Gustaf af Geijerstam
Gefährliche Mächte
Gustaf af Geijerstam

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Früh am nächsten Morgen saß der Rechtsanwalt Oskar Steinert am Frühstückstisch. Robin war schon in der Schule, und Ebba stand noch im Vorzimmer, eifrig, mit roten Wangen, in einem Frühjahrsmantel, den sie am Tag zuvor erhalten hatte. Auf raschen, eifrigen Füßen kam sie herein, um sich bewundern zu lassen.

Steinert tat, als sähe er nichts. Ernsthaft klopfte er die Schale von seinem Ei, ernsthaft strich er sich die Butter aufs Brot und band sich die Serviette vor.

»Geh jetzt«, sagte er, ohne aufzublicken. »Du kommst zu spät in die Schule.«

»Siehst du mich denn gar nicht an vorher?« erwiderte ein ungeduldiges Stimmchen.

»Ansehen? Was soll ich denn ansehen?«

Steinert machte große Augen.

»Ach so – du hast einen neuen Mantel an! Das hab' ich nicht gewußt!«

Das Mädchen lachte laut.

»Du hast's die ganze Zeit über gewußt«, sagte sie. »Du glaubst bloß, du könntest mich zum besten haben! Aber das kannst du nicht!«

Steinert bewunderte den Mantel, wie sich's die Tochter wünschte, und glaubte, jetzt würde das Kind gehen. Er fühlte sich müde, gequält, wünschte allein zu sein, um die unnatürliche Spannung, in der er sich befand, sobald er scherzen und mit seinen Kindern heiter sein mußte, loszuwerden. Keine Pflicht wurde ihm so schwer. Aber Ebba zögerte noch immer, als wolle sie etwas sagen, und ihr Blick wurde ernst.

»Was willst du?« fragte er schließlich, um dem Kind zu helfen und die Unterhaltung so bald als möglich zu beenden.

»Von wem hat Mama heute nacht geredet?« sagte das Kind.

Oskar Steinert fuhr zusammen. In ihm ward alles leer, dunkel, kalt.

Trotzdem zwang er sich zu einem Lächeln.

»Mein Mädelchen hat wohl geträumt!« sagte er und strich der Kleinen über die Wangen.

Sie wurde eifrig; ihr Gesicht rötete sich.

»Nein«, sagte sie sehr bestimmt. »Ich weiß recht gut, daß ich wach war. Die Tür stand ein bißchen offen, und ich weiß, ich sah das Licht durch den Spalt. Ich hörte, daß du bei Mama warst, und daß sie Angst hatte vor jemand, den sie gesehen hatte.«

»Mama ist krank, das weißt du doch!« sagte der Vater ausweichend, indem er die Kleine an sich zog und liebkoste. »Denk nicht mehr an das, was du gehört hast. Mama ist bald wieder gesund.«

Die Kleine stand so, daß der Vater ihr Gesicht nicht sehen konnte. Es war plötzlich ernsthaft und frühreif geworden. Ohne des Vaters Liebkosungen zu erwidern, stand sie ganz still, als wäre der zarte kleine Körper plötzlich erstarrt, und in ihre kindlichen Züge kam ein Ausdruck von Bitterkeit und Trotz.

»Ich hab' doch gehört, was Mama sagte und was du geantwortet hast«, gab sie zurück. »Warum willst du mir denn nicht helfen, wenn ich doch nichts verstehe?«

Der Rechtsanwalt ließ seine kleine Tochter los und stützte den Kopf in die Hand. »Ich kann nicht mehr!« dachte er. »Ich kann nicht länger die Lasten aller tragen, all das, was um mich her in Stücke geht, für alle sorgen, für alle arbeiten – arbeiten – arbeiten – und doch nur immer neue Abgründe finden!«

Die Kleine sah, daß der Vater litt. Instinktiv ahnend, was ihn beschäftigte, beugte sie sich vor und sagte:

»Es ist ja gar nicht so schlimm – wenn du mir nur sagen wolltest, wie es ist!«

Oskar Steinert blickte verwirrt auf. Sollte er sich einem Kind anvertrauen? Er, der sich eigentlich nie einem Menschen anvertraut hatte? Eine solche Möglichkeit war ihm überhaupt nie in den Sinn gekommen. Und er errötete darüber, daß er die Tochter hatte Zeuge der Gemütsbewegung werden lassen, die ihn erfüllte. Er war müde bis in die tiefste Seele und fühlte, daß seine Selbstbeherrschung nahe daran war, ihn zu verlassen.

