John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünftes Kapitel

Der gute englische Bürger

Als sie das Theater verließen, hielten sie sich einen Augenblick im Foyer auf, um ihre Überröcke anzulegen. Ein Strom von Leuten mit untadeligen Hemdbusen sprudelte rings um die Tore, wie in momentaner Furcht, dieses Treibhaus einer falschen Moral und falscher Gefühle verlassen und in die feuchten, stürmischen Straßen hinaus zu müssen, in denen, unter dem frischen, gleichmütigen Himmelsfirmament, die Menschenpflanzen gedeihen und sterben, das Menschenkraut blüht und verwelkt. Die Lampen enthüllten unzählige würdevolle Gesichter, beglitzerten zahllose Juwelen, Zylinderhüte, eilten dann vorbei, um ein von eben gefallenem Regen feuchtes Straßenpflaster zu übertünchen und hell aufzuleuchten über Pferde, die Visagen von Droschkenkutschern und umherirrende, sonderbare Wesen, die kein Licht vertragen.

»Wollen wir zu Fuß gehen?« fragte Halidome.

»Ist dir nie aufgefallen,« antwortete Schelton, »daß heutzutage in den Theaterstücken immer ein ›Chor von Klatschbasen‹ auftritt, der sich wie ein Gottesurteil benimmt?«

Halidome brachte vor allem seinen Kehlkopf ins reine, und in dem dadurch verursachten Geräusch lag etwas Unheildrohendes.

»Du bist halt so verdammt schwer zufrieden zu stellen,« war seine Antwort.

»Ich habe eben ein Vorurteil dagegen, jene zwei Dinge auseinander zu halten,« fuhr Schelton fort. »Ein solcher Schluß ist mir unausstehlich.«

»Warum nicht gar,« entgegnete Halidome, »welches andere Ende wäre denn sonst möglich? Du willst doch nicht etwa, daß dir ein Stück einen schlechten Nachgeschmack im Munde hinterläßt.«

»Just das hat jenes getan.«

Halidomes Schritte, die schon viel zu lange waren, wuchsen noch mehr an; denn wie in allen anderen Lebensphasen, so erachtete er es auch im Gange für nötig, stets der erste voraus zu sein.

»Wie meinst du das?« fragte er mit urbaner Höflichkeit; »noch immer besser, als wenn das Weib sich selbst zum Narren hält.«

»Ich denke eher an den Mann.«

»An welchen Mann?«

»An den Gatten.«

»Um was handelt es sich dir bei ihm? Na ja, gewiß, er trieb's bis hart an die Grenze.«

»Ich kann einen Mann nicht begreifen, der mit einer Frau leben will, die ihn nicht liebt.«

Weit mehr ein gewisser Ton von Kampfeslust in Scheltons Stimme, als die von ihm ausgedrückte Gesinnung war es, die seinen Freund mit Würde zu erwidern veranlaßte:

»Über alle diese Dinge gibt es heute eine Menge unsinnigen Geschwätzes. Wirklich, die Weiber selbst aber kümmern sich gar nicht darum. Es kommt bloß darauf an, was ihnen in den Kopf gesetzt wird.«

»Das klingt, als ob man einem verhungernden Menschen sagte: ›Tatsächlich brauchst du nichts; es kommt bloß darauf an, was dir in den Kopf gesetzt wird.‹ Mein Freund, du nimmst eine erst zu beweisende Sache als schon erwiesen an.«

Allein nichts konnte mehr darauf angelegt sein, Halidome zu reizen, wie wenn man ihm sagte, daß er einer Frage auswich; denn er war stolz darauf, seine Logik-Semester mit bestem Erfolg absolviert zu haben.

»Hol's der Teufel,« sprach er.

»Keineswegs, alter Bursche. Wir nehmen den Fall an, daß eine Frau ihre Freiheit begehrt, und du antwortest mir bloß damit, daß sie sie nicht begehre.«

»Solche Frauen sind ganz unmöglich, gibt's nicht. Lassen wir lieber derartige aus dem Spiele.«

Schelton sann über diese Worte nach und lächelte. Ihm ging einer seiner Bekannten durch den Kopf, der, als sein Weib ihn verlassen hatte, die Theorie erfand, sie sei wahnsinnig; und dies erschien ihm nun höchst komisch. Doch dann dachte er: ›Armer Teufel! Er mußte sie für närrisch erklären! Hätte er solches nicht getan, er hätte damit sich selbst als zuwider erklärt; sei dies aber noch so wahr, man kann von keinem Manne erwarten, sich als das zu betrachten.‹ Aber ein flüchtiger Blick in das Auge seines Freundes kündete ihm an, daß auch er sein Weib in einem solchen Fall für wahnsinnig ansähe.

