John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Elftes Kapitel

Der Strichvogel

Als sich Schelton in jener Nacht, die dem Ritte folgte, zu Bette begeben wollte, fielen seine Augen auf Ferrands Brief und mit einem etwas schläfrigen Pflichtbewußtsein begann er, ihn zum zweiten Mal durchzulesen . . . Das Licht einer Kerze fiel auf sein Himmelbett, auf dessen Rückwand von Damaskuspurpur und köstlich-feinen Bettüberzügen in dem dunklen, eichengetäfelten Schlafgemach. Der kupferne Wasserkrug in dem Waschbecken, die Silbereinfassung seiner Bürstchen und die horizontale Linie seiner hellglänzenden Schuhe – alles leuchtete, und nur Scheltons Antlitz war düster, als er auf das gelbliche Papier in seiner Hand starrte . . .

»Der arme Teufel will natürlich Geld,« dachte er. Allein, warum fortwährend einem Menschen helfen, der keinerlei Ansprüche an ihn hatte, ein hoffnungsloser Fall, unrettbar verloren war – den untergehen zu lassen es sogar seine Pflicht zugunsten des sozialen Gemeinwohles wäre? Ferrands Vagabondage-Geschliffenheit hatte ihn in eine übel angebrachte Philanthropie hineingezerrt, die er eher Hospitälern oder irgend welchen Werken der Barmherzigkeit – ausländischer Missionäre ausgeschlossen – hätte zuwenden sollen . . . Es war doch nur ein ganz sentimentaler Unsinn, irgend einem Mitmenschen, ohne sonderliches Anrecht darauf, eine hilfreiche Hand, ein Stückchen seines Selbst, ein kameradschaftliches Zunicken zu gewähren – bloß, weil es ihm von ungefähr sehr schlecht erging . . . Hier mußte doch endlich einmal eine Grenzlinie gezogen werden . . . Aber während er dieses Selbstgespräch führte, schmerzte ihn ein stechender Gewissensbiß der Ehrlichkeit. »Humbug! Du willst dein Geld schonen, das ist alles!«

So schrieb er denn, in Hemdärmeln sich an seinem Schreibtisch niederlassend, die folgenden Zeilen auf das mit krönendem Helmschmuck über der Holm-Oaks-Adresse eingeprägte Schreibpapier:

Mein lieber Ferrand!

Es tut mir sehr leid, daß Sie eine so böse Zeit des Mißgeschicks durchmachen müssen. Sie schreiben, Sie seien, von allem und jedem Glücke verlassen. Ich hoffe, daß Sie, bei Erhalt dieser Zeilen, sich doch schon in besserer Lage befinden. Ich möchte Sie ungemein gern wiedersehen und mit Ihnen ein wenig plaudern. Leider werde ich noch einige Zeit auswärts weilen und zweifle sogar, ob es mir möglich sein wird, sobald ich zurück bin, einen Sprung zu Ihnen zu machen und Sie aufzusuchen. Halten Sie mich au courantAuf dem Laufenden bezüglich Ihres Tuns und Treibens. Anbei ein Scheck.

Mit aufrichtigem Gruß Ihr

Richard Schelton.«

Noch bevor er sich an die Ausstellung des Schecks machte, flatterte eine Motte rings um die Kerzenflamme und lenkte seine Aufmerksamkeit ab. Es verging geraume Zeit, ehe er sie gefangen und getötet, und mittlerweile hatte er gänzlich vergessen, daß er den Scheck noch nicht beigelegt hatte. So kam es, daß der Brief ohne Beilage aufgegeben wurde, da er, ehe Schelton erwachte, zusammen mit seinen Kleidern hinausgetragen ward.

Eine Woche später saß er eines Morgens in Gesellschaft jenes Mabbey genannten Gentlemans im Rauchersalon. Dieser erzählte ihm gerade, wie viele Birkhühner er am 12. August vorigen Jahres ihres Lebens beraubt hatte, und wie viele er am 12. August laufenden Jahres ihres Lebens zu berauben beabsichtige, als sich die Tür öffnete, und der Haushofmeister eintrat. Er trug seinen Kopf mit der Miene eines Mannes, der ein unheilvolles Geheimnis hütet.

»Sir, ein junger Mann wünscht, Sie zu sprechen,« raunte er, sich diskret zu ihm niederbeugend, Schelton zu. »Ich weiß freilich nicht, ob es Ihr Wunsch ist, ihn zu empfangen.«

»Ein junger Mann!« wiederholte Schelton. »Wie sieht er denn aus, dieser junge Mann?«

»Meiner Ansicht nach, eine Art von Ausländer, Sir,« antwortete apologetisch der Haushofmeister. »Er trägt einen Schlußrock, scheint aber ziemlich viel zu Fuß gegangen zu sein.«

Hastig erhob sich Schelton; diese Schilderung klang ihm in der Tat sehr ominös.

»Wo ist er?«

»Sir, ich hieß ihn in dem Zimmerchen der jungen Damen warten.«

»All right,« sagte Schelton; »ich komme gleich, ihn zu sprechen . . . Was zum Teufel soll das bedeuten!« dachte er, die Stiege hinablaufend.

