John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Vierzehntes Kapitel

Der Nachtclub

»Darf ich fragen,« sprach Schelton, als er und der Jüngling die kühle Straße betraten, »was das ist, das Sie die ›Höhle‹ nennen?«

Lächelnd antwortete sein Gefährte:

»Oh, das ist der Nachtklub! Wir wechseln darin ab. Donnerstag ist meine Nacht. Wollen Sie mitkommen? Sie werden dort eine Menge von Typen sehen. Liegt nur um die Ecke.«

Schelton verbiß ein momentanes Zaudern, dann antwortete er:

»Ja, die Sache interessiert mich ungemein.«

Im Winkel einer düsteren Straße erreichten sie ein Eckhaus, durch dessen offenes Tor soeben zwei Männer geschritten waren. Sie folgten ihnen, stiegen ein paar frischgescheuerte Holzstiegen empor und betraten einen großen Saal mit Bretterdielen, in dem es von Sägespänen, Gas, abgestandenem Kaffee und alten Kleidern roch. Er war möbliert durch ein Stoßbrett zum Tivolispiel, zwei oder drei Holztische, einige hölzerne Sitzgestelle und einen hölzernen Bücherschrank. Auf diesen Holzstühlen saßen oder standen Jünglinge und reifere Männer umher, die Schelton in ganz besonders niedergeschlagener Stimmung zu sein dünkten. Einer las, ein anderer lehnte an der Wand und trank verbittert Kaffee, zwei spielten Schach und eine Gruppe von vier machte ein unaufhörliches Gerassel mit dem Stoßbrette.

Ein Männlein in dunklem Anzug, mit blassem Gesicht, dünnen Lippen und tiefliegenden, schwarzumränderten Augen, dem offenkundig die Aufsicht oblag, kam mit anämischem Lächeln heran.

»Sie haben sich ziemlich stark verspätet,« bemerkte er zu Curly und fragte, indem er asketisch auf Schelton blickte, ohne eine Vorstellung abzuwarten: »Spielen Sie Schach? Da, der junge Smith möchte ein Spiel machen.«

Ein Jüngling mit ausdruckslosem Gesicht, der schon vor einem unsauberen Schachbrett saß, fragte ihn traurig, ob er Schwarz oder Weiß wolle. Schelton nahm die weißen Figuren; er fühlte sich bedrückt von dem Keuschheitsdufte dieses Raumes.

Das Männlein mit den tiefliegenden Augen kam heran, nahm eine gezwungene Haltung an und schaute zu.

»Dein Spiel wird immer besser, junger Smith,« sagte er; »ich denke, du wärst schon imstand, Banks einen Ritter zu geben.« Fanatisch und düster ruhten seine Augen auf Schelton. Seine Stimme war leidvoll und näselnd, fortwährend sog er an seinen Lippen, wie fest entschlossen, das schwache Fleisch zu bezwingen. »Sie sollten öfter herkommen,« meinte er zu Schelton, als dieser schachmatt wurde, »würden hier zur Praxis mancher Kunstgriffe gelangen. Wir haben mehrere sehr gute Spieler . . . »Du spielst noch nicht so gut, wie Jones oder Bartholomäus,« fügte er zu Scheltons Widerpart hinzu, als ob er es als seine Pflicht erachtete, letzterem den ihm gehörigen Rang zuzuweisen. »Sie sollten wirklich öfter herkommen,« wiederholte er Schelton, »wir haben eine Menge recht guter Spieler.« Und mit einem Anflug von Behagen blickte er sich in dem traurigen Raum um. »Heut' abend sind nicht so viele da, wie sonst . . . Wo sind Toombs und Body?«

Auch Schelton blickte neugierig um sich. Er konnte nicht umhin, Toombs und Body ob ihrer Abwesenheit im Stillen zu beglückwünschen.

»Ich fürchte, die werden saumselig,« sagte das tiefäugige Männlein. »Es ist unser Prinzip, jedermann ein Vergnügen zu bereiten . . . Entschuldigen Sie mich bloß auf eine Minute! Sehe, daß Carpenter nichts tut.« Er verfügte sich hinüber zu dem Mann, der Kaffee getrunken hatte, allein Schelton hatte kaum Zeit, auf seinen Spielgegner einen Blick zu werfen, über eine Bemerkung nachzudenken, als das Männlein schon wieder zurück war. »Verstehen Sie etwas von Astronomie?« fragte er Schelton. »Wir haben hier einige Leute, die sich ungemein stark für Astronomie interessieren; wenn Sie ihnen darüber etwas sagen könnten, würde es sie recht freuen.«

Schelton machte eine Bewegung der Unruhe.