»Sicherlich,« meinte er, »selbst wenn sie seine Gattin ist, hat ein Mann die Pflicht, sich wie ein Gentleman zu betragen.«

»Das hängt davon ab, ob sie sich wie eine Lady benimmt.«

»Wirklich? Ich sehe darin keinen Kausalnexus.«

Halidome hielt in dem Umdrehen des Schnappschloß-Schlüssels in der Tür inne; in seinen klaren Augen leuchtete ein etwas ärgerliches Lächeln.

»Mein lieber Bursche,« sprach er, »du bist viel zu sentimental.«

Das Wort »sentimental« wurmte Schelton ganz gehörig, und er brach aus: »Entweder ein Gentleman ist ein Gentleman oder er ist es nicht. Was hat damit zu tun, wie andere Leute sich benehmen?«

Halidome drehte den Schlüssel im Schlosse und öffnete die Tür, die zu seinem Vorraum geleitete, wo der Schein des Kaminfeuers auf die Weinkaraffen und riesigen Stühle fiel, die in die Nähe der Flamme gerückt waren.

»Nein, Bird,« sagte er, seine höfliche Umgangsform wieder aufnehmend und mit seinen Händen seine Rockschöße zusammenfassend; »du hast jetzt ganz leicht reden, aber warte nur, bis du erst verheiratet bist. Ein Mann muß Herr im Hause sein und auch zeigen, daß er es ist.«

Ein Gedanke durchzuckte Schelton.

»Hör' einmal, Hal,« sprach er, »was würdest du tun, wenn dein Weib deiner überdrüssig würde?«

Der Ausdruck auf Halidomes Antlitz war eine Mischung von Belustigung und Verachtung.

»Selbstverständlich, ich meine dies nicht persönlich; aber wende diese Situation doch einmal auf dich selbst an.«

Halidome zog einen Zahnstocher hervor, gebrauchte ihn brüsk und entgegnete:

»Ich würde solchen Humbug nicht dulden – würde sie auf Reisen mitnehmen, ihren Geist aufrütteln. Sie würde bald wieder zu sich kommen.«

»Allein angenommen, daß sie dich wirklich verabscheute?«

Halidome reinigte geräuschvoll seine Luftröhre; eine solche Idee war doch so augenscheinlich unschick. Wie konnte irgend jemand ihn verabscheuen? Immerhin antwortete er, Schelton betrachtend, als ob dieser ein ungestüm vorwärtstollendes, aber dabei belustigendes Kind wäre, mit großer Fassung:

»Es gäbe da namentlich viele Dinge in Erwägung zu ziehen . . .«

»Mir will dies,« sagte Schelton, »als eine Frage des einfachsten Selbstgefühles erscheinen. Wie kann man von einem Weibe irgend etwas beanspruchen, das sie nicht freiwillig zu geben bereit wäre?«

Die Stimme seines Freundes wurde höchst richterlich.

»Ein Mann sollte darunter nicht zu leiden brauchen,« sprach er, seinen Whisky fleißig studierend, »daß ein Weib hysterisch geworden . . . Man muß freilich an die öffentliche Meinung der Gesellschaft denken, an die Kinder, das Haus, Geldangelegenheiten, an tausenderlei Dinge. Es ist ganz schön und gut zu reden . . . Wie schmeckt dir dieser Whisky?«

»Oberste Pflicht des guten englischen Bürgers ist somit,« sagte Schelton, »der Selbstschutz.«

»Gesunder Menschenverstand,« erwiderte zustimmend sein Freund. »Ich glaube, daß Gerechtigkeit zuerst und das Gefühl in zweiter Linie kommt.« Er trank aus, und mit abgestumpftem Gesichtsausdruck blies er den Rauch auf Schelton. »Außerdem gibt es viele Leute, die ihre religiösen Ansichten darüber haben.«

