John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Zehntes Kapitel

Hoch zu Ross

»Wohin nun?« So fragte Antonie und schwenkte, als sie beide in die High Street in Oxford City einbogen, ihre braune Stute herum. »Ich will zurück nicht denselben Weg, Dick!«

»Wir könnten im Galopp nach Port Meadow sprengen, dort den Upper River zweimal kreuzen und auf diese Weise nach Hause kommen. Aber du bist wohl schon zu müde.«

Antonie schüttelte den Kopf. Schräg über ihre Wange warf der Rand des Strohhutes eine geschweifte Schattenlinie, ihr Ohr glühte durchsichtig in der Sonne.

Seit jenem Kuß war eine Veränderung in ihren Beziehungen eingetreten . . . Äußerlich war sie ihm dieselbe gute Kameradin, kühl und rasch. Aber so, wie man vor einem Witterungswechsel eine feine Veränderung in der Temperatur des Windes spürt, so ward Schelton von dem inneren Umschlag in ihr berührt . . . Er hatte ihr Zutrauen befleckt; und obwohl er den Fleck zu beseitigen versucht hatte, es blieb doch ein Makel zurück, der unauslöschbar war. Nicht umsonst gehörte Antonie der englischen Nation, diesem höchstzivilisierten Teil der höchstzivilisierten Rasse der Erde an, und deren Glaubensbekenntnis wie folgt lautet: »Wir mögen lieben und hassen, wir mögen arbeiten und heiraten – nie aber laßt uns das Dekorum nach außen hin vergessen! Letzteres zu tun, bedeutet einen Makel und ist unverzeihlich. Lasset denn unsere Lebensläufe wie unsere Gesichter sein: frei von allen Arten von Runzeln, selbst denen des Lächelns. Nur auf diese Weise können wir uns als den Triumph der Zivilisation rühmen!«

Er empfand es, daß sie durch einen unklaren Verdruß um ihre gute Laune gebracht war. Vielleicht wäre es sogar ganz natürlich gewesen, daß er die Wahrung der Form vergaß und solches ließ sie über ihn bloß staunen; aber daß er ihr zu verstehen gab, sie hätte die Wahrung der Form verletzt, das stand auf einer ganz anderen Seite, war eine weit ernstere Sache . . .

»Wenn du nichts dagegen hättest, frage ich in Bishopshead an, ob Briefe für mich eingetroffen sind?« sagte er, als sie an dem alten Hotel vorüber kamen.

Ein schmutziges und dünnes Couvert ward ihm gebracht. Es war an »Mr. Richard Schelton, Esqu.« adressiert und zwar in einer so leidenschaftlich leserlichen Handschrift, daß angenommen werden mußte, der Absender habe seine ganze Seele in die Zustellung dieses Briefes gelegt . . . Er war drei Tage zurück datiert, und während sie weiterritten, las Schelton die folgenden Zeilen:

»Imperial Peacock Hotel
in Folkestone.      

Mon cher Monsieur Schelton!

»Dies ist bereits das dritte Mal, daß ich die Feder ergriffen habe, um Ihnen zu schreiben; aber, da ich Ihnen nichts als Unglück mitzuteilen habe, zögerte ich immer wieder und wollte auf bessere Tage warten. Tatsächlich, ich bin so sehr und aufs tiefste entmutigt gewesen, daß ich, wenn ich es nicht als meine Pflicht erachtet hätte, Sie über mein Befinden zu unterrichten, selbst jetzt nicht weiß, ob ich die nötige Fassung dazu gefunden hätte. Les choses vont de mal en mal.Die Dinge gestalten sich immer schlechter So viel ich vernehme, hat es hier noch nie eine so schlechte Saison gegeben. Nichts geht. Und dennoch werde ich von einem Pöbelhaufen von Kleinlichkeiten, der mir aber nicht genügend einträgt, um mein Leben fristen zu können, wie auf die Folter gespannt. Ich weiß nicht, was ich anfangen soll; nur eine Sache ist gewiß: auf keinen Fall warte ich die Wiederkehr eines neuen Jahres hier ab. Der Patron dieses Hotels, mein gütiger Arbeitgeber, ist einer jener unzähligen Musterexemplare, die weder falschmünzen noch stehlen, weil sie es nicht nötig haben, und wenn ja, nicht den nötigen Mut dazu hätten; die die Ehegesetze streng befolgen, da man sie im Glauben an diese erzog, und auch wissen, daß, sie zu brechen, ein Risiko und den Verlust des guten Leumunds mit sich führt; die nicht spielen, weil sie sich nicht trauen; nicht trinken, weil es ihnen nicht bekömmlich ist, in die Kirche gehen, weil ihre Nachbarn auch gehen und um das Mittagmahl mit gutem Appetit zu genießen; die keinen Mord verüben, weil sie sich, da sie in keiner anderen Weise sich einer Übertretung schuldig machen, dazu nicht genötigt finden . . . Was ist in solchen Leuten vorhanden, das der Achtung würdig wäre? Und doch sind gerade sie ungemein hochgeschätzt und bilden drei Viertel der Gesellschaft . . . Die oberste Lebensregel dieser guten Gentlemen ist es, ihre Augen zu schließen, ihr Denkvermögen nie zu gebrauchen und die Tür vor allen von den Hunden des Lebens Gehetzten geschlossen zu halten, aus Furcht, von jenen auch gebissen zu werden . . .«

