr von seiner Frau sprach. Was zwischen ihnen vorgefallen war, schuf er in seiner Phantasie um, oder vielmehr die Liebe schuf es ihm um. In diesem schönen Wahn, in dem er, der sonst so scharfsichtige, sein ganzes Leben umdichtete, ward die Frau zur Gebenden und er selber zu dem, der dankbar alles von ihr entgegen nahm. Tora sah das; und es erfaßte sie vor diesem dankbaren männlichen Frauenkult etwas von dem aus Bewunderung und Grauen gemischten Gefühl, das uns ergreift, wenn wir auf der Bühne einem tragischen Helden folgen, der sich blind der Lösung des dunkeln Schicksals nähert, dessen Ursache in ihm selbst erwächst.

Es war ein fieberhaftes Leben, das Oskar Steinert in diesem Sommer führte. Jede Arbeit bürdete er sich auf, mehr als nötig war, als möchte er sich selber recht kräftig davon überzeugen, daß er für sein Weib, dessen Leiden ihm übermenschlich erschienen, sich Anstrengungen auflud, die dem, was sie durchmachte, gleichkamen. Daneben interessierte er sich für alles, las, politisierte, suchte Verkehr.

Tora Ljung begann zu ahnen, daß doch etwas in ihm steckte, was er zu betäuben suchte; aber sie begriff nicht, was es war. Manchmal dachte sie, sein Urteil über seine Frau beginne eine Veränderung durchzumachen und die nervöse Spannung, in der er lebte, hänge mit dieser neuen Entdeckung zusammen, die für ihn das ganze Leben umgestalten mußte.

Manchmal fragte sie sich, ob er nicht doch eines Tages merken würde, wie nützlich die Einsamkeit für ihn war, und daß gerade in der Abwesenheit der Frau das Heilmittel lag, das seinem überspannten Nervensystem die Ruhe wiedergeben konnte.

Es war nichts davon zu merken. Mit scharfer Angst beobachtete Tora Steinerts Gesicht, seine Worte, sein ganzes Wesen. Jedesmal, wenn sie zusammen waren, hatte er etwas Neues von seiner Frau zu berichten. Einmal war ihr Zustand entmutigend, dann wieder gab er einen Schimmer von Hoffnung. Wenn Steinert von seiner Frau sprach, lag in seinen Augen etwas Flehendes, das Tora unbeschreiblich peinigte. Es war, als bäte er sie, alles mit denselben Augen anzusehen, wie er, mit ihm zu fühlen, anzubeten, wie er – blind, treu, sehnsuchtsvoll.

Tora litt sehr in dieser Zeit. Ihrer ganzen Natur war es so zuwider, nicht sagen zu dürfen, was ihre Augen sahen; ihr ganzer Instinkt und ihr ganzer Verstand lehrten sie wahr sein. Und innerlich erfaßte sie ein immer stärkerer Widerwille gegen diese Frau, der sie die ganze geistige Überanstrengung, von der alles zeugte was Steinert in dieser Zeit tat und sagte, zuschrieb. Sie sah sie vor sich, schlank und lang, mit dem kleinen wachsbleichen, von goldblondem Haar umrahmten Gesicht. Die kleinen, strahlenden Augen unter der hervortretenden Stirn, das plötzliche Lächeln des Mundes mit seinem Ausdruck von Sinnenfreude und Verstellung, all das Überraschende, ständig Wechselnde, niemals Ruhige und Klare, das dereinst den Mann bezaubert hatte und ihn noch heute fesselte, all das sah die Freundin, und sie mußte sich Gewalt antun, um nicht im Herzen ungerecht und gehässig zu werden. So tief fühlte sie für den Freund und beklagte sie sein Geschick.

Ihr war, als könne sie auch gar nichts ausrichten. Was vermochte sie denn? Täglich ging sie in Steinerts Haus, kam, ging wieder . . . niemand wußte, wie und wann, aber wenn man sie brauchte, war sie da. Und doch kam sie sich so unnütz vor. Steinert sah aus, als bemerke er sie gar nicht. Die Sehnsucht nach seiner Frau erfüllte ihn ganz.

Es war Tora eine wirkliche Erleichterung, als Steinert eines Tages davon sprach, daß er eine Sommerwohnung für sich und die Kinder suchen müsse.

»Und was soll dann aus mir werden?« sagte Tora Ljung lächelnd.