»Mir kam es in der Tat stets recht wunderlich vor«, sprach Schelton, »daß es Leute gibt, die behaupten, die Heirat erteile ihnen das Recht auf ›Auge um Auge‹, dabei aber sich noch Christen nennen. Hast du je irgendwen gekannt, der, es sei denn aus verletztem Stolz oder um der eigenen Gemächlichkeit willen, auf seinem Recht bestanden wäre? Möge man was immer für andere Gründe angeben, du weißt so gut wie ich: alles nur scheinheiliges Geplärr.«

»Das möchte ich keineswegs behaupten,« sagte Halidome, sich mehr und mehr überlegen fühlend, je wärmer Schelton ward; »wenn man auf seinen Rechten besteht, tut man es sowohl des gesellschaftlichen wie seines eigenen Wohles wegen. Wenn du die Ehe abschaffen willst, warum sagst du das nicht rund heraus?«

»Nicht doch,« erwiderte Schelton, »wie kannst du nur an so etwas denken? Ei, ich stehe doch auf dem Sprunge –.« Er hielt inne, ohne die Worte hinzuzufügen »mich selbst zu verheiraten,« denn plötzlich empfand er, daß der von ihm angeführte Grund nicht zum Erhabensten und ethisch Hochwertigsten der Welt gehöre. »Alles, was ich behaupten will,« fuhr er, sich mäßigend, fort, »läuft darauf hinaus, daß man ein Pferd nicht beim Antreiben zum Saufen bringt . . . Seelenadel ist das sicherste Mittel, wodurch man bei Leuten, die Anstandsgefühl besitzen, einen gemeinsamen Knoten fester knüpfen kann. Was den Rest anbelangt, wäre es die Hauptsache, eine Schwangerschaft zu verhüten.«

Halidome lächelte.

»Du bist ein närrischer Kauz,« sagte er kurz.

Schelton schmiß seine Zigarette ins Feuer.

»Ich will dir etwas sagen« – denn in später Nachtstunde überkam ihn stets eine seltsame, visionäre Kraft –, »es ist schier Humbug, davon zu reden, daß man um des Wohles der Gesellschaft willen etwas tut. Das Ganze ist nichts als der Instinkt, unsere Köpfe über Wasser zu halten.«

Doch Halidome blieb unbewegt.

»All right,«Häufiger englischer Sprachgebrauch; soviel wie: ganz richtig; alles in Ordnung; ganz recht sagte er, »nenne die Sache bei diesem Namen. Aber ich sehe nicht ein, warum ich mich an die Wand drücken lassen soll? Wozu wird das helfen?«

»Somit gestehst du also ein,« sagte Schelton, »daß unsere Moral die Totalsumme von jedermanns privatem Instinkt der Selbsterhaltung ist?«

Halidome streckte seine prächtige Gestalt und gähnte.

»Ich weiß nicht,« hub er an, »ob ich es genau so nennen sollte . . .«

Allein die bezwingende Selbstzufriedenheit in seinen leuchtenden Augen, die würdevolle Pose seines gesunden Körpers, die hochmütige Schräge seiner schmalen Stirn und der so unendlich gutherzige Blick seiner kultivierten Brutalität kamen Schelton gerade jetzt lächerlich vor.

»Zum Henker, Hai!« schrie er, von seinem Sessel aufspringend, »was für ein alter Halunke du doch bist! Ich muß gehen.«

»Nicht doch . . . Sieh einmal!« sagte Halidome erschrocken. Der zaghafte Schatten eines Zweifels an die Zurechnungsfähigkeit seines Freundes erschien auf seinem Gesicht; er nahm Schelton beim Rockkragen: »Du steckst tief im Unrecht.«

»Möglich. Gute Nacht, alter Bursche!«

Schelton schritt heimwärts und atmete den Frühlingswind ein. Es war Samstag, und er ging an vielen stillen Paaren vorbei. In jedem kleinen Schattenfleck konnte er zwei Gestalten eng beisammen stehen oder sitzen sehen, und ihnen gegenüber schienen Worte des Truges ihre Zungen im Zaum zu halten. In den Knospen raschelte der Wind; die Sterne, einen Augenblick so strahlend hell wie Diamanten, entschwanden im nächsten. In den tiefer gelegenen Straßen befand sich ein großer Teil der dortigen Welt unter der Betäubung des Alkohols, aber Schelton war weit entfernt, sich dies zu Herzen zu nehmen. Ihm schien dies noch immer besser als ein englisches Drama, als die mit feinstem Putz sackartig umhüllten Herren, als leidenschaftslose Damen, wattierte Ansichten – bei weitem besser, als die unbefleckte Solidität aller Besitztümer seines Freundes.