»Ein andermal«, sagte er mühsam. »Jetzt mußt du in die Schule und ich aufs Gericht.«

Ohne ein weiteres Wort ging das Kind. Und Oskar Steinert merkte, daß er, ohne es zu wollen, seine Tochter von sich gestoßen hatte.

Aber er hatte keine Zeit, darüber nachzugrübeln. Nur ein Gedanke beherrschte ihn. »Das Kind weiß alles!« dachte er. »Und das kann ein Kind nicht tragen. Die Kinder müssen gerettet werden – um jeden Preis!« Ihm schien, das war das Allerärgste, das ihn überhaupt betroffen hatte – daß das Kind alles wußte. Daß sein eignes Glück drauf und dran war, für immer zu zerbrechen, das erschien ihm fast wie nichts im Vergleich mit diesem neuen Unglück, das er ahnte und das seine Phantasie ihm noch vergrößerte. Er malte sich aus, wie die Kleine das, was sie gehört hatte, dem Bruder erzählen würde. Robin, der frühreif und nervös war, würde dadurch noch viel mehr erschüttert werden als die Schwester. Er war ja auch älter – im nächsten Herbst schon vierzehn. Und würde darum mehr verstehen und mehr leiden. Als ob ein Wirbel ihn zu erfassen, ihn um und um zu drehen und zu ersticken drohe, so war dem Rechtsanwalt zumute. Gedankenvoll saß er noch immer vor dem Frühstückstisch. Auf dem Fußboden vor ihm spielte der Sonnenschein, durchs Fenster schien der klarblaue Himmel. Aus der Küche hörte man das Geräusch von Stimmen. »Wer ist denn da?« dachte er. »Kein Mensch sieht nach dem Haushalt, kein Mensch außer mir!«

Im Schlafzimmer war alles still. Er wußte, seine Frau würde jetzt bis gegen Mittag schlafen. Zu ihr zu gehen getraute er sich nicht, – hatte auch gar nicht den Wunsch.

Mechanisch suchte er die Papiere zusammen, die er in der Nacht beschrieben hatte, und verließ das Haus. Mechanisch zog er seine Handschuhe an, mechanisch beantwortete er den Gruß der Vorübergehenden. Und die ganze Zeit wühlte in ihm der eine Gedanke, daß jetzt noch ein weiteres Unglück über ihn hereingebrochen war, und daß er seine Kinder schützen müsse. »Warum bin ich gestern ausgegangen?« dachte er. »Hätt' ich ausgeschlafen, so wär' ich heute weniger müde!« Und er wußte doch nur zu gut, weshalb er ausgegangen war. Die Furcht vor daheim hatte ihn hinausgeschreckt, wie schon so oft. Wäre er zu Hause geblieben – er hätte sich ja doch bloß eingeschlossen, wäre ziellos, gedankenlos im Zimmer auf und ab gegangen, hätte unter dem Vorwand der Arbeit alles von sich gewiesen . . .

Der Rechtsanwalt ist bei seinem Bureau angelangt. Während er sich auf einem Seitengang, den nur die Eingeweihten kennen, nach seinem Sprechzimmer begibt, sieht er schon vom Vorraum aus, daß das Wartezimmer ganz voll ist. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Haufen Zeitungen und Briefe, in denen er zu blättern beginnt. Er drückt auf den Knopf der elektrischen Klingel, und indem er hastig die Briefe sortiert, überläßt er die Mehrzahl derselben dem Diener; dieser überbringt sie dem Notar, der in einem kleinen Zimmer nach dem Hof hinaus sitzt und heimlich eine Zigarette raucht. Nur einen Brief behält der Rechtsanwalt zurück und öffnet ihn hastig. Er ist in einer fließenden, klaren Damenhandschrift geschrieben; der Inhalt lautet:

Stockholm, 1. Mai.