»Bitte – lieber nicht,« erwiderte er; »ich . . .«

»Wäre mir recht lieb, wenn Sie manchmal am Mittwoch zu uns kämen. Wir führen da immer sehr interessante Gespräche, nachträglich ist Gottesdienst. Wir trachten, immer neues Blut zu gewinnen,« und seine Augen flogen forschend über Scheltons brünettes, eigentlich etwas verschlossen aussehendes Gesicht, als ob er prüfen wollte, wie viel Blut darin wäre. »Der junge Curly sagt mir, Sie hätten gerade eine Reise um die Erde gemacht. Da könnten Sie Ihre Reiseerlebnisse schildern.«

»Darf ich fragen,« sprach Schelton, »aus was für Elementen Ihr Klub besteht?«

Wieder flog ein Schatten dünkelhafter Selbstzufriedenheit und segnender Linderung über das Antlitz des Männleins.

»Oh,« sagte er, »wir nehmen alle auf, außer es liegt gegen sie etwas vor. Das besorgt der Tagverein. Selbstredend, wir würden keinen aufnehmen, gegen den dieser eine Anzeige erstattete. Sie sollten unseren Komiteesitzungen beiwohnen; die finden alle Montage um sieben statt. Auch die Frauenabteilung . . .«

»Besten Dank,« fiel Schelton ihm ins Wort; »allzu gütig . . .«

»Es würde uns nur freuen,« sprach das Männlein, und sein Gesicht nahm einen noch leidenderen Ausdruck an. »Heute Nacht sind größtenteils jüngere Burschen hier, aber wir haben auch verheiratete Männer. Selbstverständlich, wir sind diesbezüglich höchst vorsichtig,« fügte er, um nur ja nicht bei Scheltons Vorurteilen Anstoß zu erregen, hastig hinzu – »diesbezüglich und auch wegen des Trinkens alkoholischer Getränke und sonst irgendwelcher Verbrechen, Sie verstehen mich doch . . .«

»Und gewähren Sie auch Geldunterstützung?«

»Jawohl,« antwortete das Männlein; »wenn Sie unsere Komiteesitzungen besuchten, würden Sie es schon gesehen haben. Man untersucht jeden Fall höchst sorgsam. Wir tun unser Bestes, den Weizen von der Spreu zu sondern.«

»Ich darf wohl annehmen,« fragte Schelton, »daß Sie sehr viel Spreu finden?«

Das Männlein lächelte leidvoll. Das Schnarren seiner tonlosen Stimme klang nun ein bißchen schriller.

»Erst heute war ich genötigt, einen Mann abzuweisen – einen Mann mit Frau, ganz junge Personen, mit drei Kindern. Er sei krank und arbeitslos. Aber als wir uns näher erkundigten, fanden wir heraus, daß sie nicht gesetzlich verheiratet sind.«

Eine kleine Pause trat ein. Die Augen des Männleins hafteten auf seinen Fingernägeln, und er begann, allem Anschein nach mit Vergnügen, an ihnen zu kauen. Scheltons Gesicht hatte sich ein wenig gerötet.

»Und was wird in einem solchen Fall aus dem Weibe und den Kindern?« fragte er.

In den Augen des Männleins stieg ein düsteres Glimmen auf.

»Was uns anbelangt, so haben wir es uns natürlich zum Grundsatz gemacht, die Sünde nicht zu ermutigen . . . Bitte um Entschuldigung für eine Minute. Ich sehe, die dort sind fertig mit dem Stoßbrett.«

Er eilte hinweg und einen Augenblick später begann das Geklapper des Tivolispieles aufs neue. Er selbst spielte mit kalter und unechter Anteilnahme, lief um die Kugeln und ermahnte die anderen Spieler, auf die sich eine stumpfsinnige Ergebung herabgelassen zu haben schien.

Schelton schritt quer durch den Raum und näherte sich dem jungen Curly. Er saß auf seiner Bank und lächelte verstohlen zu sich.

»Bleiben Sie noch lange?« fragte Schelton.

Der junge Curly erhob sich in nervöser Hast.