›So ist es also,‹ grübelte er darüber nach, ›von jedem Standpunkt aus recht – sozial, religiös und bequem gehandelt – seine Person dort aufzudrängen, wo sie nicht erwünscht ist. Augenscheinlich muß der Ehestand ungemein große Vorteile bieten . . . Es ist doch so charmant, sich achtbar zu fühlen, während man in einer Weise handelt, die auf allen anderen Lebenswegen uns Verachtung einbrächte. Wenn mein alter Halidome mir zeigte, daß er meiner müde sei und ich fortfahren würde, ihm mit meinen Besuchen zur Last zu fallen, so hielte er mich bald für einen höchst ungebildeten Kerl. Aber wenn seine Gattin ihm sagte, sie könne ihn nicht ausstehen, so würde er sich noch immer für einen vollendeten Gentleman halten, wenn er darauf bestünde, ihr auch weiterhin die Bürde seiner Gesellschaftsleistung aufzuerlegen. Und er hat dabei noch die Unverschämtheit, sich auf die Religion zu berufen – eine Religion, die da sagt: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!«

Doch darin tat er Halidome unrecht; er vergaß, wie unmöglich es diesem war, zu glauben, daß eine Frau ihn nicht ausstehen könnte. Er erreichte seine Gemächer, und um das klare Lampenlicht, die weiche, böige Brise und verklingende Unruhe der Straße mehr zu genießen, wartete er einen Augenblick, ehe er eintrat.

›Ich möchte doch gern wissen,‹ dachte er, ›ob auch ich solch ein gemütsroher Kerl sein werde, wenn ich geheiratet habe, wie jener Bursche in dem Stücke. Würde nur natürlich sein . . . Wir alle wollen unseres Geldes Wert, unser Pfund Fleisch! Schade, daß wir solch schöne Worte gebrauchen, wie Gesellschaft, Religion, Moral. Alles nur Humbug!‹

Er trat ein; und indem er heftig das Fenster aufriß, blieb er lange Zeit vor diesem stehen, seine scharf umrissene Figur in dem flackernd erleuchteten Zimmer im Gegensatz zu dem dunklen Square unterhalb, seine Hände in den Taschen, den Kopf gebeugt, ein nachdenkliches Stirnrunzeln um seine Augen gelegt. Unten waren ein halbtrunkener, alter Raufbold, ein Schutzmann und ein Mann mit einem Strohhut stehen geblieben und hielten eine schwatzhafte Besprechung ab.

»Jah,« sagte der alte Raufbold, »ich bin ein poltriger, alter Knabe; aber ich behaupt', wenn wir alle gleich wär'n, könnt' die Welt nicht bestehn.«

Sie setzten ihren Weg fort, und vor dem Geistesauge des Lauschers erstand Antonies Antlitz mit seinen glatten, unbeweglichen Brauen; das Halidomes, voller Gesundheit und Würde; die Stirn des glotzäugigen Mannes mit seinem in der Mitte durch eine Linie geteilten Haare, dieses kreuzweise gebürstet. Die ebene Fläche ihrer Existenz schien durch ein Licht illuminiert, gleich jener elektrischen Lampe mit grünem Schirm, die vordem die Buchseiten von Matthew Arnold überstrahlt hatte. Ungetrübt lag vor Scheltons geistigem Auge jenes Elysium, so unberührt von Leidenschaft oder Extremen irgendwelcher Art, autokratisch, selbstbespiegelnd, besitzbewußt und so wohlgehegt, wie jede beliebige Landschaft Mittel-Englands. Gesund, reich und weise! Raum nur für die eigene Vollkommenheit, Selbsterhaltung, das Überleben des Tüchtigsten! ›Oberste Pflicht des guten englischen Bürgers ist somit . . .,‹ dachte er und murmelte dann: ›Nein, wenn wir alle gleich wären, könnte die Welt nicht bestehen!«



 << zurück weiter >>