John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Sechzehntes Kapitel

Der Sturm

Es war sieben Uhr vorbei, als Schelton von seinem Spaziergang zurückkehrte. Einige heiße Sprühtropfen hatten die Blätter angespritzt, aber der Sturm war noch nicht ausgebrochen. Unter dem violettgrauen Firmament schien die Erde wie in brütende Stille eingepfercht.

Durch sein rasches Ausschreiten in der drückenden Hitze hatte Schelton seine Verzweiflung abgeschüttelt. Er fühlte gleichwie ein Mensch, der dabei ist, nach langer Entfremdung seine Geliebte aufzusuchen. Er badete, stand, die Enden seiner Krawatte glättend, lächelnd vor dem Spiegel. Seine Furcht, Unglückseligkeit und Zweifel kamen ihm nun wie ein böser Traum vor. Um wieviel ärger wäre er doch dran gewesen, wenn alles dies wahr gewesen wäre?!

Es war Diner-Gesellschaftsabend bei Dennants und als er den Empfangssalon erreichte, waren die Gäste bereits vollzählig beisammen und schwatzten über das herannahende Unwetter. Noch war Antonie nicht heruntergekommen, und Schelton pflanzte sich vor dem Piano auf und wartete dort ihr Eintreten ab. Rings um ihn drehten sich gerötete Gesichter, fleckenlose Hemdblusen, weiße Arme und frisch geflochtene Haartrachten . . . Irgend einer reichte ihm eine Nelke, und gerade, als er sie zur Nase führte, trat atemlos, als ob sie die Stiege rasch heruntergeeilt wäre, Antonie ein . . . Ihr Wangen waren nicht länger blaß; unwillkürlich hielt ihre Hand die heftig bewegte Kehle. Es war als ob die Blitze des kommenden Sturmes in ihr Feuer gezündet hätten, sie in ihrem weißen Schoßkleid versengen wollten. Sie ging ganz nahe an ihm vorüber, und der ihr entströmende Duft peitschte mächtig seine Sinne auf.

Noch nie war sie ihm so lieblich erschienen . . .

Nie wieder wird Schelton, ohne seltsame Regung, das Parfüm von Melonen und Ananas einatmen . . . Von dort aus, wo er beim Diner saß, konnte er Antonie nicht sehen, aber inmitten des vielstimmigen Geplauders, des Klirrens von Glas und Silber, des Anblicks und der Geräusche und Wohlgerüche des Festmahles – dachte er selig daran, wie er auf sie zugehen und ihr sagen würde, daß ihm nichts über ihre Liebe allein ginge . . . Er trank die eisgekühlte, hellgoldige Champagnerflüssigkeit, als ob sie Wasser wäre . . .

Wegen der Hitze standen die Fenster offen. Dort, wo die pechschwarzen Formen der Bäume wahrzunehmen waren, lag dichter, schwarzer Schatten im Garten. Kein Luftzug, der die Kerzenflammen über den Blumengewinden gefächelt hätte, regte sich. Nur zwei große Motten, erschreckt über die schwere Finsternis draußen, flogen herein und kreisten zwischen den Flammen oberhalb der Köpfe der Speisenden. Eine fiel versengt in seine Obsttasse und wurde rasch entfernt; die andere, die dem Serviettenschwenken und den Bemühungen der Lakaien entkam, fuhr in ihren weichen, flatternden Vorstößen fort, bis Schelton sich erhob und sie mit der Hand fing. Er nahm sie zum Fenster und warf sie in die Nacht hinaus, wobei er bemerkte, wie schwül und laudunstig die Luft sein Gesicht umspülte . . . Auf ein Zeichen Mrs. Dennants wurden nun die Musselinvorhänge über die Fenster zugezogen; und wohl aus Dankbarkeit ob dieses Schutzes, dieser dünnhäutigen Schranke zwischen ihnen und dem gedämpften Dräuen der Natur, gerieten alle in die lebhafteste Unterhaltung . . . Es war eine Nacht, wie sie im Sommer auf strahlendschönes Wetter folgt, beklemmend in ihrer Schwüle und Stille, diese nur unterbrochen von dem von fern, langsam herausrollenden Donner, der wie ein Murmeln aus allen Höhlen und dunklen Abgründen tief über der Erde pilgerte; – es war eine Nacht, die schon durch ihre Atemlosigkeit das Leben zu ersticken und mit ihren unheilvollen Drohungen des Menschen Feigheit rechtfertigen zu wollen scheint . . .

