John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Neuntes Kapitel

Das Festmahl

Das Festmahl bei den Casserols wurde zu Ehren derjenigen Freunde der Braut gegeben, die sich bei der Festlichkeit des Tages besonders hervorgetan hatten. Schelton fand sich zwischen Fräulein Casserol und einer in sozusagen demselben Maßstab entkleideten Dame. Ihm gegenüber saß ein Mann mit einem einzigen diamantenen Hemdknopf, einer weißen Weste, mit schwarzem Schnurrbart und Habichtsgesicht. In der Tat, man befand sich hier in einem jener interessanten Häuser, das Leute des höheren englischen Mittelstandes bewohnten, deren Geist an dem bunten Treiben der »flotten Welt« reichlich Gefallen fand. Seine Bewohner, schon von Natur aus erwerbsüchtig und behutsam, ökonomisch, knickerig, hatten den Begriff des »Flottseins« zu bewundern gelernt. Das Resultat war eine Art schwerer Schaumschlägerei und die Atmosphäre gründlicher häuslicher Lasterhaftigkeit. Als Zugabe zur übrigen konventionellen Liederlichkeit hatte Schelton dort ein oder zwei Damen kennen gelernt, die, von ihrem Mann schon geschieden oder im Begriffe, es zu werden, dennoch imstande waren, ihre Position in der »Gesellschaft« aufrecht zu erhalten. Geschiedene Damen, denen es nicht glückte, ihren Rang zu wahren, waren hier nie vorzufinden, denn die Casserols hielten große Stücke auf die Ehe. Auch Amerikanerinnen, die »wirklich allzu belustigend« waren, hatte er dort kennen gelernt – selbstredend niemals Amerikaner; dafür aber Mesopotamier vom Finanz- oder Wettrenn-Typus; wie auch einige jener Gentlemen, die sich in eine Geschäftsabwickelung eingelassen hatten oder sich demnächst einlassen würden, die vielleicht oder vielleicht auch nicht, »zustande kommen«, oder die in Ausführung einer Ordre begriffen waren, die vielleicht oder vielleicht auch nicht, polizeiverdächtig werden konnte. Die Trennungslinie ward, wie er wußte, immer bei jenen irgendeiner Kategorie gezogen, die tatsächlich entlarvt waren, denn der Wert dieser Damen und Herren lag nicht in ihrem Anspruch auf Mitleid – hinweg mit derlei Sentimentalität! – sondern in ihrem »flotten Wesen«, ihren eleganten Kleidern, Witzen, Renntyps, ihren »Bridge«-Partien und ihren Automobilen.

Kurz und gut, das Haus war ein solches, dessen fundamentale Häuslichkeit darin bestand, diejenigen anzuziehen und zu beschirmen, die allzu »flott« waren, um ihre Köpfe lange über Wasser halten zu können.

Sein Gastgeber, ein grauköpfiger, sorgfältig ausrasierter Herr der City, mit langer Oberlippe, versuchte sich darin, eine Dame zu verstehen, deren Redefluß sich in seiner Kühnheit sausend über den Tisch ergoß. Schelton selbst hatte seine Bemühungen um seine Nachbarin aufgegeben und sich mit Teilnahme dem Mahle zugewandt, das seinerseits die Zusammenhanglosigkeit der ganzen Atmosphäre ablehnte und als ein wahres Kunstwerk auftrat. Überrascht vernahm er, daß Fräulein Casserol ihn ansprach.

»Ich sage mir immer, schließlich ist's die Hauptsache, fidel zu sein. Findet sich nicht, was einen zum Lachen reizt, dann soll man sich wenigstens den Anschein geben, als ob man etwas gefunden habe. Es ist doch viel pfiffiger, unterhaltsam zu sein als nicht. Nun, stimmen Sie mir darin bei?«

Diese Philosophie dünkte ihn geradezu vorzüglich.