Sie war glücklich, weil sie glaubte, hier helfen zu können. Auf Steinerts zweifelnde Frage erwiderte sie in leichtem Ton:

»Natürlich geh' ich mit. Wer soll denn sonst die Kinder versorgen?«

An diesem Abend wanderte der Rechtsanwalt lange in seinem Zimmer auf und ab. Er wunderte sich, daß er sich plötzlich so erleichtert fühlte. Die schlimmste Bürde war ihm im Handumdrehen von den Schultern genommen, die Bürde, die ihn am tiefsten niedergedrückt hatte.

In dem Punkt nämlich hatte Tora ihn nicht verstanden. Oskar Steinert sehnte sich vor allem danach, die Kinder los zu werden. Mit ihnen war er kein freier Mann, konnte er die Zwischenzeit nicht überwinden. So schwer hatte er die Last empfunden, daß sie ihn gemartert hatte fast wie ein fixe Idee. Und als er nun frei war, tat er gleichsam einen Atemzug der Erleichterung; jetzt konnte er wieder handeln.

Es dauerte auch nicht lange, bis der Rechtsanwalt eine Sommerwohnung gefunden hatte. Sie lag auf einer Insel, anderthalb Stunden von der Stadt; außer ihm wohnte nur noch ein einsamer Fischer mit seinen Kindern dort. Die Villa, die geräumig und hell war, war von einem reichen Mann erbaut und infolge seines Todes frei geworden. Die ganze Insel war voller Tannenwald, kaum eine Birke wuchs dort; um die Klippen des Strandes krochen Brombeerranken.

Hier heraus zog Oskar Steinert mit seinen Kindern; und Tora Ljung begleitete ihn. Und hier draußen ließ er sie am nächsten Tag und fuhr zu seiner Arbeit in die Stadt. Abseits von den andern saß er im Boot, scheinbar in die Zeitung vertieft. Aber immer ertappte er sich darauf, daß er dieselbe Spalte noch einmal von vorn begann und trotzdem ihren Inhalt nicht in sich aufnahm. Schließlich ließ er die Zeitung sinken. Um sein Gesicht spielte der Wind, vor seinen Augen glitzerte das Wasser, grünte der Wald, leuchtete die Sonne. Ihm war, als habe er die Sonne vergessen gehabt und nichts gesehen als Nacht . . . Langsam rückten die Arbeitsstunden weiter; ihm war, als besäße alles, was ihn beschäftigte, ein neues Interesse für ihn. Lange vor der Zeit schon saß er wieder im Boot, das ihn nach Hause führen sollte; und als die Kinder ihn an der Brücke abholten, sprang er ans Land wie ein Junge und wanderte lächelnd und schwatzend den Sandweg hinan. Er hatte Ruhe gefunden, und er genoß sie wie ein Kind. Die Tage gingen ihren gleichmäßigen Gang; das beste war, daß überhaupt nichts geschah. Die Einförmigkeit dieses ganzen Daseins war erfüllt von Ruhe; und Tora glaubte, der Rechtsanwalt werde in dieser Zeit ein ganz anderer. Er sah aus, als habe die Spannung in ihm nachgelassen; die zwei Falten in den Mundwinkeln waren nicht mehr so hart wie ehedem.

Eines Abends saßen er und Tora miteinander auf der grünen Bank unter der großen Kiefer, die einsam weit draußen auf der Klippe wuchs, wo diese jäh in die See abstürzt.

»Du weißt gar nicht, wie das hier alles auf mich wirkt«, sagte Steinert. »Du weißt nicht, was das heißt, müde sein und ausruhen dürfen.«

Eine Weile später fuhr er fort:

»Ich meine, so scharf und klar wie jetzt habe ich mich selber und das bißchen Dasein, das mein ist, überhaupt noch nie gesehen. Ich weiß, das, was mich jetzt am allerglücklichsten macht, ist nicht, daß ich meine Kinder um mich habe und daß ich sie unter deinem Schutz weiß, nicht, daß ich einen guten, ruhigen Sommer vor mir sehe, auch nicht einmal, daß du ihn mit mir teilst. Sondern es ist ganz einfach das, daß meine Frau fort ist und daß es gar nichts hier in der Nähe gibt, was mich an sie erinnert. Findest du das, was ich dir sage, sehr unnatürlich und hart?«

Wie ein Blitz des Erschreckens und doch der Hoffnung fährt es durch Tora Ljungs Seele. »Fängt er an zu verstehen?« denkt sie. Aber in der Furcht, sich zu verraten, wagt sie gar nicht zu antworten, sondern begnügt sich mit einem stummen Nicken.