Lieber Oskar!

Ich hab' Dich heute gesehen, ohne daß Du es merktest. Du gingst mit Oberlehrer Hjälm und warst so eifrig im Gespräch, daß Du weder rechts noch links sahst. In Deinem Aussehen lag etwas so Absonderliches, daß ich Dich seither gar nicht mehr aus meinen Gedanken loswerde. Deshalb schreib' ich noch heute abend diese Zeilen. Morgen könntest Du wohl einmal nach mir sehen. Es ist Dir doch nichts Besonderes zugestoßen?

Deine Freundin

Tora Ljung.

Gedankenvoll steckte der Rechtsanwalt das Briefchen in die Brusttasche. Einen Augenblick sah es aus, als fühle er sich durch diese wenigen Worte erleichtert. Aber das dauerte nicht lange. Wieder verdüstert sich sein Blick und das schwermütige Gesicht wird starr. Gleich darauf beginnt die Sprechstunde.

Männer und Frauen lösen einander ab. Da kommt ein Gutsbesitzer, der um eines Prozesses willen nach Stockholm gekommen ist. Es handelt sich um ein Geschäft mit England, das sich endlos lang hinzieht, weil der Gegner die Annahme der Ware verweigert und die schwedischen und englischen Sachverständigen sich nicht einigen können. Dann kommt eine verheiratete Frau, die geschieden sein will. Kleiderraschelnd, aufgeregt tritt sie ein und erfüllt über eine halbe Stunde lang das Zimmer mit ihren Klagen, erzählt in vorurteilsfreister Weise die unglaublichsten Details, während die Federn auf ihrem Hut vor Erregung zittern. Nach ihr kommt ein ruhiger Mann mit abgetragenem Rock und mit verhärmtem Gesicht. Er ist ein Erfinder; leider fehlen ihm die Mittel zu dem Modell, das ihn zum Millionär machen soll. All seine Bewegungen sind voll unaussprechlicher Würde. Nur seine Augen glühen in der unbeherrschten Kampflust des Monomanen, der gegen die ganze Welt angeht, die ihn zu Boden drückt und durch ihren Mangel an Verständnis für das Genie, durch ihre hartherzige Kritik ihn auf allen Seiten hindert und einengt.

Es ist, als wäre alles Unglück und alle Unglücklichen der ganzen Welt heute versammelt in diesem Zimmer mit seinem großen amerikanischen Schreibtisch in der Mitte und den steilen Lederstühlen um den runden Lesetisch, über dem auf ihrem messingenen Fuß hell die elektrische Lampe glänzt.

Der Rechtsanwalt fertigt sie alle ab; und nichts von allem, was er da hört, stört die Kühle seiner geschäftsmäßigen Stimme und die Beherrschtheit seiner gemessenen Bewegungen. Nichts von allem, was er da hört, dringt weiter als bis zu seinem Ohr. Sein Herz bleibt unberührt. Bei allem, was er hört, denkt er nur: »Was ist das eigentlich alles? Um was streiten denn eigentlich die Menschen?« Das Grauen vor dem Leben, das ihn erfüllt, entfremdet ihn den Leiden anderer. Er kommt sich fast vor wie das Opfer eines bösen Traums, in dem er, der Unglücklichste der Unglücklichen, die das Unheil nicht vom eigenen Heim fernhalten können, dazu verdammt ist, stillzusitzen und zu fühlen, wie jeder, der vorübergeht, eine schwere Last von den eigenen Schultern hebt, um sie auf die seinen abzuladen.

Plötzlich springt in seinen Augen ein Funke auf; mit einem Ausdruck, der fast aussieht wie Interesse, beugt er sich über den Schreibtisch und sagt zum letzten der Klienten:

»Wie war das? Wollen Sie es mir noch einmal erzählen! Ich bin etwas zerstreut heute!«

Der Angeredete ist ein gutgekleideter Arbeiter mit energischen, intelligenten Zügen und offenem, ein bißchen scharfem Gesicht. Er sieht verwundert aus.