»Nicht jeder kann ein Genie sein, aber alle Menschen können mindestens fidel aussehen.«

Schelton beeilte sich, fidel auszusehen.

»Wenn mein alter Vater verdrießlich ist, drohe ich ihm, daß ich die Fensterläden zuschlage und ihn verlasse. Was hilft's, Trübsal zu blasen und ein klägliches Gesicht zu machen? Gehen Sie zum Viergespann-Meet? Wir machen eine Lustpartie. Welch ein Spaß! Alle flotten Leute werden dabei mittun!«

Die Pracht ihrer Schultern, ihr gebranntes Haar – augenscheinlich noch keine zwei Stunden aus den Händen des Friseurs – hätte gewisse Zweifel in ihm anregen dürfen. Aber die freimütige Arglist in ihren Augen und der vorsichtige, Silben verschluckende Ton ihrer Stimme leisteten volle Gewähr dafür, daß sie zu demjenigen Element der Tafel gehörte, das wirklich durchaus ehrbar war. Ehedem hätte er es sich nie träumen lassen, wie »flott« sie war, und mit einer raschen Kraftanstrengung überließ er sich einer Art ausgelassener Lustigkeit, die selbst einen Franzosen aus dem Felde geschlagen hätte.

Und als sie ihn verließ, gedachte er des Ausdrucks ihrer Augen, als diese auf der Dame ihr gegenüber ruhten, die ein echter Raubvogel der höheren Halbwelt war. ›Was mag es sein,‹ schien ihr neidiger, nachspürender Blick zu sagen, ›das dich so unverfälscht flott aussehen läßt?‹ Und während auch er noch die Ursache zu ergründen trachtete, bemerkte er, wie der Herr des Hauses dem habichtartig aussehenden Menschen die Vorzüge seines Portweines pries, und dies mit einer ganz erbarmungswürdig wahrzunehmenden Unterwürfigkeit, da das habichtartige Individuum augenscheinlich ein »schlechter Hut«, also eine fragwürdige Existenz eines »feineren« Zuhältertums war. Was um Himmelswillen bezweckten diese nüchternen englischen Bourgeois damit, daß sie dem Laster Vorschub leisteten? Geschah es aus der Begierde heraus, sich wichtig zu machen, aus Furcht, stumpfsinnig zu erscheinen, oder war es einfach die Wirkung ihrer Übersättigung? Abermals blickte er auf seinen Gastgeber, der noch nicht alle Tugenden seines Portweines aufgezählt hatte, und wieder fühlte er Bedauern mit ihm.

»So heiraten Sie also Antonie Dennant?« sprach rechts von ihm eine Stimme in jener gedankenlosen Roheit, die das Abzeichen einer höheren Kaste bildet. »Hübsches Mädchen! Auch haben sie eine schöne Gegend, die Dennants. Wissen Sie, Sie sind ein glücklicher Kerl!«

Der Sprecher war ein alter BaronetEnglischer Adel, zwischen Baron und Ritter mit kleinen Augen, einem bräunlichen, rotwangigen Gesicht und einem sonderbaren Ausdruck allzu schnellen Intimwerdens, der zugleich grämlich und schlau war. Er befand sich stets in Geldverlegenheit, aber als Mensch mit Unternehmungsgeist kannte er die besten Kreise, wie auch ebensogut die schlechtesten, so daß er jeden Abend auswärts speisen konnte.

»Sie sind ein glücklicher Kerl,« wiederholte er; »hat manch verteufelt gutes Schußwild, der Dennant! Immerhin, für mich war's nicht erreichbar; konnte kein Gefieder treffen, das letzte Mal, da ich dort jagte. Sie ist ein hübsches Mädel. Sie sind ein glücklicher Kerl!«

»Ich weiß es,« sagte Schelton ergeben.