Steinert fährt fort: »Es ist nicht leicht, das zu fühlen und doch zu wissen, daß mir das Leben, wenn sie nicht einst wiederkäme, öde scheinen würde. Aber ein Mensch, der einem andern so nahe steht, kann alles auf sich nehmen, alles tragen. Sag' mir eins, Tora! Glaubst du, daß ein Mensch den andern anstecken kann?«

»Du meinst, Ellen könnte dich angesteckt haben? Auch dein Gemüt in Verwirrung gebracht haben?«

»Etwas Derartiges fühl' ich manchmal, ja.«

Tora ist froh, daß sie vornüber gebeugt dasitzt, so daß ihre Gesichtszüge nicht deutlich zu sehen sind.

»Ich habe wohl auch schon manchmal daran gedacht«, erwidert sie.

Und nach kurzem Zögern fügte sie hinzu:

»Und hab' es gefürchtet – für dich.«

Oskar Steinert schwieg. Sie fürchtete, er habe das Gesagte schon bereut. Darum setzte sie das Gespräch nicht fort, obwohl ihr die Worte auf den Lippen brannten.

Das Wasser der Bucht lag in lichter Graudämmerung, Bäume, Klippen, der Steg und das Dach der Villa spiegelten sich in den ruhigen Wassern. Die Luft war still; im Westen lagen die Farben des Abendrots wie hinter einem Schleier.

Die beiden trennten sich für die Nacht. Durch sein Fenster im Erdgeschoß sah Steinert über die glasglatte Bucht und den Tannenwald weg, der dicht auf der ganzen Insel stand, über sich hörte er Toras leichte Schritte, wie sie leise in ihrem Zimmer auf und ab ging.

Und in diesem Augenblick war es Oskar Steinert, als stehe trotz allem, was er sonst empfunden hatte, diese Frau ihm näher als irgend jemand sonst auf der Welt, näher, als wenn sie ihr Bett miteinander geteilt hätten und durch die Ehe vereint gewesen wären. Durch allen Schmerz um sein Weib, durch alle Angst um ihr Schicksal hindurch fühlte und begriff er das. Was Tora ihm war, das sah er heute wie noch nie. Ohne etwas voneinander zu begehren, waren sie einander begegnet, ohne etwas anderes zu fühlen als gegenseitige Dankbarkeit würden sie auseinander gehen. Keines Streites würden sie sich zu entsinnen haben, keiner Zwietracht, keiner Unruhe, keiner Spannung, Zerrissenheit oder Trauer. Sie hatten sich einst getroffen im hastenden Leben, wo die Menschen sich treffen, auseinander oder aneinander vorübergehen, hastig, als würden sie gehetzt, damit neue Raum hätten zu folgen. Sie hatten sich gegenseitig nicht gehalten, hatten einander vielleicht oft lang vergessen. Geliebt hatten sie sich nie. Auseinander gekommen waren sie auch nie. Es kam Steinert plötzlich vor, als wäre Tora Ljung der einzige Mensch im Leben, an den er immer mit einem geheimen Gefühl der Sicherheit gedacht hatte. Sogar damals, als er dem Weib begegnete, das seine Gattin wurde, als die Liebe mit ihrem unnennbaren Gemisch von Lust und Qual ihn in das Schicksal zog, das jetzt so schwer auf ihm lastete, war in der Tiefe seines Herzens stets ein anderes Bild gewesen; und dies Bild hatte er bewahrt, weil er wußte, nie konnte es sich trüben. Immer war es da gewesen, nie hatte es ihm etwas anderes angetan, als Gutes. Der Gegensatz zwischen diesem Verhältnis und der Ehe, die ihn mit einer andern verband, deuchte ihm im klaren, kalten Licht des Augenblicks so schreiend, daß er sich fast entsetzte. Die Gedanken, die durch seine Seele zogen, schienen ihm unwürdig, kränkend für ihn selber und für andere. Und tief im Innersten, wohin sein Blick nicht drang, lag die Furcht vor der Wahrheit, die ihn hätte darüber aufklären können, daß er für eine Illusion lebte und kämpfte . . .

Am nächsten Morgen war der Rechtsanwalt schweigsam und zerstreut, als er zum Frühstück kam; lange ehe das Boot da war, ging er hinab zum Steg. Er setzte sich und blickte über die Bucht weg, die dunkelblau und weiß in der frischen Brise dalag.