Eine merkwürdige Mischung von Vergnügen und Ärger wallte in ihm auf, als er das den jungen Damen als Rumpelkammer dienende, den Vögeln, Haustieren, Ballspielgegenständen und Golfspielklubs geweihte Kämmerchen betrat. Unter einem Kanarienkäfig stand Ferrand. Seine Hände lagen gefaltet auf seinem zusammengepreßten Hut, indes auf seinen Lippen ein nervöses Lächeln war. Bis oben zugeknöpft, war er in Scheltons alten Schlußrock gekleidet, und sein Aussehen wäre dem einer Modefigur nicht unähnlich gewesen, hätte man ihm nicht die ermüdenden Reisestrapazen angesehen. Auch trug er einen Zwicker auf der Nase, der gewissermaßen seine zynischen blauen Augen verschleierte und ein wenig in Widerstreit mit seinem sonstigen heidnischen ungezwungenen Aussehen stand. Inmitten der ihm fremdartigen Umgebung bewahrte er sich jenes ihm eigene Auftreten eines Wissenden, alles Durchschauenden und das Getue eines Schmiedes seines Eigenschicksals, worin eben vornehmlich der Reiz seiner Persönlichkeit bestand.

»Freut mich, Sie zu sehen,« sprach Schelton und streckte ihm seine Hand entgegen.

»Verzeihen Sie, daß ich mir die Freiheit nahm,« hob Ferrand an, »aber ich meinte, nach allem, was Sie für mich getan haben, es Ihnen schuldig zu sein, von meinen Bemühungen, eine passende Beschäftigung in England zu finden, nicht Abstand zu nehmen, ohne Sie vorerst davon wissen zu lassen . . . Ich bin vollständig am Ende meiner Hilfsquellen angelangt.«

Diese Phrase machte auf Schelton den Eindruck, sie schon einmal zuvor gehört zu haben.

»Aber ich schrieb Ihnen doch,« sagte er, »haben Sie meinen Brief nicht erhalten?«

In des Vaganten Gesicht flackerte es auf. Er zog den Brief aus seiner Tasche und reichte ihm denselben.

»Monsieur, hier ist er.«

Schelton starrte ihn verblüfft an.

»Ich sandte Ihnen doch,« sagte er, »sicher auch einen Scheck mit?«

Diesmal lächelte Ferrand nicht. In seinem Wesen lag ein Etwas, als ob Schelton, indem er vergaß, jenen Scheck beizulegen, ihm eine schwere Beleidigung zugefügt hätte . . .

Schelton konnte einen Blick des Zweifels nicht verbergen.

»Natürlich,« sagte er, »ich – ich – wollte wohl in der Tat einen Scheck beilegen . . .«

Zu feinfühlig, darauf zu erwidern, kräuselte Ferrand seine Lippe. »Ich bin zu sehr Vielem fähig, aber dessen denn doch nicht . . .« schien er zu sagen. Und Schelton empfand mit einem Male die Niedrigkeit seines Zweifels.

»Dumm von mir . . .« sagte er.

»Ich hegte nicht die Absicht, hier einzudringen,« rief heftig bewegt Ferrand aus; »ich hoffte, Sie gelegentlich in der Umgebung zu treffen, aber völlig erschöpft vor Müdigkeit kam ich hier an. Seit gestern Morgen habe ich nichts gegessen und bin dreißig Meilen zu Fuß gegangen.« Er zuckte die Achseln. »Sie sehen selbst, ich hatte es sehr eilig damit, mich zu vergewissern, ob Sie hier wären oder nicht . . .«

»Natürlich . . .« fing Schelton an, aber er hielt abermals inne . . .

»Ich würde,« fuhr der junge Ausländer fort, »es irgend einem Ihrer Gesetzgeber von ganzem Herzen vergönnen, sich in diesen Dörfern auf dem Lande mit nur einem Penny in der Tasche zu befinden. In anderen Ländern sind die Bäcker dazu verhalten, auch für den Wert eines Penny Brot zu verkaufen; hier aber verkaufen sie kaum so viel wie eine Kruste für zwei Pence. Engländer ermutigen eben die Armut nicht . . .«

»Was beabsichtigen Sie nun zu tun?« fragte Schelton im Bemühen, Zeit zu irgend einem Entschluß zu gewinnen.

»Wie ich Ihnen schon mitteilte,« antwortete Ferrand, »habe ich in Folkestone nichts zu tun, obwohl ich dort geblieben wäre, wenn ich das Geld zur Bestreitung gewisser Kosten gehabt hätte . . .« Und wieder klang es seinem Gönner wie ein stiller Vorwurf wegen des Ausbleibens jenes Schecks. »Man behauptet dort, daß gegen Monatsende sich die Verhältnisse ganz gewiß bessern würden. Da ich nun gut Englisch spreche, dachte ich, mir vielleicht eine Position als französischer Sprachlehrer zu verschaffen . . .«

»Ich verstehe,« sagte Schelton.