»Haben der Herr Rechtsanwalt nicht zugehört?« sagt er.

»Doch, doch«, erwidert Steinert hastig. »Ich möchte bloß die Einzelheiten noch einmal hören.«

Der Arbeiter sieht aus, als füge er sich diesem Verlangen bloß, um seiner Sache nicht zu schaden, und beginnt seinen Bericht von vorn.

»Ich wohne draußen am Hammarby-See«, sagt er, »oder wenigstens in der Nähe. Vor ein paar Tagen erwachten meine Frau und ich davon, daß jemand draußen ans Fenster klopfte. Es war dunkel und regnerisch, und meine Frau bat mich, lieber nicht hinauszugehen. Es streichen so viele Vagabunden herum, und es hätte gefährlich sein können.«

»Und da stand sie vor dem Fenster?«

Der Rechtsanwalt merkte auf einmal, daß er des anderen Worte doch gehört haben mußte; denn nun der Mann sie wiederholte, erkannte er sie wieder.

Der Arbeiter sah bei dieser Unterbrechung noch verwunderter aus als zuvor, fuhr aber fort:

»Ja – da stand sie – und das Kind hatte sie auf dem Arm. Sie sagte, sie habe sich verirrt, und bat, wir sollten sie für die Nacht da behalten. So kam sie zu uns. Wer sie eigentlich war und was sie wollte, davon sagte sie nichts, und wir mochten sie nicht fragen. Am nächsten Tag ging sie fort und bat uns, wir möchten nach dem Kind sehen. Das tat meine Frau auch; und am Abend kam sie zurück. Sie setzte sich mit dem Kind in eine Ecke und weinte. Erzählen tat sie nichts. Es war ein trauriger Anblick. Darum mochten wir sie auch nicht auffordern zu gehen. Und so kam es, daß sie eben bei uns blieb. Jeden Morgen ging sie fort, und jeden Abend kam sie zurück. Wir dachten, sie ginge aus, um Arbeit zu suchen. Später freilich dachten wir's uns, daß sie etwas ganz anderes suchte! – Ich glaube, ich weiß auch, wer der Vater des Kindes ist. Natürlich so ein Schuft, der sie verführt und sie dann im Stich gelassen hat!«

»Warum glauben Sie das?«

»Nun – weil Kameraden von mir sie gesehen haben; und einmal habe ich sie auch selber gesehen. Sie lief auf den Straßen herum und in den Fabriken, überall fragte sie nach Arbeit. Aber sie hörte gar nicht auf die Antwort, die man ihr gab. Sie wollte bloß in die Werkstätten und durch die Säle gehen. Da sah sie sich um, wie wenn sie nach jemand ganz Besonderem suchte, und ging dann fort, ohne überhaupt auf Antwort zu warten.«

»Woher wissen Sie denn das alles?«

»Ich habe nachgefragt. Gestern kam sie früher als sonst heim zu uns, bedankte sich vielmals bei meiner Frau und sagte, sie wolle jetzt gehen. Na – kurz und gut – sie ging – und kurz darauf hat man sie aus dem See gezogen. Sie lebte, aber das Kind war tot. Sie hatte sich und das Kind umbringen wollen.«

Der Arbeiter schwieg eine Weile. Dann sagte er nachdenklich – und es lag ein Klang in seiner Stimme, als spräche er zu mehr Zuhörern als dem einen: »Sie sagen, sie sei wegen Mordes angeklagt. Ist denn so was möglich?«

»Möglich schon«, erwiderte Steinert. »Wissen Sie, wie sie den gestrigen Tag zubrachte?«

»Ich weiß nur, daß man sie im Arbeiterzug gesehen hat.«

Dem Rechtsanwalt fällt die Frau ein, die er an der Leiche des erschossenen Arbeiters gesehen hat; unwillkürlich bringt er ihr Bild in Verbindung mit dem eben Gehörten. Ihm deucht, jetzt habe er die Erklärung für den Gesichtsausdruck, über den er und Hjälm gestern gestritten haben. Vielleicht noch während sie davon sprachen, war es geschehen.

