John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Zweites Kapitel

Antonie

Fünf Jahre vor der soeben geschilderten Reise stand Schelton eines Nachmittags, es war so gegen Ende der sommerlichen Bootwettfahrten, auf der seiner alten Universität geweihten Barke. Schon seit mehreren Jahren hatte er Oxford »absolviert«, aber noch immer fesselten ihn diese olympischen Spiele seines College.

Die Boote fuhren vorüber, und in dem üblichen Losstürmen auf die Landungsseite der Barke zu, kam sein Arm in Berührung mit einer weichen jungen Schulter. Ganz nahe bei sich gewahrte er ein junges Mädchen, dessen Gesicht vor Aufregung glühte, mit blondem, von einem Bande umschlungenem Haar. Das etwas spitze Kinn, der längliche Hals, das flockige Haar, die raschen Gesten und die gelassene Kühnheit ihrer graublauen Augen machten auf ihn einen lebhaften Eindruck.

»Oh, wir müssen sie überholen,« hörte er sie seufzen.

»Kennst du meine Angehörigen, Schelton?« sprach eine Stimme hinter seinem Rücken; und ein Druck von des Mädchens scheuer, ungeduldiger Hand ward ihm gewährt, auch von den warmen Fingern einer Dame mit gütigen Augen, die denen einer Häsin glichen, wie der trockenen Handumklammerung eines Gentlemans mit gebogener Nase und einem neckischen, gebräunten Gesicht.

»Sind Sie jener Mr. Schelton, der auf Eton-College die Kastagnetten spielte?« fragte die Dame. »Oh, wir hörten durch Bernard so oft von Ihnen. Er war Ihr Fag,Englischer Studentenausdruck, bedeutet einen, der den älteren Schülern Dienste leistet. (Anm. d. Ü.) war er's nicht? Wie betrübend ist's, diese armen Jungen in den Booten zu sehen!«

»Mutter, sie haben's doch gern!« rief das Mädchen.

»Antonie sollte eigentlich selbst rudern,« sagte ihr Vater, dessen Name Dennant war.

Schelton ging mit ihnen zu ihrem Hotel zurück. Neben Antonie schritt er über die Rasengründe und erzählte ihr manche Einzelheiten seiner Studienjahre. An diesem Abend speiste er bei ihnen, und als er sie verlassen, hatte er ein Empfinden, wie es das erste Glas Champagner im Menschen erzeugt.

Die Dennants wohnten zu Holm Oaks, innerhalb sechs Meilen von Oxford, und zwei Tage später fuhr er hinüber und stattete ihnen einen Besuch ab. Mitten in den ablenkendsten Beschäftigungen – den Lesungen über Gesetzeskunde, dem Kricketspiel, Wettrennen und Schützensport – bedurfte es bloß des kleinen Luftzuges, irgend eines frischen Heuduftes, eines durchwachsenen Geißblattes oder von Klee, um vor ihm Antonies Antlitz aufsteigen zu lassen, mit seinem unbestimmten Teint und den aufrichtigen, in die Ferne schweifenden Augen. Aber es verstrichen zwei Jahre, ehe er sie wiedersah. Infolge einer Einladung von Bernard Dennant spielte er damals Kricket für den Gutsherrn von Holm Oaks gegen das benachbarte Rittergut; und am Abend gab es Tanz auf dem Rasenplatz vor dem Herrenhause. Das blonde Haar stak nun in hoher Frisur, aber die Augen waren unverändert geblieben. Ihre Schritte gingen gemeinsam, und sie überdauerten jedes andere Paar auf dem schlüpfrigen Gras. Vielleicht rührte von daher ihre Achtung vor ihm. Er war von sehniger, etwas größerer Gestalt als sie, und schien von Dingen zu reden, die sie interessierten. Bald fand er heraus, daß sie siebzehnjährig und sie entdeckte, daß er neunundzwanzig.

Die folgenden zwei Jahre begab sich Schelton so oft nach Holm Oaks, als er aufgefordert ward zu kommen. Für ihn war diese Zeit eine Periode entzückender Spiele, Jungwildjagden, Theaterbesuche und fernklingender Töne von Musikübungen, während deren Antonies Augen freundlicher und neugieriger erglänzten und seine eigenen scheuer und schulgemäßer, verstohlener und feuriger wurden. Dann kam der Tod seines Vaters, eine Reise um die Welt und jene besondere Stunde gemischter Sensationen, da er, an einem Märzmorgen, seinen Dampfer zu Marseilles verließ und den Eisenbahnzug nach Hyères bestieg.