»Ich fürchte,« sprach er, »daß heute Nacht kein einziges, wirklich interessantes Objekt hier ist.«

»Oh, nicht deshalb . . .,« sagte Schelton, »im Gegenteil . . . Nur habe ich einen sehr ermüdenden Tag hinter mir und fühle, daß ich heute für diesen Ort nicht auf der Höhe bin.«

Sein neuer Bekannter lächelte.

»Oh, wirklich! Denken Sie – das ist . . .«

Allein er war mit dem Satze noch nicht zu Ende, als das Gerassel der Stoßbrettkugeln aufhörte und man die Stimme des tiefäugigen Männleins vernahm: »Jeder, der ein Buch wünscht, möge seinen Namen eintragen. Am nächsten Mittwoch findet die übliche Betstunde statt. Wollen Sie nun alle ruhig weggehen? Ich werde sofort das Licht abdrehen.«

Eine Gasflamme erlosch, und plötzlich flackerte die verbleibende höher auf. Im blendenden Lichte der heftiger brennenden Flamme sah das brettergedielte Zimmer noch hartherziger und ernüchternder aus. Die Gestalten seiner Insassen begannen, der Reihe nach hinauszugehen. In der Mitte des Zimmers blieb nur das Männlein, seine tiefliegenden Augen lagen glimmend auf den Rücken der sich zurückziehenden Mitglieder, zwischen Daumen und Zeigefinger hielt er den Drehhahn des Gasometers.

»Ist Ihnen dieser Stadtteil bekannt?« fragte der junge Curly, als sie in der Straße auftauchten. »Ein wirklich lustiger Ort. Eine der dunkelsten Gegenden Londons – das ist er wirklich. Wenn Ihnen daran gelegen, so etwas zu sehen, kann ich Sie durch eine gräßlich gefährliche Gasse führen, wohin die Polizei niemals kommt . . .« Ihm schien dies eine solche Ehre zu bereiten, daß Schelton keine Lust hatte, sein Anerbieten abzulehnen. »Ich komme ziemlich häufig hieher,« fuhr er fort, während sie eine Art von Durchgang betraten, der sich finster zwischen einer Mauer und einer Reihe von Häusern dahinwand.

»Wozu?« erkundigte sich Schelton; »es riecht hier nicht allzu angenehm.«

Der junge Mann hob seine Nase und schnüffelte, als ob er begierig wäre, irgendeinen neuen, hier zu verspürenden Duft seiner sonstigen Lebenskunde einzuverleiben.

»Nein, aber gerade das ist einer der Gründe, Sie verstehen,« sagte er, »man muß alles kennen lernen . . . Auch riecht die Dunkelheit so belustigend. Hier kann einem leicht etwas passieren . . . Letzte Woche ereignete sich ein Mord. Dazu ist hier immer Gelegenheit, so etwas kennen zu lernen . . .«

Verblüfft starrte Schelton ihn an. Doch der Gedanke, daß er krankhaft veranlagt sei, konnte gegenüber diesem frischbackigen Gelbschnabel denn doch kaum vorhalten.

»Gerade jetzt gibt's hier einen prächtigen Abflußgraben,« nahm sein Führer das Gespräch wieder auf; – »in diesen drei Häusern sterben die Menschen am Typhus wie Fliegen . . .« Und als sie bei der ersten Laterne angelangt waren, wandte er sein gravitätisches, cherubinisches Gesicht und deutete auf jene Häuser. »Wären wir im East End, da könnte ich Ihnen noch andere Orte zeigen, die auch nicht besser sind . . . Dort gibt's einen Verkaufstand für Kaffee, dessen Eigentümer kennt alle Diebe Londons. Ein ausgezeichneter Typus,« fügte er hinzu und blickte ein wenig spähend auf Schelton, »aber es könnte für Sie nicht ganz geheuer sein . . . Mit mir steht's anders, ich fange schon an, dort bekannt zu werden. Und dann, sehen Sie, habe ich ja nichts, was man mir nehmen könnte.«

»Leider ist es mir heute Nacht kaum möglich, dorthin zu gehen,« sprach Schelton, »ich muß nach Hause.«

»Störe ich, wenn ich Sie begleite? Gerade jetzt, wo die Sterne am Himmel stehen, ist's so gemütlich.«

»Mir sehr angenehm,« sagte Schelton. »Gehen Sie oft in jenen Klub?«

Sein Begleiter lüftete den Hut und ließ seine Finger durch sein Haar laufen.