Er zögerte einen Augenblick. Dann sagte er:

»Wissen Sie, ob . . . der Vater des Kindes lebt?«

»Lebt?« erwiderte der Arbeiter verblüfft. »Doch – sicher lebt er. Es handelt sich bloß darum, ob sie ihn angeben will oder nicht. Ich glaub's nicht, daß sie's tun wird. Vielleicht mag sie ihn zu gern – mag ihm nicht schaden. Das kommt vor.«

»Also doch!« dachte der Rechtsanwalt. »Sie stand vor der Leiche eines Menschen, von dem sie weiter nichts wußte, als daß er ein Bruder in Not war. Und das hat ihre Verzweiflung vertausendfacht. Oder auch hat sie schon immerwährend daran gedacht. Und als sie vor der vollendeten Tatsache stand, dachte sie vielleicht: ›schwerer ist's nicht?‹ Und dann ist sie ihm gefolgt. Und ich?« denkt er weiter. Er muß sich Gewalt antun, um nicht vor diesem Unbekannten, der gar nichts von ihm weiß, zusammenzubrechen. Es kommt dem Rechtsanwalt plötzlich wie eine grausame Komödie vor, daß er dasitzen und über etwas reden soll, was ihm so fremd ist – so weit weg. Aber er beherrscht sich und fragt:

»Wo ist die Frau jetzt?«

»Bei mir«, erwiderte der Arbeiter. »Sie ist zu krank zum Fortschaffen. Wenn sie wieder kräftig genug ist, wird die Polizei die Sache schon in die Hand nehmen.«

»Und was möchten Sie nun eigentlich von mir?«

»Wir dachten, der Herr Rechtsanwalt würde sich der Frau gewiß annehmen und ihr helfen, daß sie nicht wegen Mordes verurteilt wird.«

»Wer, ›wir‹?«

Das Wort kam heiser und hart. Der Arbeiter merkte es wohl; ohne die Ursache zu verstehen, antwortete er einfach:

»Wir alle, die wir die Sache besprochen haben.«

Das kleine Wort »wir«, das der Arbeiter aussprach, hatte eine seltsame Wirkung; es traf den Rechtsanwalt an einem verwundbaren Punkt. Mehr als einmal war er schon auf dies Wort gestoßen. Wo er sich hinwandte, begegnete er ihm. Dies Wörtchen »wir«, als Stütze für eine Ansicht, ein Streben ausgesprochen, war für ihn zum Sklavenmal geworden, das die Geister in Fesseln schlug und freie Männer in die Zwangsjacke der Parteien knechtete. Dies Wörtchen »wir« hatte ihn selbst dereinst losgelöst, ihn so einsam gemacht, wie er sich jetzt fühlte und war. Dies seltsame Wort, das die Menschen stark oder schwach macht, je nachdem es angewandt wird, war ihm zum roten Tuch geworden, das sein Blut unfehlbar in Wallung versetzte. Er sah den Arbeiter, dessen Augen fest, mit einer brennenden Frage, auf die seinen gerichtet waren, gereizt an; in diesem Augenblick war er so unempfindlich für alles, außer für das, was ihn selber anging, daß der Mann, den er da vor sich sah, ihm nicht mehr ein Bruder war, dessen Hand die seine suchte, sondern ein Gläubiger, der mit harten und ungerechten Forderungen kam. »Nicht jetzt!« dachte er. »Nicht jetzt! Daß der Mensch nicht begreift, daß ich ganz einfach nicht kann!« Er biß die Zähne zusammen, um den Schmerz zu ersticken, der übermächtig in ihm zu werden drohte, beugte sich zu dem Mann, der neben dem Schreibtisch saß, vor und sagte hart:

»Glauben Sie, ich könne das schwedische Gesetz umschaffen? Das Gesetz sagt: wer vorsätzlich den Tod eines andern verursacht, begeht Mord. Was glauben Sie, daß ich dabei tun kann?«