»Wünschte, ich stäk' in Ihren Schuhen . . . Wer war denn die, die an Ihrer anderen Seite saß? Bin so verwünscht kurzsichtig. Mrs. Carruther? Oh – ay!« Über seine Lippen kam ein Zug, der, wenn er kein Baronet wäre, Scheelsucht genannt worden wäre.

Schelton empfand, daß er ihn auf ein Blatt seines geistigen Notizbuches verwies, auf dem die ihm bekannten Anekdoten, Ziffern und Tatsachen über jene Dame verzeichnet standen. ›Das alte Scheusal meint,‹ dachte er, ›ich müsse darüber glücklich sein, daß sein Blatt über Antonie blank ist.‹ Aber der alte Baronet hatte sich mitsamt seinem Lächeln und seinem sardonischen, wohlerzogenen Gebaren schon von ihm abgewandt, um einer kleinen Skandalgeschichte auf der anderen Seite zu lauschen.

Die zwei Herren links von Schelton plauderten miteinander.

»Was! Sie sammeln gar nichts? Wie kommt das? Jedermann sammelt doch irgend etwas. Was täte ich ohne meine Kollektion interessanter Bilder?«

»Nein, ich sammle nichts. Habe es aufgegeben; auch nahm der Unsinn furchtbar viel Zeit in Anspruch.«

Schelton hätte einen edleren Grund erwartet. Er versenkte sich in den Madeira seines Glases. Dieser war von seinem Gastgeber »gesammelt« worden, und er stieg im Preise! Er war nicht alle Tage zu haben, war per Flasche zwei GuineasFrüher englische Goldmünze; 1 Guinea ist etwa 21 Mark. Jetzt nur mehr Rechnungseinheit wert! Wie köstlich ließ ihn die Idee munden, daß andere Leute ihn nicht bekommen konnten! Flüssige Wonne! Der Preis steigt immerzu! Bald wird nichts mehr übrig sein; großartig! Absolut niemand kann ihn dann trinken!

»Ich wünschte, ich besäße noch welchen davon,« sprach der alte Baronet, »aber ich habe den meinen schon ganz ausgetrunken.«

»Armer, lieber Bursch!« dachte Schelton; »schließlich und endlich, gar kein so übler alter Junge. Ich wäre froh, wenn ich seinen Mut hätte. Seine Leber muß sich in ausgezeichnetem Zustand befinden! . . .«

Das Empfangszimmer war voller Leute, die irgend ein Spiel spielten, das sich um Pferde drehte, die von Jockeys mit dem neuesten Gesäß geritten wurden. Und Schelton war gezwungen, mitzuwirken, damit dieser Sport sich bis zum frühen Morgen hinziehe. Endlich schied er, erschöpft durch seine Lebhaftigkeit, von dannen.

Er gedachte der Hochzeit; er überdachte sein Mahl und den Wein, den er getrunken. Die Laune seiner Zufriedenheit erlosch. Diese Leute waren gänzlich unfähig, ihr wirkliches Ich zu sein, selbst die flottesten, sogar die – ehrbarsten. Sie schienen ihre Vergnügungen auf einer Wage zu wiegen und alles zu genießen, was sie für ihr Geld erstehen konnten.

Zwischen den dunklen, die Fußgänger wohl bergenden Häusern, die sich Meilen um Meilen dahinstreckten, weilten seine Gedanken bei Antonie. Und als er bei seinen Gemächern anlangte, überholte ihn der Moment, in dem die Stadt neugeboren ward. Der erste frische Luftzug machte sich fühlbar, wehte darnieder; oben lebte das Firmament auf, noch nicht erhellt; leise bebten die Bäume; kein Lebewesen rührte sich, und nichts sprach als sein Herz. Plötzlich schien die ganze Stadt tief Atem zu schöpfen, und Schelton nahm wahr, daß er nicht allein sei: eine ganz unvorhergesehene Lappalie mit zerfetzten Stiefeln schlief auf seiner Haustürstufe.



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