Er traf sie in einem jener exklusiven Gasthöfe im Tannenholz, in dem die besten Engländer absteigen, zusammen mit Amerikanern, russischen Prinzessinnen und jüdischen Familien. Es hätte ihn nicht erschüttert, sie an anderer Stelle zu finden, aber er wäre doch überrascht gewesen. Sein sonnverbranntes Gesicht und der neue Bart, der ihm von undefinierbarem Werte dünkte und auf den er apologetisch wies, wurden forschend, mit raschen Blicken aus jenen blauen Augen, zugleich mehr und minder freundlichst betrachtet. ›Ah,‹ schienen sie zu sagen, ›so bist du also wieder hier; wie mich dies freut! Aber – was nun?‹

Bei der Table d'hôte wurde er zu ihrem Tische, einem schneeigen Rechteck in luftigem Erker, zugelassen, an dem zweimal des Tages die Honourablen Mrs. Dennant, Miss Dennant, das Fräulein, die Honourable Charlotte Penguin, eine Jungfer-Tante mit unzulänglichen Lungen, sich in eigenster Atmosphäre niederließen. Eine momentane Schwüle überkam Schelton, als er sie zum ersten Male dort beim Lunch sitzen sah. Was war es, das ihnen den Ausdruck eines solch außerordentlich vornehm sich abschließenden Wesens verlieh? Mrs. Dennant war über eine photographische Kamera gebeugt.

»Weißt du, ich fürchte, es ist unter-exponiert,« sagte sie.

»Wie schade! Die Kitze war ziemlich hübsch.« Die Jungfer-Tante legte die Strickerei auf einem roten, seidenen Zopfband neben ihren Teller und richtete ihren werbenden, wohlgezüchteten Blick auf Schelton.

»Schau, Tantchen,« sprach Antonie mit ihrer klaren, raschen Stimme, »dort ist schon wieder der komische, kleine Mann!«

»Oh,« sagte die Jungfer-Tante – ein Lächeln enthüllte ihren oberen Zahn; sie blickte auf den komischen, kleinen Mann (der natürlich kein Engländer war) – »er ist so ziemlich hübsch!«

Schelton schaute nicht nach dem komischen, kleinen Mann aus. Er stahl einen Blick, der kaum Antoniens Wimper erreichte, aber dort, wo ihre Augenbrauen sich ganz winzig seitlich neigten und ihr Haar von dem windigen Spaziergang noch in Unordnung gebracht war. Von diesem Augenblick gehörte er ihr als Sklave an.

»Mr. Schelton, verstehen Sie etwas von diesen periskopischen Doppelperspektiven?« sprach Mrs. Dennants Stimme; »sie sind ganz prächtig für Hochbauten, aber Hochbauten wirken manchmal enttäuschend . . . Die Hauptsache ist, das menschliche Interesse zu erringen, nicht wahr?« und ihr Blick wanderte wie geistesabwesend an Schelton vorüber und auf die Suche nach menschlichem Interesse.

»Mutter, du hast noch nicht eingetragen, was du aufgenommen . . .«

Mrs. Dennant entnahm einer kleinen Ledertasche ein kleines, in Leder gebundenes Büchlein.

»Man vergißt so leicht, was man tun will,« sagte sie, »wie lästig das ist . . .«

Schelton ward immerhin nicht nochmals von seinem unbehaglichen Gefühl über die völlige Exklusivität dieser altenglischen Familie heimgesucht. Er hieß von nun an sie und all ihr Tun gut. Denn in der Art, wie sie den Speisesaal verließen, lag wirklich etwas wahrhaft Erhabenes, ihnen selbst Unbewußtes, so daß sie selber all den Leuten komisch erschienen, die sie, als sie noch drinnen saßen, komisch fanden. Und er gewöhnte sich daran, ihnen kerzengerade zu folgen und sich wie ein Narr zu fühlen, dieses Gefühl aber für vornehm zu halten.