»Wir dachten, der Herr Rechtsanwalt könnte uns vielleicht helfen nach mildernden Umständen suchen und die Sache so hinstellen, daß der Frau geholfen wird.«

Oskar Steinert antwortete:

»Wenn Sie mir sagen, daß das Gesetz verbessert werden müßte, damit ein Fall wie dieser überhaupt nicht mehr in Frage kommen kann, so haben Sie ganz recht. Ganz unbestritten. Was Sie mir da erzählen, ist himmelschreiend. Hören Sie – ich wiederhole es: himmelschreiend. Die Frau wird wegen Mords verurteilt. Ins Zuchthaus kommen. Und ist doch nichts als eine Unglückliche, die die Gesellschaft übervorteilt hat. Es ist heutzutage nicht mehr Mode, von einer Schuld der Gesellschaft zu sprechen. Aber da ist sie doch. Und das schlimmste dabei ist – ich kann gar nichts tun. Wir können nicht darauf warten, daß das Gesetz geändert wird. Und vorher kann da kein Mensch etwas tun.«

Das Gesicht des Arbeiters verfinsterte sich. Die Kluft zwischen den Klassen fiel ihm wieder ein und weckte den Stolz, der aus jahrhundertelangem Mißtrauen und Fremdsein der Menschen untereinander geboren ist.

»Dann muß ich es eben der Frau sagen,« erwiderte er, »daß ihr niemand helfen mag. Und den Kameraden auch«, fügte er hinzu.

Als wären diese Worte überhaupt nicht gesprochen, so unberührt saß Oskar Steinert da. Er hatte die unklare Empfindung, als habe ihn jemand tief verwundet und als müsse einst – später –, wenn er aus der Betäubung, die ihn jetzt beherrschte, erwacht war, die Wunde zu brennen anfangen. Aber er vermochte sich nicht gegen den Angriff, der sich in diesen Worten auf ihn richtete, zu wehren. Als habe er nichts gehört, saß er ruhig auf seinem Platz. Tiefer und tiefer sank das Gift in den Worten des andern in sein Innerstes. Aber was bedeutete schließlich das alles? Was ging ihn der Mann an, der da saß? Was hatte er zu schaffen mit der Frau, der dieser fremde Mann das Wort redete? Was gingen ihn überhaupt andre Menschen, ihr Wohl und Wehe an? Hatte er nicht etwas mit sich herumzuschleppen, das weit schlimmer war? Trug er nicht Trauer um zwei Kinder, die niemand ihm retten helfen wollte? Daß sein eigenes Schicksal ihn so ganz beherrschte, daß es das anderer mit sich riß und über sie hinwegschritt, sie zertrat, wie – seit die ersten Lebenswogen hoch gegeneinander aufschwollen – ein Menschenschicksal das andere zertritt, das merkte er gar nicht mehr; oder wenn er es merkte, war es ihm so gleichgültig, daß es an ihm vorüberglitt. Oskar Steinert war hart in diesem Augenblick, und doch hatte er das dumpfe Gefühl, wenn er nur weich werden, nur die Hand nach Menschen ausstrecken, den Ruß verjagen könnte, der sich über seine Seele legte und ihn isolierte, so wäre er gerettet gewesen. Er war in einem entsetzlichen innerlichen Aufruhr; ihm war, als müsse er aufspringen, den Mann an der Gurgel packen, ihn schütteln, ihm ins Ohr schreien: »Ich bin ein Mensch wie du! Ich trage an mir selber schwer genug! Wie darfst du's wagen, zu einem andern zu kommen und zu sagen: ›hilf mir!‹ Gibt es auch nur ein einziges lebendes Wesen, das imstande ist, auch nur sich selber zu helfen?«

Mit letzter Aufbietung all seiner Kräfte, seines Selbsterhaltungstriebes und der Beherrschtheit, die im Notfall erregte Menschen so eiskalt macht, sagte er:

»Ich kann mich einer verlorenen Sache nicht annehmen.«

Der Arbeiter stand vor ihm. Daß er zu einer unglücklichen Stunde gekommen war, begriff er natürlich nicht. Er fühlte nur die Kälte, die ihm aus den Worten und dem ganzen Wesen des Rechtsanwalts entgegenströmte; und ihn erbitterte der Gedanke, daß der Arme immer unrecht haben soll.