Schelton hielt inne. Er war sich bewußt, daß Antonies Augen mit jenem erstaunt-fragenden Blick, den er bei ihr zu fürchten gelernt hatte, auf ihn gerichtet waren. Mit diesen fröstelnden, stummen Fragen schien sie zu sagen: »Ich warte . . . Ich bin auch bereit, Aufschlüsse entgegen zu nehmen – nämlich nützliche Aufschlüsse – Aufschlüsse, die einem behilflich sind, zu einem festen vernünftigen Glauben zu gelangen, ohne das Risiko allzu vielen Nachdenkens auf sich nehmen zu müssen . . .«

»Der Brief ist von dem jungen Ausländer,« sprach er; und er setzte die Lektüre leise fort:

»Ich habe Augen, um zu sehen; und nun bin ich hier. Ich habe eine Nase pour flairer le humbugum den Betrug aufzuspüren . . . Ich erkenne, daß unter allen Werten keiner dem des ›freien Gedankens‹ gleich kommt. Alles andere kann mir geraubt werden, on ne peut pas m'ôter cela!das kann man mir nicht wegnehmen! Hier erblicke ich keine Zukunft für mich und wäre gewiß schon längst abgereist, wenn ich nur das Reisegeld besäße. Aber wie ich Ihnen bereits sagte, alles, was ich zuwege bringe, reicht kaum dazu hin, mir das de quoi vivredas zum Leben Nötige zu verschaffen . . . Je me sens écoeuré. Beachten Sie meine Jeremiaden nicht allzu sehr. Sie wissen, welch ein Pessimist ich bin . . . Je ne perds pas courage.Ich verliere nicht den Mut

»In der Hoffnung, daß Sie wohlauf sind und mit freundschaftlichem Händedruck verbleibe ich

Ihr sehr ergebener

Louis Ferrand.«

Er ritt mit dem offenen Brief in seiner Hand; finster blickend, tadelte er sich ob des merkwürdigen Aufruhrs, den Ferrand in seinem Herzen erregte . . . Ihm war zumute, als ob dieser ausländische Landstreicher an eine in seinem Innern vernachlässigte Saite, die die Wehklagen der Auflehnung erklingen ließ, gerührt hätte . . .

»Was schreibt er dir?« fragte Antonie.

Sollte er ihr den Brief zeigen? Wenn er dies schon jetzt über sich brachte, was würde er erst dann tun, wenn sie verheiratet wären?

»Ich verstehe ihn nicht ganz,« sagte er endlich; »nichts besonders Erfreuliches . . .«

»Wie ist er denn eigentlich, Dick – ich meine, wie ein Gentleman, oder wie was?«

Schelton unterdrückte eine Anwandlung des Lachens.

»In einem Salonanzug sieht er sehr elegant aus,« antwortete er; »sein Vater war ein Weinhändler.«

Antonie versetzte ihrem Schoßrock einen Schlag mit ihrer Reitgerte.

»Ganz natürlich,« flüsterte sie, »ich will nichts hören, wenn es Etwas ist, was eine Lady nicht hören soll . . .«

Aber anstatt ihn zu besänftigen, übten diese Worte eine gegenteilige Wirkung auf Schelton aus. Sein Begriff einer idealen Gattin war denn doch kein solcher, daß ihr die Hälfte des Lebens verschwiegen werden müßte.

»Nein, nein,« stammelte er, »es ist nur so, daß die Sache nicht erfreulich ist . . .«

»Nun, dann laß' es lieber gut sein!« rief sie und flog, ihr Pferd berührend, ihm voraus. »Traurige Dinge sind mir verhaßt.«

Schelton biß sich in die Lippen. Es war nicht sein Fehler, daß die halbe Welt in Dunkelheit lag. Er verstand es, ihre Worte richteten sich wohlweislich gegen ihn. Und wie immer, wenn sie ein Zeichen des Mißvergnügens gab, stieg ein Bangen in ihm auf. Er galoppierte ihr auf dem ausgedörrten Turf eilends nach.

»Was ist los?« fragte er. »Du bist mir wohl gar böse?«

»Oh nein!«

»Mein Liebling, ich kann nichts dafür, wenn die Verhältnisse unseres Lebens und der Gesellschaft so wenig erfreulich sind . . . Wir haben Augen,« fügte er, den Brief zitierend hinzu.

Antonie blickte ihn nicht an. Wieder streifte sie ihr Reitpferd.

»Well, ich will aber die düstere Seite des Lebens nicht sehen,« sprach sie, »und ich kann es nicht begreifen, warum du sie sehen mußt . . . Es ist gottlos und sündhaft, unzufrieden zu sein . . .« Und sie galoppierte wieder voraus.

