John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Sechstes Kapitel

Ein Ehevertrag

»Mein lieber Richard« – schrieb Scheltons Oheim am nächsten Tag –, »es würde mich sehr freuen, Dich morgen Nachmittag um 3 Uhr bezüglich der Frage Deines Hochzeitsvertrages bei mir zu sehen . . .« Laut dieses Wunsches befand sich Schelton zur Stunde auf dem Wege nach Lincoln's Inn Fields, wo in fetten schwarzen Buchstaben die Namen »Paramor und Herring (Eidlich bevollmächtigte Notariatskanzlei)« an der Mauer eines steinernen Einlaßtores geschrieben standen. Mit innerer Erregung stieg er die soliden Stufen hinan und ward von einem kleinen rothaarigen Knaben in ein Hinterzimmer im ersten Stock geleitet. Hier, an einem Tische, just in der Mitte, als ob er von da aus sein Universum besser kontrollieren könnte, schrieb ein Gentleman mit den Gesichtszügen eines Äffchens, ohne Bartwuchs. Er hielt inne.

»Ohh, Mister Richard!« sagte er, »freut mich, Sie zu sehen, Sir. Setzen Sie sich. Ihr Onkel wird in einer halben Minute frei sein,« und in dem Tone seiner Anspielung auf seinen Arbeitgeber lag jene satirische Billigung von dessen Tun und Lassen, die einer langen und treuen Kanzleitätigkeit entspricht. »Er will halt alles selber tun,« fuhr er fort, seine schlauen, grünlichen, redlichen Augen in die Höhe schraubend, »und dabei ist er fürwahr kein junger Mann mehr.«

Schelton sah nie den Sekretär seines Oheims, ohne über die Gedeihlichkeit zu staunen, die sich über dessen Gesicht ausbreitete. Statt des Ausdruckes müder Erschlaffung, der sich nach dem Alter von fünfzig über die meisten Gesichter der Menschen zu legen beginnt, hatte das Äußere der Gesichtszüge seines alten Freundes unbedingt zugenommen – als lebte er mit der ganzen englischen Nation in sanftester Harmonie. Es war sogar immer ein wenig fetter, ein wenig heiterer, ein wenig roher, so oft er ihm wieder begegnete. Eine geringschätzende Duldung von Leuten, denen es leider nicht gut ging, breitete sich unter seiner Oberfläche aus; sie hinterließ jedesmal ein vertiefteres Empfinden, daß ihr Besitzer nie im Unrecht sein konnte.

»Ich hoffe, daß Sie sich wohlbefinden, Sir,« nahm er das Gespräch wieder auf; »höchst wichtig für Sie, Ihre Gesundheit zu bewahren, jetzt, wo Sie beabsichtigen – ein –« er tastete nach einem delikaten Ausdruck und blinzelte unwillkürlich mit den Augen – »Familienhaupt zu werden. Wir sahen es in der Zeitung. Meine Frau sagte mir neulich am Morgen beim Frühstück: ›Bob, hier steht, daß ein Mister Richard Paramor Schelton im Begriffe ist, sich zu verheiraten. Ist's ein Verwandter von deinem Mr. Schelton?‹ ›Meine Liebe,‹ sagte ich sofort zu ihr, ›das ist der nämliche!‹«

Es beunruhigte Schelton einigermaßen, bemerken zu müssen, daß sein alter Freund doch nicht sein ganzes Leben an jenem Tisch, in der Mitte des Zimmers schreibend, verbrachte, sondern daß er – vor seinem geistigen Auge erstand ein Ausblick auf schmucke graue Häuschen – wirklich auch noch ein anderes Leben lebte, in dem ihn jemand ›Bob‹ nannte. Bob! Auch dies war ihm eine Offenbarung. Bob! Ei freilich, nur dieser Name paßte auf ihn. Eine Glocke erklang.

»Das ist Ihr Onkel!« und wieder tönte die Stimme des leitenden Sekretärs ironisch, »Good-bye, Sir!«

Er schien einen Gedankenaustausch so ähnlich abzubrechen, wie man ein elektrisches Licht abdreht. Schelton verließ ihn, während er weiterschrieb, und schritt vor dem rothaarigen Jungen einem riesigen Zimmer auf der Vorderseite entgegen, wo ihn sein Oheim erwartete.