Endlich erhoben sich die Damen. Der Zirkel um den Speisetisch aus Palisanderholz, der keine Tischdecke trug, ähnelte, von Blumen und Silbervergoldung bestreut, einem kleinen Herbstteich, aus dessen braunen Tiefen von fettglänzendem Wasser rote und gelbe Blätter in der Abendsonne emporflimmern. Über allem klebte Zigarettenrauch gleichwie ein Nebelschleier über dem Wasserspiegel, wenn die Sonne untertaucht. Schelton wurde in ein Gespräch über den Charakter des Engländers mit seinem Nachbar verwickelt.

»In England haben wir den Empfangsschein des Lebens verlegt . . .« sprach er. »Die Freude ist bei uns eine Kunst, die betteln geht. Wir berauschen uns an nichts, schämen uns der Liebe, und was Schönheit anbelangt, so haben wir das Verständnis für sie verloren. Im Austausch für all das haben wir reichlich viel Geld, aber welchen Wert besitzt Geld, wenn man nicht weiß, wie man es ausgeben soll?« Erregt über das Lächeln seines Tischnachbars, setzte er noch hinzu: »Was unser Denken anbetrifft, so denken wir so viel über das, was unsere Nachbarn denken, nach, daß wir selbst überhaupt nicht dazu gelangen, über uns nachzudenken. Haben Sie je einen Ausländer beobachtet, wenn er einem Engländer zuhört? Wir sind gewöhnt, die Ausländer zu verachten, aber der Hohn, den wir für sie übrig haben, ist nichts im Vergleich zu dem Hohne, den sie uns zollen. Und sie haben recht! Sehen Sie sich doch unseren Geschmack an! Was hilft es, Reichtümer zu besitzen, aber nicht zu wissen, was mit ihnen anzufangen ist?«

»Das ist mir ziemlich neu,« sagte sein Nachbar. »Aber es mag etwas für sich haben . . . Haben Sie unlängst in den Zeitungen jenen Fall gelesen von dem alten Hornblower, der 1820er Portwein hinterließ und der nun eine Guinee per Flasche eintrug? Als der Käufer, der arme Kerl! – – davon zu trinken begann, fand er, daß von zwölf Flaschen elf einen vollständigen Pantsch enthielten – ha! ha! ha! Well, auch das ist kein großes Unrecht . . .« Und er leerte sein Glas.

»Nein,« antwortete Schelton.

Als sie sich erhoben, um sich den Damen anzuschließen, glitt er hinaus auf den Rasengrund.

Sofort umhüllte ihn ein wahres Dunstbad. In der Luft lag, wollüstig und finster, wie ein plötzlicher Niederschlag aus amourösen Stauden, ein schwerer Geruch . . . Er blieb stehen und saugte ihn mit gierigen Nasenflügeln ein. Mit seiner Hand griff er hinunter und fühlte Gras; es war trocken und mit Elektrizität geladen. Dann sah er, in der Finsternis blaß und weißblendend, drei oder vier Lilien, die Urheber jenes Wohlgeruches. Als ob sie ihr Antlitz erhöben, um geküßt zu werden, schienen die Blütenkelche sich in der Dunkelheit entgegenzustrecken . . . Er reckte sich plötzlich gerade und ging wieder hinein.