»Die Leute dort sind eigentlich eine zu hohe Kategorie für mich,« antwortete er. »Am liebsten besuche ich solche Orte, wo man den Leuten zu essen gibt – am liebsten gehe ich zu Schulausspeisungen oder irgendwo aufs Land. Es tut einem förmlich wohl, sie essen zu sehen. Wissen Sie, die Leute bekommen in der Regel nie so viel, daß es Mark und Bein absetzt. Hirn und Muskeln zehren alles auf. Im Winter gibt's einige Plätze, wo Brot und Kakao gespendet wird. Diese suche ich sehr gern auf.«

»Ich ging einmal hin,« meinte Schelton, »aber ich empfand Scham darüber, meine Nase da hineinzustecken.«

»Oh, den Leuten liegt nichts daran. Glauben Sie mir, die meisten sind ohnehin halb tot vor Kälte . . . Dort sieht man prächtige Typen; eine Menge von Dypsomanen . . . Für mich ist es sehr nützlich,« fuhr er fort, während sie an einem Polizeikommissariat vorbeischritten, »in der Nacht so herumzutrollen. Dadurch gewinnt man viel mehr Eindrücke als sonst . . . Gestern im Hyde-Park hatte ich eine kreuzfidele Nacht, hatte dort eine großartige Gelegenheit, die menschliche Natur zu beobachten . . .«

»Und finden Sie sie interessant?« fragte Schelton.

Sein Begleiter lächelte.

»Ungeheuer,« antwortete er. »Ich beobachtete, wie ein Taschendieb drei Taschen leerte.«

»Was taten Sie?«

»Ich knüpfte ein fideles Gespräch mit ihm an.«

Schelton gedachte des tiefäugigen Männleins, dessen Grundsatz es war, keine Sünde zu ermutigen.

»Sie müssen wissen, er war einer der Professionellen von Nottinghill;Strafanstalt er erzählte mir seine Lebensgeschichte. Hatte natürlich nie Glück . . . Aber der interessanteste Teil war, als ich ihm erzählte, ich hätte gesehen, wie er drei Taschendiebstähle verübte – ein schweres Stück Arbeit, gleichsam in eine Höhle zu kriechen, wenn man nicht weiß, was drinnen . . .«

»Well?«

»Er zeigte mir, wie viel er erbeutete – nur fünfundeinhalb Pence.«

»Und was ward aus Ihrem Freund?« fragte Schelton weiter.

»Oh, er trollte sich von dannen. Er hatte eine so prächtige niedere Stirn.«

Sie erreichten Scheltons Wohnung.

»Wollen Sie hinauf kommen,« fragte letzterer, »und ein Gläschen bei mir trinken?«

Der Jüngling lächelte, errötete und schüttelte sein Haupt.

»Nein, besten Dank,« sagte er. »Ich muß nach Whitechapel spazieren. Gegenwärtig lebe ich von Hafermehlsuppe; ganz ausgezeichnete Nahrung, um Mark und Bein zu bekommen . . . Eine Woche vor dem Monatsende lebe ich gewöhnlich von Hafermehlsuppe. Die beste Diät, wenn man in Geldverlegenheit ist.« Abermals errötend und lächelnd, machte er sich aus dem Staube.

Schelton begab sich die Stiegen hinauf und ließ sich auf sein Bett fallen. Er fühlte sich ein wenig mißmutig. Während er so saß, langsam die Enden seiner weißen Krawatte löste und dabei ganz trostlos war, erstand vor ihm eine Vision: er sah Antonie, die verwundert ihren Blick auf ihn richtete. Und diese ihre Verwunderung ward ihm zur Offenbarung – ganz so, wie an jenem Morgen, als er, aus dem Fenster schauend, plötzlich einen Passanten still stehen und sein Bein kratzen sah. Und es war damals über ihn gekommen wie eine Erleuchtung, daß jener Mann ganz eigene Gedanken und Gefühle haben müsse. So auch würde es ihm nie gelingen, zu ergründen, was Antonie wirklich fühlte und dachte . . .

»Bevor ich sie auf der Station sah, wußte ich nicht, wie sehr ich sie lieb habe, und wie wenig ich von ihr weiß.« Tief aufatmend eilte er zu Bett.



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