Es war ja gewiß nicht sein Fehler, wenn es tausenderlei verschiedene Menschen, tausenderlei verschiedene Gesichtspunkte außerhalb der Pfähle ihrer persönlichen Erfahrung gab. »Ist es die Sache unserer Klassen,« dachte er, seine stumpfen Sporen einsetzend, »sich als Gönner aufzuwerfen? Sind wir doch die einzigen Menschen, die keine Idee davon haben, was das Leben wirklich bedeutet . . .« Torfschnitzel und Staub flogen zurück und stachen sein Gesicht. Er kam ihr wieder nach, holte sie bis in fast greifbarer Nähe ein, ward aber dann, als ob sie mit ihm gespielt hätte, hoffnungslos zurückgelassen.

Sie neigte sich bei der dichten Hecke und fächelte ihr rot übergossenes Gesicht mit Ampferblättern.

»Aha, Dick! Wußte ich's doch, du würdest mich nie einfangen . . .« Und sie liebkoste mit gelindem Handschlag die braune Stute, die ihre außer Atem gebrachte Schnauze in verachtungsvollem Humor Scheltons Roß zuwandte, während ihre Flanken krampfhaft zitterten und allmählich im Schweiße dunkelten.

»Wir täten wohl besser daran, in ruhigem, ständigem Schritt zu reiten,« knurrte Schelton unwirsch, stieg ab und machte seinen Sattelgurt loser, »wenn wir überhaupt nach Hause kommen wollen . . .«

»Sei doch nicht so mürrisch, Dick!«

»Wir hätten die Pferde nicht so abgaloppieren sollen, ihr Zustand verträgt es nicht . . . Wär's nicht besser, wenn wir auf demselben Weg, auf dem wir kamen, wieder heimritten?«

Antonie ließ die Zügel fallen und brachte ihre Frisur in Ordnung.

»Das ist gar kein Spaß,« sagte sie. »Hinaus und wieder zurück. Mir ist ein solcher Hundegang verhaßt.«

»Very well,« sagte Schelton. Schließlich würde er sie dadurch länger für sich haben!

Höher und höher bergauf führte die Straße, und vom Gipfel aus sah man die Vision des Angelsachsentums in Wellen von Wäldern und Weideland enthüllt unter sich . . . Ihr Weg abwärts zweigte dann ab, an einer tief unten liegenden ausgangslosen Waldlichtung vorbei, und Schelton machte sich näher heran, bis sein Knie die rechte Weiche der Stute berührte.

Antonies Profil ließ berückende Bilder vor ihm aufsteigen . . . Sie war die Jugendfrische selbst. Ihre Augen strahlten so unschuldig, ihre Wangen waren so glühend und die Augenbrauen so glatt und ruhig . . . Aber in ihrem Lächeln und der Kinnhaltung lag etwas Resolutes und Unheilverkündendes . . . Schelton streckte seine Hand nach der Mähne der Stute aus.

»Was veranlaßte dich, mir die Ehe zu versprechen?« fragte er.

Sie lächelte.

»Well, was veranlaßte dich dazu?«

»Mich?« rief Schelton aus.

Sie streichelte seine Hand mit ihrer Hand.

»Oh, Dick!« seufzte sie.

»Ich möchte,« stammelte er, »dir alles, alles sein . . . Glaubst du, daß das möglich ist?«

»Natürlich!«

Natürlich! Dieses Wort konnte sehr viel, aber auch sehr wenig bedeuten.

Sie blickte hinunter auf den Fluß, der unterhalb der Waldlichtung wie eine geschweifte Silberlinie dahinglitzerte. »Dick, es gibt eine solche Menge herrlicher Dinge, die wir beide uns leisten könnten . . .«

Meinte sie unter diesen herrlichen Dingen auch dieses: daß sie einander zu verstehen vermochten? – oder sollte es auch ihr Schicksal bleiben, sich dies in altehrwürdiger Weise nur vorzugaukeln?

In einem Fährboot kreuzten sie den Fluß und ritten lange Zeit in Stillschweigen einher, während langsam hinter den Espen das Zwielicht sich herabsenkte. Und alle Schönheit des Abends mit seinen ruhelosen Blättern, seinem ernsten, jungen Mond und hell beleuchteten Lychnisblumen, das war nur ein Teil von ihr . . . Die Düfte, der Abendzauber und die Schatten, die phantastischen Geräusche der Felder, das Pfeifen des Bauerntölpels und das Platschen der Wasservögel, alles und jedes schien ihm so unendlich entzückend. Die flatternden Fledermäuse, die Umrisse der düstern Heuschober und das Parfüm der Dünenrose – sie, sie war der Inbegriff von alledem . . . Unterhalb ihrer Augen hatten sich die zarten Fingerzeichen vertieft, eine sanfte Mattigkeit umschlang sie, machte sie noch süßer und jugendlicher. Auf ihren Schultern schien – züchtig und strebsam, feurig und doch selbstbeherrschend – das Urebenbild Altenglands zu thronen; bevor sich dieses Landes bemächtigte das zähnefletschende Grinsen der Habgier, die Umschlingung durch den Reichtum, das einfältiggezierte Lächeln der dünkelhaften Selbstgefälligkeit . . . Blond, unbewußt, frei!

Und pochenden Herzens verharrte er im Schweigen.



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