Edmund Paramor war ein mittelgroßer und biederer Mann von siebzig Jahren, dessen braunes Gesicht völlig glattrasiert war. Sein graues, seidenweiches Haar war wie ein Hahnenkamm aus der zarten, auf der linken Seite kahlen Stirn gestrichen. Er stand vor dem Kamin, im Hintergrund des Zimmers, und seine Gestalt besaß die elastische Eilfertigkeit jener Männer, die nicht dick werden können. Auch in seinen Augen stak eine besondere Art von Jugendlichkeit, doch hatten sie einen Blick, als ob er schon durchs Fegefeuer geschritten wäre; und in den Winkeln kräuselte sich sein Mund in etwas überraschendem Lächeln. Das Kanzleizimmer glich dem Menschen – moralisch großzügig, leer von Bürokratie und fast leer an Möbeln. An der Wand hing keine Reihe blecherner Kartätschenbüchsen, auf dem Tische lagen keine Papiere in zerstreuter Unordnung herum. Ein einziger Bücherschrank enthielt eine vollständige Ausgabe der Gesetze und Gerichtsentscheidungen, und auf der Gesetzsammlung stand eine einzelne rote Rose in einem Glas Wasser. Es sah wie ein Zimmer aus, das einem gehörte, der mit verständiger Großherzigkeit auf den Grund der Dinge ging, alles Feilschen verachtete und vor dessen spöttischem Schmunzeln die unmittelbareren Arten von Humbug dahinschwanden.

»Well, Dick,« sagte er, »wie geht's deiner Mutter?«

Schelton antwortete, daß sich seine Mutter wohl befinde.

»Teile ihr mit, daß ich ihre EasternsWertpapiere einer Aktiengesellschaft schließlich doch noch verkaufe und in diese Brass-Sache stecken werde. Du kannst ihr in meinem Namen sagen, es ist ganz sicher.«

Schelton verzog das Gesicht.

»Mutter,« sagte er, »glaubt immer, daß die Dinge sicher sind.«

Sein Oheim durchbohrte ihn mit seinem scharfen, halbleidenden Blick und seine Mundwinkel gingen in die Höhe.

»Sie ist köstlich,« sagte er.

»Ja,« stimmte Schelton bei, »köstlich.«

Gleichwohl interessierte ihn diese Geschäftsabwickelung nicht weiter. In solchen Angelegenheiten besaß das Urteil seines Oheims eine derart kühle Richtigkeitsbasis, daß er es nie gewagt hätte, an ihm zu zweifeln.

»Well, nun zu deinem Vertrag;« und dreimal eine Klingel berührend, schritt Mr. Paramor im Zimmer auf und ab. »Bringen Sie mir den Entwurf von Mr. Richards Ehevertrag.«

Und als der wackere Kommissar mit dem Dokumente wiedererschien: – »Nun denn, Dick,« sagte Mr. Paramor, »wie ich verstehe, bringt sie ihrerseits nichts in den Vertrag; wie kommt das?«

»Ich wollte nichts dergleichen,« antwortete Schelton, unerklärbar verschämt.

Mr. Paramors Lippen bebten; er zog den Entwurf näher an sich heran, nahm einen Blaustift und begann, Scheltons Arm drückend, zu lesen. Letzterer verfolgte die rapide Auseinandersetzung der Klauseln durch seinen Oheim und fühlte sich erleichtert, als dieser plötzlich einhielt.

»Falls du stirbst und sie sich wieder verheiratet,« sagte Mr. Paramor, »verwirkt sie ihre Leibrente – nicht wahr?«

»Oh!« rief Schelton; »warte doch ein wenig, Onkel Ted.«

Mr. Paramor wartete und biß in seinen Bleistift. Um seinen Mund lauerte ein Lächeln, es wurde jedoch geziemend unterdrückt. Nun war die Reihe an Schelton, auf und ab zu gehen.

»Wenn sie wieder heiratet,« wiederholte er zu sich selbst.

Mr. Paramor war ein passionierter Fischer. Er betrachtete seinen Neffen, wie er einen eben ans Land gebrachten Fisch beobachtet hätte.

»Es ist so üblich,« bemerkte er ganz nebenbei.

Schelton machte eine weitere Wendung.

»Sie verwirkt . . .,« dachte er; »eigentlich ganz richtig . . .«

War er einmal tot, so besaß er in der Tat kein anderes Mittel, das sie zwingen konnte, ihm auch noch weiterhin anzugehören. Tatsächlich, es war so!

Mr. Paramors behexende Augen waren fest auf das Gesicht seines Neffen geheftet.

›Well, mein Lieber,‹ schienen sie zu sagen, ›was soll endlich einmal geschehen?‹

Es war ganz richtig! Warum sollte sie denn auch sein Geld haben, wenn sie sich wieder verheiratete? Tat sie dies, so sollte sie es dadurch immerhin verwirken. In diesem Gedanken lag eigentlich ein geruhsamer Trost. Schelton kehrte zurück, las nochmals sorgfältig die Klausel, damit sie auf eine rein geschäftliche Grundlage gebracht würde und die wahre Bedeutung von all dem verhülle, was in seinem Geiste vorging.