Die Gäste nahmen Abschied. Da gewahrte Schelton, der sie beobachtete, wie Antonie durch den Empfangssalon hinausschwebte . . . Er konnte das weiße Flimmern ihres Kleides über dem Rasen noch verfolgen, dann verlor es sich im Schatten der Bäume . . . Er warf einen hastigen Blick um sich, um zu sehen, ob er nicht ebenfalls beobachtet werde; dann glitt auch er sachte hinaus. Finsternis und Hitze schlugen ihm beklemmend entgegen. Er schöpfte tief Atem, als ob er die reinste Gebirgsluft einzöge und drückte sich, leise auf dem Grase auftretend, zur Steineiche hinüber. Seine Lippen waren trocken, sein Herz schlug schmerzhaft. Das Murmeln des fernen Donners hatte ganz aufgehört, und heiße Luftwellen, aus deren Mitte ein plötzlicher Kältestrom hervorbrach, umspülten sein Gesicht. Er dachte: »Nun kommt der Sturm!« und näherte sich leise dem Baume.

In der Mitte des Baumschattens, ihre Gestalt ein verschwommener weißer Fleck in der Hängematte, lag Antonie und schaukelte sich sanft, unter dem schwachen Knarren des Zweiges. Schelton hielt seinen Atem an – sie hatte ihn nicht gehört. Er kroch ganz nahe an den Stamm heran, bis er sie leicht berühren konnte . . . »Ich darf sie nicht erschrecken,« dachte er und lispelte: »Antonie!«

In der Hängematte gab es ein kaum merkliches Zusammenzucken – keine Antwort. Er beugte sich über sie, aber selbst dann konnte er ihr Gesicht nicht sehen. Er besaß nur ein Empfinden: innerhalb eines Yards von ihm war etwas Atmendes und Lebendiges, etwas Warmes und Weiches . . . Wieder flüsterte er: »Antonie!« Doch wieder bekam er keine Antwort, und eine Art rasender Angst erfaßte ihn . . . Er vernahm nichts mehr als ihren Atemzug; auch das Knarren des Zweiges hatte nun aufgehört . . . Was ging vor in diesem ihm so nahen, schweigenden, lebenden Geschöpf? Und dann vernahm er, gleichsam wie das Flattern eines Vogels, rasch und erschreckt – wieder den Laut von Atemzügen; – und einen Augenblick später starrte er in die Finsternis, auf eine leere Hängematte . . .

Er blieb neben der leeren Hängematte, bis er die Ungewißheit nicht länger ertragen konnte. Aber als er den Rasengrund durchquerte, zerrissen zackige Blitze das Himmelsgewölbe von einem Ende zum anderen. Von Kopf bis zu den Füßen übersprudelte ihn der Regen, und mit betäubendem Krach erfolgte ein Donnerschlag.

Er wollte sich nach dem Rauchersalon begeben; aber vor dessen Tür fuhr er zurück, ging lieber nach seinem eigenen Zimmer und warf sich auf das Bett nieder. Der Donner grollte, und in Strömen entluden sich die Wolken. Blitzstrahlen zeigten ihm mit fast überirdischer Deutlichkeit die Formen der Gegenstände innerhalb des Zimmers. Sie rissen ihnen alle Gebrauchsähnlichkeit des Zweckes, für den sie erzeugt waren, herab, entblößten sie ihres Nutzwertes, ihrer Tatsächlichkeit, boten in ihrer Erscheinung als Skelette, Abstraktionen, mit Unziemlichkeiten dar, gleich den nackten Nerven und Sehnen eines in Spiritus aufbewahrten Beines. Wie durch einen Schlag beraubte ihn der Aufklatsch des Regens seiner Denkkraft . . . Er erhob sich, die Fenster zu schließen, dann warf er sich, zu seinem Bett zurückgekehrt, wieder auf dieses. In einer Art von Geistesabwesenheit verweilte er in dieser Lage, bis der Sturm vorbei war. Aber als das Dröhnen des zurückweichenden Donners mit jeder Minute undeutlicher ward, erhob er sich. Dann erst gewahrte er etwas Weißes ganz nahe bei der Tür liegen.

Es war ein Zettel, auf dem geschrieben stand:

»Ich habe mich geirrt. Bitte, verzeih mir und geh weg.

Antonie.«



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