In den nun anhebenden zwei Wochen saß er, die Jungfer-Tante als Anstandsdame – denn Mrs. Dennant hatte Spazierfahrten nicht gerne – stets dabei, Antonie auf vielen Ausfahrten gegenüber. Er unterhielt sich in vielen Gängen Tennis mit ihr; aber es geschah nur an den Abenden nach dem Diner – an jenen langen Abenden auf dem Parkettboden, in geflochtenen Korbstühlen, die sie so weit als möglich von den Heizvorrichtungen weggeschleppt hatten –, daß er sich ihr so ungemein nahe dünkte. Die Gemeinsamkeit ihrer beiderseitigen Isolierung ließ sie einander nähertreten. Statt eines Begleiters hatte er die Rolle eines Freundes übernommen, dem sie all ihre des Elternhauses überdrüssigen Bestrebungen anvertrauen durfte. So daß, selbst wenn sie stille saß, einen zarten, langen Fuß vor sich hingestreckt, mit einer Art von kühlem Vertieftsein über einige Bleistiftskizzen gebeugt, die sie ihm niemals zeigen wollte – selbst dann schien sie es in irgend einer geheimnisvollen Weise zum Ausdruck zu bringen, eben durch ihre Haltung, durch die süße Frische, die sie umgab, durch ihre raschen beleidigten Blicke, mit denen sie die fremden Personen rings um sie maß, daß er ihr wahrhaft unentbehrlich geworden. Er selbst war weit entfernt, sich dies vorzustellen. Seine geistigen und beobachtenden Anlagen wurden sogar von ihren Mängeln hypnotisch gebannt und bezaubert. Die paar matten Sommersprossen quer über ihrer Nase, die schmächtige und jungfräuliche Strenge ihrer Gestalt mit deren schmalen Hüften und Armen, die Bogenlinie ihres langen Halses – ihm war alles vermehrte Anmut. Sie besaß in ihrem Aussehen viel von Wind und Regen, einen Anstrich von Häuslichkeit. Und auf blendend klaren Landstraßen, auf denen Palmenbäume solch lange schwarze Schatten werfen, mochte sie als das wahre Ebenbild eines englischen Tagesanbruchs gelten.

Eines Nachmittags hatte er sie mitgenommen, mit einigen Freunden Tennis zu spielen, und nachher schlenderten sie zu ihrem Lieblings-Aussichtspunkt hin. Unten badeten sich die Straßengärten und Berghügel in der Farbe reifer Aprikosen; in der Luft lag es verstohlen, wie ein Hauch von knusperigen Dingen; befreit von der Betäubung durch die Sonne pulsierte das Blut fröhlich in den Adern. Auf der rechten Seite der Landstraße vergnügte sich ein Franzose im Bowlingspiel. Enorm, geschäftig, befriedigt und aufrecht wie ein Soldat, seinen ungeschlachten Leib so pathetisch von einem Ende zum anderen trabend, belustigte er Schelton sehr. Allein Antonie warf nur einen einzigen Blick auf das riesige Geschöpf, und gleich drückte ihr Gesicht Abscheu aus. Sie begann hinauf, dem verfallenen Turm entgegen, zu laufen.

Schelton beließ sie in ihrem Vorsprung vor ihm und beobachtete, wie sie von Stein zu Stein hüpfte und herausfordernde Blicke zurückwarf, wenn er ihr nachzukommen versuchte. Sie stand auf dem Gipfel, und er blickte zu ihr hinan. Wie eine Statue schien sie über die glorreich unter ihr ausgebreitete Welt zu herrschen. Strahlend glühte die Farbe ihrer Wangen, ihr junger Busen hob und senkte sich, die Augen leuchteten, und das fließende Herabhängen ihres langen, vollen Ärmels gab ihrer gesetzten Figur das Aussehen, als ob sie flöge. Er nahm sich stramm zusammen und stand endlich an ihrer Seite; fast benahm ihm sein Herzschlag den Atem, alle Farbe war aus seinen Wangen gewichen.

»Antonie,« sprach er, »ich liebe Sie.«

Sie tat einen Ruck, als ob sein Geflüster ihre Gedanken gestört hätte; aber sein Gesicht mußte sein heftiges Verlangen ausgedrückt haben, denn in ihren Augen entschwand der Groll.