»Falls ich sterbe und sie sich wieder verheiratet,« wiederholte er laut, »verwirkt sie . . .«

War es denn für einen leidenschaftlich verliebten Mann möglich, eine vernünftigere Vorsorge zu treffen? Das Auge seines Oheims, leutselig abgewendet von den letzten verzweifelnden Windungen des Fisches, wanderte über ihn hinweg.

Plötzlich sagte Schelton: »Ich will sie aber nicht binden.«

Mr. Paramors Mundwinkel flogen in die Höhe.

»Du willst die Verwirkungsklausel gestrichen?« fragte er.

In Scheltons Antlitz stürzte das Blut; er fühlte, daß er in einem Teil seines Empfindungslebens ausgeforscht worden war.

»Ja–a,« stammelte er.

»Wirklich?«

»Unbedingt!« Die Antwort klang ein wenig verdrießlich.

Der Bleistift seines Oheims sank auf die Klausel herab, und er nahm die Lesung des Entwurfes wieder auf. Doch Schelton konnte ihm nicht folgen, er war allzu sehr damit beschäftigt, just das zu erwägen, worüber sich Mr. Paramor so sehr unterhalten hatte; und um dies zu können, mußte er ihn im Auge behalten. Diese Züge, so wohlgemut, obwohl mürrisch; das elastische Gleichgewicht der Gestalt; das Haar, weder gerade noch lockig, weder kurz noch lang; der verfolgende Blick seiner Augen und das humorvolle Aussehen seines Mundes; sein Anzug, weder schäbig noch geckenhaft; seine dienstfertigen, glatten Hände; und vor allem die erhabene Gleichmäßigkeit des zögernd obschwebenden Bleistiftes – alles erzeugte den Eindruck eines vollendeten Ausgleiches zwischen Herz und Verstand, Taktgefühl und Vernunft, Theorie und ihrem Gegenstück.

»Während des Zeitraumes ihres Verheiratetseins,« zitierte, wieder einhaltend, Mr. Paramor, »ich glaube, du verstehst mich doch, natürlich nur, wenn ihr euch nicht vertragt und euch trennt, fährt sie fort, von dir Geld zu beziehen?«

Wenn sie sich nicht vertrügen! Schelton lächelte. Mr. Paramor lächelte nicht, und wieder hatte Schelton das Gefühl, sich an einem harten, aber festen Gegenstand, gestoßen zu haben. Er bemerkte erregt:

»Sollten wir nicht zusammen leben, so ist dies nur ein Grund mehr, daß sie es beziehen könne.«

Dieses Mal lächelte sein Oheim unverhohlen. Es war für Schelton höchst schwierig, sich über diese ironische Heiterkeit, die übrigens plötzlich abbrach, zu erzürnen. Doch sie war allzu unpersönlich, um ihn zu reizen; sie war allzu ausschließlich allein um die menschliche Natur besorgt.

»Wenn – hm – sich nun aber die andere Sache ereignete,« sagte Mr. Paramor, »dann wären wir mit dem Vertrage zu Ende, so weit er sie betrifft. Wir sind aber verpflichtet, jede Möglichkeit ins Auge zu fassen, du begreifst das, mein Junge.«

Die Erinnerung an das Theaterstück und sein Gespräch mit Halidome lebte noch sehr mächtig in Schelton. Er gehörte nicht zu denen, die der Vorstellung von einer sich auf einen anderen übertragenden Zuneigung seines Weibes etwa nicht ins Antlitz zu sehen vermochte – allerdings nur in sicherer Entfernung.

»All right, Onkel Ted,« sprach er. Einen wahnsinnigen Augenblick lang befiel ihn der Wunsch, auch den Fall einer Scheidung ›einzubeziehen‹. Wäre es nicht die primitivste Ritterlichkeit, sie unabhängig zu machen, es ihr zu ermöglichen, ihre Zuneigung einem andern zu schenken, wenn sie es wünschte, unbehindert von Geldrücksichten? Man brauchte bloß die Worte ›während des Zeitraumes ihres Verheiratetseins‹ zu streichen.