»Die Kameraden und ich sind gern bereit, den Herrn Rechtsanwalt zu bezahlen«, sagte er trocken.

Oskar Steinert fuhr auf, wie von einem Hieb getroffen.

»Wer hat von Bezahlung gesprochen?« rief er außer sich. »Bin ich einer, der sich für Wohltaten bezahlen läßt? Gehen Sie, Mann, und lassen Sie mich in Frieden!«

Der Arbeiter bewahrte auch jetzt noch seine Fassung. Ruhig erwiderte er:

»Ich verlange keine Wohltaten, sondern Gerechtigkeit. Und auch die hab' ich nicht umsonst verlangt.«

Damit ging er.

Einsam bleibt der Rechtsanwalt zurück. Er fühlt, wie ihn ein Schüttelfrost um den andern packt. Er weiß, er hat eine schlechte Handlung begangen. Aber das stört ihn nicht. Ohne mit der Wimper zu zucken, empfängt er die paar Klienten, die noch kommen. Als er ganz allein ist, kehrt ihm eine Art Gleichgewicht zurück, freilich nur ein scheinbares, eine Ruhe, die ihn instand setzt zu sprechen, zu handeln, zu denken, ohne sich zu verraten. Die Entdeckung, die er am Morgen gemacht hat, läßt ihm keine Ruhe. Die ganze Zeit verfolgt ihn die Angst, es könne während seiner Abwesenheit etwas geschehen, etwas, das all sein Streben zunichte macht. Er geht hinunter, setzt sich in eine Droschke und fährt nach dem Valhallaweg; unter dem Arm hat er die schwarze Mappe mit vollgeschriebenen Papieren.

Oskar Steinert weiß, jetzt sind die Kinder daheim beim zweiten Frühstück. Fast geräuschlos öffnet er die Korridortür, geht hastig durch sein Arbeitszimmer und tritt ins Eßzimmer. Robin sitzt noch am Tisch, Ebba steht, das eine Knie auf einen Stuhl gezogen, neben ihm und stützt den Kopf in die Hände. Der lange Zopf hängt ihr über die Schulter.

Der Rechtsanwalt betrachtet forschend die Gesichter und Mienen der Kinder.

»Bist du daheim, Papa?« sagt Robin und steht auf, um ihn zu begrüßen.

»Ich hatte etwas vergessen«, antwortet der Rechtsanwalt. »Von was habt ihr denn gerade gesprochen?«

»Von nichts«, erwidert Ebba hastig.

Robin blickt ihn verwundert an. Er begreift die Unruhe im Wesen des Vaters nicht; die Schwester hat ihm noch nichts erzählt. Aber Ebba versteht. Mit dem rascheren Instinkt des Mädchens ahnt sie dunkel, daß die plötzliche Heimkehr des Vaters in irgendeinem Zusammenhang mit ihrem Gespräch von heute früh steht. Sie wird rot und wendet sich ab.

»Schläft Mama noch?« fragt der Rechtsanwalt.

»Ja«, erwidert Robin. »Schwester Emma war eben hier.«

Ohne weiter etwas zu sagen, nickt der Vater den Kindern zu und geht. Als er wieder in der Droschke sitzt, fühlt er, wie zwecklos sein Besuch gewesen ist. Nichts weiß er, nichts wird er je wissen. Was geschehen soll, wird doch geschehen. Nichts kann er ändern an dem, was er fürchtet und voraussieht.

Als die Kinder wieder allein sind, erzählt die Schwester dem Bruder, was sie gehört und gesehen hat. Des Vaters Besuch ist daran schuld. Robin hört zu – fragt – sein Gesicht ist ganz blaß, und als die Schwester fertig ist, stehen ihm die Augen voller Tränen. Sie geloben einander, das, was sie wissen und einander anvertraut haben, ganz für sich zu behalten. Kein Mensch soll es erfahren. Nicht einmal Papa – er am allerwenigsten.

 


 << zurück weiter >>