Mehrere Minuten standen sie, ohne zu sprechen, dann gingen sie nach Hause. Schmerzlich erwog Schelton das Farbenrätsel ihres Gesichtes. Besaß er denn irgendeine Aussicht? Wäre es möglich? An jenem Abend veranlaßte ihn der zuweilen an Stelle der Vernunft den Liebenden bescherte Instinkt, seine Reisetasche zu packen und nach Cannes zu fahren. Als er zwei Tage später wiederkehrte und sich der Gruppe im Mittelpunkt des Wintergartens näherte, erreichte ihn quer durch das Zimmer die Stimme der Jungfer-Tante, die soeben ein Zitat aus der »Morning Post« laut vorlas.

»Denkst du nicht, daß dies so ziemlich hübsch ist?« hörte er sie fragen; und dann: »Oh, Sie sind wieder hier! Wie hübsch, Sie wieder zurück zu sehen!«

Schelton schlüpfte in einen Korbstuhl. Antonie blickte von ihrem Skizzenbuch rasch auf, streckte ihm die Hand entgegen, sprach aber nichts.

Er beobachtete ihr gebeugtes Haupt und sein heftiges Verlangen wandelte sich in Schwermut. Mit verzweifelter Lebhaftigkeit ertrug er die fünf unerträglichen Minuten der Erkundigung danach, wo er gewesen wäre, was er getan habe? Und dann begann die Jungfer-Tante abermals mit ihren Auszügen aus der »Morning Post«.

Eine Berührung seines Ärmels ließ ihn emporfahren. Antonie lehnte sich vornüber; oberhalb der Blässe ihres Halses waren die Wangen in Purpur getaucht.

»Möchten Sie meine Skizzen sehen?«

Für Schelton, der sich nun über jene Skizzen beugte, waren die nach dem wohlerzogenen Zeitungsblatte gedehnt intonierten Worte der wohlerzogenen Jungfer-Tante der angenehmste Ton, dem er je gelauscht.

*

»Mein lieber Dick,« sprach Mrs. Dennant vierzehn Tage später zu ihm, »es wäre uns recht lieb, wenn ihr, sobald Sie von hier weg sind, euch vor Juli nicht wieder sähet. Natürlich, ich weiß ja, Sie betrachten die Sache als Verlobung und derlei, und alle Welt schrieb Ihnen schon Gratulationen. Aber Algie, mein Gatte, meint, Sie sollten sich doch hübsch Zeit lassen. Das junge Volk weiß oft nicht, was es tut; und die Wartezeit ist nicht lang!«

»Drei Monate!« keuchte Schelton.

Mit aller ihm zur Verfügung stehenden Grazie mußte er diese Pille schlucken. Es gab für ihn keine weitere Alternative. Antonie hatte sich mit merkwürdiger, ernsthafter Geschmeidigkeit in die Bedingung gefunden, als ob sie erwartete, sie könne ihr nur Gutes bringen.

»Dadurch werden wir beide wenigstens einer großen Sache entgegen zu sehen haben, Dick,« sagte sie.

Er verschob seine Abreise so lang als möglich, und es geschah nicht vor Ende April, daß er nach England reiste. Sie kam allein, ihn zur Abfahrt zu begleiten. Ein feiner Sprühregen ging nieder, aber ihre hohe, schlanke Figur unter der Golfkappe sah, im Vergleich zu den fröstelnden Landeskindern, wie luftdicht gewappnet gegen Kälte und Regen aus. Verzweifelt umklammerte er ihre Hand, die sich durch den feuchten Handschuh warm anfühlte; ihr Lächeln schien in all seinem strahlenden Glanz eigentlich doch herzlos. Er flüsterte:

»Aber du wirst mir doch gewiß schreiben?«

»Selbstredend; sei doch nicht so einfältig, du alter Dick!«

Als der Zug sich in Bewegung zu setzen begann, lief sie ihm voraus. Ihr klares »Good-bye!« übertönte schrill und herb das dröhnende Gerumpel der Räder. Er sah sie ihre Hand erheben, einen Regenschirm schwenken und zu allerletzt, das einzig Lebendige zwischen zurückweichenden Schatten, den roten Fleck ihrer scharlachfarbenen Tam-o'-shanter-Sportmütze.



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