Als er in die Stadt kam, fiel ihm ein, daß er heute vor dem Handelsgericht eine größere Forderung in einem Konkurs zu vertreten hatte. Der Fall war ziemlich verwickelt, und er selber war auf den Ausgang sehr gespannt. Er hatte sich in der Zeit verrechnet, war viel zu früh gekommen; und da er zufällig sah, daß viele Leute sich um die Tür der Abteilung sieben drängten, ging er aus Neugierde auch dorthin, um zu sehen, was da vorlag.

Drinnen sah er eine blasse, abgezehrte Frau der Arbeiterklasse, die vor den Schranken stand, hinter ihr der Gefängnisschließer. Der Zuhörerraum war gedrängt voll. Steinert sah und sah . . . er rang mit sich selber, um Herr seiner Erinnerung zu werden. »Ich habe ja alles, was mir in jener Zeit passiert ist, völlig vergessen. Wo hab' ich dies Gesicht nur gesehen?« dachte er. Er war so an das Versagen seines Gedächtnisses gewöhnt, sobald der verflossene Winter in Betracht kam, daß er ganz instinktiv immer gerade in dieser Zeit nachsuchte, wenn etwas kam, von dem er wußte, er müßte sich eigentlich daran erinnern, und doch merkte er, er hatte es vergessen . . .

Der Staatsanwalt hatte seine Anklage beendet und beantragte Zuchthaus. Wie viele Jahre, hörte der Rechtsanwalt nicht; aber er spürte es gleichsam, daß es viele waren. Denn ein Murren ging durch die Versammlung, und der Richter warf einen strengen Blick nach dem Zuhörerraum.

Dann begann das Verhör. Es wurde in ungewöhnlich leisem Ton geführt, fast als schäme sich der Richter des Amtes, dessen er hier zu walten hatte. Wenn er seine Fragen stellte, sah er auf die Papiere, die vor ihm auf dem Tisch lagen, und die Stimme, der er einen möglichst geschäftsmäßigen Anstrich zu geben suchte, hatte doch immer wieder einen Klang wie von Ehrfurcht vor unverschuldetem Unglück.

»Sie geben also zu, daß Sie sich mit voller Überlegung und der Absicht, sich selber und das Kind umzubringen, ins Wasser stürzten?«

Die Antwort kam leise, als wäre das Weib all der nutzlosen Fragen müde, die ja doch ohne Bedeutung für sie waren: »Ja.«

»Sie erinnern sich klar und deutlich an alles?«

»Ja.«

»Sie wollten also, daß das Kind sterben sollte?«

»Ja.«

»Haben Sie etwas zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?«

»Ich glaubte, ich würde selber auch sterben.«

Der Richter entfaltete sein Taschentuch, schneuzte sich langsam, setzte seinen Kneifer zurecht, warf einen hastigen Blick auf die Angeklagte und sah wieder vor sich nieder.

Das Weib wandte den Kopf und sah sich mit einem leeren Blick um. Die Bewegung war ganz mechanisch; man sah, sie war sich dessen, was um sie her vorging, kaum bewußt. Aber Steinert erkannte sie an dieser Bewegung. Es war dasselbe Weib, das er einst mit großen, weit offenen Augen stumm bei der Leiche des toten Arbeiters hatte stehen sehen, empfindungslos für all die Menschen, die um sie her kamen und gingen. Die Worte, die er sie hatte sagen hören: »Hätte er Geld gehabt, sich einen Revolver zu kaufen, so hätt' er sich nicht erschossen«, tönten plötzlich in seinen Ohren. Scharf und deutlich sah er die ganze Szene, die er längst vergessen gehabt, wieder vor Augen, die zusammengesunkene Gestalt auf der Bank, den Schutzmann, die Volksmasse, die auftauchte und verschwand . . . Alles sah er wieder, als erlebe er es zum zweitenmal; und zugleich ging es ihm wie ein Stich durchs Herz – er fühlte eine unbestimmte Gewissensqual, deren Ursache er sich nicht erklären konnte, und die ihn doch viel wirklicher und unmittelbarer peinigte als alle Grübeleien, über die er seither Meister geworden zu sein glaubte.