Fast ängstlich blickte er ins Antlitz seines Oheims. Darin war keine Niedrigkeit zu erspähen, aber in dieser umfangreichen Braue mit ihrem starken Haarschwung lag auch keine besondere Ermutigung. ›Donquichotterie,‹ schien sie zu sagen, ›besitzt ja gewiß auch ein Verdienst, aber . . .‹ Auch das Zimmer, mit seinem weiten Gesichtskreis und den hohen Fenstern, das aussah, als ob es förmlich mit der Ware des gesunden Menschenverstandes Handel trieb, entmutigte ihn. Da drinnen mußten wohl schon unzählige Männer von bester Erziehung und den tadellosesten Grundsätzen sich ihre Frauen gekauft haben. In diesem Zimmer duftete die Atmosphäre der Weisheit und des Kalbleders der Gesetze. Stark war in ihm das Aroma des Präzedenzfalles; Schelton verlor plötzlich sein Ziel aus dem Auge und machte sich wieder einmal entschlossen daran, den Kauf seines Weibes endgültig zu ordnen.

»Ich kann wahrlich nicht begreifen, warum du mit der Sache so eilst; du wirst ja doch erst im Herbst heiraten,« meinte Mr. Paramor, nachdem er fertig geworden. Er legte den blauen Bleistift auf sein Gestell zurück und nahm die rote Rose aus dem Glase, daran schnüffelnd. »Willst du mich bis Pall Mall begleiten? Ich mache mir heute einen freien Nachmittag; für Lords ist es zu kalt, denke ich mir . . .«

Sie spazierten auf den Strand.

»Hast du dir Borogroves neuestes Stück angesehen?« fragte Schelton, während sie an dem Theater vorbeischritten, das er und Halidome besucht hatten.

»Ich schaue mir moderne Stücke überhaupt nicht an,« erwiderte Mr. Paramor; »allesamt zu verdammt düster.«

Schelton warf ihm einen Blick zu. Er trug seinen Hut etwas weit in den Nacken gerückt, seine Augen suchten unablässig die Straße vor ihm ab; seinen Regenschirm hatte er geschultert.

»Hegst du kein Interesse für Psychologie, Onkel Ted?«

»Nennt man das so, was demjenigen in Worten Ausdruck verleiht, was durch Worte nicht ausgedrückt werden kann?«

»Es gelingt dennoch den Franzosen,« entgegnete Schelton, »auch die Russen bringen es zustande. Warum nicht auch wir Engländer?«

Mr. Paramor blieb stehen, um in den Laden einer Fischhändlerin zu blicken.

»Was für Franzosen und Russen paßt, Dick,« sagte er, »taugt nicht für uns. Sobald wir wahr zu sein beginnen, beginnen wir, erst wirklich falsch zu sein. Wäre froh, wenn mir der Fang dieses Kerls geglückt wäre . . . Schicken wir ihn deiner Mutter.« Er ging hinein und kaufte einen Lachs.

»Willst du behaupten, mein Lieber,« fuhr er fort, während sie weiter spazierten, »daß es anständig ist, wenn Männer und Frauen sich auf der Bühne wie Aale herumdrehen? Gibt's nicht schon genug des Schlechten im Leben?«

Plötzlich gewahrte Schelton im Gesichte seines Oheims, trotz seines ewigen Lächelns, einen herben Zug innerer Qual. Vielleicht war es auch nur der stärkere Sonnenglanz auf den offenen Plätzen zu Trafalgar Square.Großer runder Platz in London, auf dem sich ein Monument zu Ehren des englischen Admirals Nelson (1758-1805) mit riesigen Löwenbildsäulen befindet

»Ich weiß nicht, ob ich recht habe,« sprach er, »aber mir ist die Wahrheit am liebsten.«

»Ein böser Schluß und alles, was drum und dran hängt?« sagte Mr. Paramor, machte unter einem der Nelson-Löwen Halt und faßte Schelton bei einem seiner Knöpfe. – »Die Wahrheit ist eine Teufelin!«

Er stand starr, hoch aufgerichtet da und seine Augen blickten forschend in seines Neffen Antlitz. Sein sonstiger Optimismus schien Schelton ein ergreifendes Durcheinander zu sein – ein Gemisch von Zärtlichkeit und Unduldsamkeit, von Wahrheit und Verschlagenheit. Wie der Löwe über seinem Haupt, schien er dem Leben Trotz zu bieten, auf daß es ihn zwinge, es anzuschauen.

»Nein, mein Lieber,« sagte er und reichte dabei einem Straßenfeger eine Sechspence-Münze, »Gefühle sind Schlangen! Man muß sie stets in Flaschen unter luftdichten Pfropfen aufbewahren. Kommst du nicht mit in meinen Klub? Well, dann good-bye, mein Junge; grüße mir bestens deine Mutter, wenn du sie siehst.« Und er schritt den Square hinauf und ließ Schelton zurück, der in seinen eigenen Klub ging. Er fühlte, daß er nicht von seinem Oheim, sondern von der Nation Abschied genommen hatte, der sie beide gemeinsam angehörten durch Geburt, Blut und Erziehung.



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