Inzwischen fuhr der Richter in seinen zwecklosen Fragen fort, und das Weib antwortete mit derselben gleichgültigen Kälte. Ausgeschlossen von den Menschen und deren Leben stand sie da, und je länger Steinert sie beobachtete, desto besser verstand er sie und ihre Verzweiflung, desto verwandter fühlte er sich ihr. Es war, als ob alles, was er selber gelitten, sein Herz erweitere und ihm das Leiden dieses fremden Weibes auf eine ganz neue und bessere Weise verstehen helfe. Oder vielleicht war es gar nicht das Leiden, das ihm half? Vielleicht kam es nur daher, daß das Leiden vorüber war, daß es jemand gab, der es ihm abnahm? Einerlei – er konnte die Augen nicht abwenden von dem Weib. Sie war müde – müde – weiter nichts, als müde. Wenn sie sprach, war es, als wollte sie sagen: »Ihr wißt ja doch alles! Was quält ihr mich denn? Alle sagen sie's ja, ich habe gemordet. So muß es doch wohl wahr sein. Laßt mich doch ins Gefängnis. Da darf ich arbeiten. Hätt' ich das früher gekonnt, so stände ich jetzt nicht hier.«

Solche Worte gingen dem Rechtsanwalt durch den Kopf, während er zuhörte. Sie klangen so deutlich in ihm, daß er fast glaubte, er hätte sie laut gesagt. »Warum ist denn da keiner, der sie ausspricht?« dachte er. »Warum gibt es überhaupt so wenige, die reden, wo es gilt? Sonst reden sie doch genug hier!«

Da erklang wieder des Weibes Stimme. Der Richter mußte eine Frage gestellt haben, die Steinert überhört hatte. Im Saal war es totenstill. Jedes Wort hörte man klar und deutlich. Mit seiner müden, gleichgültigen Stimme sagte das Weib:

»Ich wußte wohl, was ich tat. Ich habe die ganze letzte Zeit ja an nichts anderes gedacht.«

Die Bewegung, die hierauf folgte, glich dem Murmeln des Wassers, wenn es über dem Haupt eines Ertrunkenen zusammenschlägt . . . Jetzt zogen sich die Geschworenen zur Beratung zurück, und die Angeklagte ward hinausgeführt. Mechanisch sah der Rechtsanwalt nach der Uhr. Sein Prozeß fiel ihm ein. Es war höchste Zeit.

Und zum letztenmal ging er im Warteraum an der Frau vorbei, deren Urteil ja eigentlich schon gesprochen war. Noch einmal sah er sie an, als wolle er ihr Bild seinem Gedächtnis einprägen. Da fühlte er plötzlich, daß ihn jemand fixierte; und im selben Augenblick sah er vor sich zwei glühende Augen, einen Mann in Arbeitertracht, der lächelte – ein höhnisches Lächeln – und sich der Angeklagten näherte, um ihr etwas zuzuflüstern.

Als er schon an der Tür war, hörte Steinert hinter seinem Rücken noch die Worte: »Das war er.«

Aber schon vorher war die Erinnerung in dem Rechtsanwalt erwacht. Er wußte jetzt, wer hier hätte sprechen müssen, und warum keiner gesprochen hatte. Hastig eilte er die Treppe hinauf in das Zimmer, in dem sein Prozeß verhandelt wurde, indem er dachte: »Das geht vor. Die Gedanken kommen noch früh genug!«

Zur gewohnten Zeit saß er auf dem Deck des Bootes und las die Zeitung. Ein Artikel über die Mängel des schwedischen Rechtswesens fiel ihm in die Augen. Um seinen eigenen Gedanken zu entgehen, las er ihn aufmerksam bis zu Ende. Er war sachlich, reich an Gesichtspunkten und stimmte mit dem überein, was er selber in dieser Sache oft gedacht hatte. Der Artikel war mehr als eine gute Stilprobe. Er war eine Tat, die eines Tages vielleicht ihre Früchte tragen würde. Der Verfasser war ein junger, auf irgendeinem Bureau angestellter Jurist. Steinert kannte ihn. Es war ein tüchtiger Mensch, ein Mann, der eine Zukunft hatte.

»Warum habe nicht ich das geschrieben?« dachte er plötzlich.

Es wehte scharf, und auf dem Deck war es kühl. Mit weißen Kämmen strichen die Spitzen der dunkeln Wogen dahin. Der Rechtsanwalt erhob sich und ging hinunter. Im Salon legte er sich auf ein Sofa, still, mit geschlossenen Augen, als schliefe er. Erst als das Boot schon Vaxholm passiert hatte, ging er wieder hinauf, zwängte sich zwischen Fässern und aufgestapeltem Holz ganz nach vorn und blickte über die dunkle Bucht, auf der der Sturm dahinjagte.

 


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