Tatsächlich jedoch war er von jedem Verständnis weit entfernt; er wußte buchstäblich nicht, was anzufangen sei. Ferrand einfach Geld zu geben und ihm die Tür zu weisen, das erschien ihm doch als zu brutal. Außerdem hatte er unglücklicherweise keines bei sich.

»Um all das zu ertragen, was ich diese Woche durchgemacht habe, muß man Philosoph sein,« sagte achselzuckend Ferrand. »Letzten Mittwoch, als ich Ihren Brief erhielt, bestand mein ganzes Vermögen aus sechzehn Pence und sofort faßte ich den Entschluß, zu Ihnen zu gehen, um Sie zu sprechen. Mit dieser Summe habe ich die Reise zurückgelegt . . . Meine Kraft ist fast zu Ende.«

Schelton streichelte sein Kinn.

»Well, wir müssen uns die Sache überlegen,« hatte er soeben zu sagen begonnen, als er an dem Ausdrucke von Ferrands Gesicht bemerkte, daß irgend jemand in die Kammer gekommen war. Er wandte sich um und sah Antonie im Türrahmen stehen. »Entschuldigen Sie mich,« stammelte er; und auf Antonie zugehend, zog er sie von der Kammer hinweg.

Lächelnd sprach sie sofort: »Das ist der junge Ausländer? Ich bin dessen gewiß. Oh, welch ein Spaß!«

»Ja,« antwortete langsam Schelton. »Er kam, mich zu sprechen, ob ich ihm irgend einen Lehrerposten oder sonst etwas verschaffen könnte. Glaubst du, daß deine Mutter etwas dagegen hätte, wenn ich ihn hinaufnähme, damit er sich wäscht? Er hatte ziemlich lang zu gehen. Und kann er ein Frühstück bekommen? Er muß wohl hungrig sein.«

»Natürlich! Ich erteile Dobson gleich den Auftrag. Soll ich zu Mutter darüber sprechen? Er macht einen recht netten Eindruck, Dick.«

Er warf ihr verstohlen einen dankbaren Blick zu und ging zu seinem Gast zurück. Einem unerklärlichen Impuls nachgebend, hatte er ihr die wahre Sachlage verheimlicht.

Ferrand stand noch immer, wo er ihn gelassen. Auf seinem Antlitz lag die Maske verbissener Unbeweglichkeit.

»Kommen Sie mit hinauf in mein Zimmer!« sagte Schelton. Und während sein Gast sich wusch, abbürstete und auf sonstige Weise seine äußere Person verschönerte, überlegte er bei sich, daß Ferrand doch keineswegs nicht vorstellungsfähig wäre; und im Stillen dankte er ihm dafür.

Als der junge Mann ihm den Rücken kehrte, benützte er die Gelegenheit, das Kontrollblatt seines Bankguthabens einzusehen . . . Ganz natürlich, es gab keinen von Ferrand präsentierten Scheck – und Schelton fühlte sich noch gemeiner als vorher.

Mrs. Dennant sandte einen Bescheid. So nahm er denn den Wanderer nach dem Speisesaal und ließ ihn dort, während er selbst zur Lady des Hauses empor stieg. Er begegnete Antonie, die die Stiege herabkam.

»Wie viele Tage ging er damals ohne Nahrung herum – du weißt schon?« fragte sie im Vorübergehen.

»Vier.«

»Er sieht nicht im Geringsten ordinär aus, Dick.«

Unsicher sah sie Schelton an.

»Man wird doch nicht etwa ein Schaustück aus ihm machen wollen!« dachte er.

Mrs. Dennant – in einem dunkelblauen, mit weißen Sternen übersprenkelten Kleid, dessen feiner Batistkragen mit schwarzem Samt umwunden war – schrieb eifrig.

»Haben Sie schon die neue Hybride gesehen, die Algy mir von Kindstone mitbrachte? Ist sie nicht reizend?« Und sie beugte ihr Antlitz zu der prachtvollen Rose herab. »Man behauptet, sie sei einzig in ihrer Art. Ich bin schrecklich begierig darauf, auszufinden, ob das wahr ist. Ich habe schon zu Algy gesagt, ich muß mehrere davon bekommen.«

Scheltons Gedanken beschäftigten sich mehr mit der einzigartigen Hybride, die unten frühstückte; und er wünschte nur, Mrs. Dennant sollte ihm so viel Interesse entgegenbringen, wie sie für die Rose bekundete . . . Allein er wußte, daß sein Wunsch absurd sei, da das mächtige Gesetz der Steckenpferde die höheren Klassen Englands beherrschte und sie zwang, sich mehr zu interessieren für Vögel und Rosen, Missionäre oder auf private Kreise beschränkte und prunkvoll gebundene Ausgaben alter Bücher – mit einem Worte für Dinge, bei deren Behandlung man nicht den Boden unter den Füßen verlor –, als für die Äußerungen des alltäglichen Lebens, die ihnen vor Augen traten.

»Ach ja, Dick, wegen jenes jungen Franzosen. Antonie sagt, er wünscht eine Lehrerstelle. Nun, können Sie ihn mir wirklich empfehlen? Da wäre Mrs. Robinson zu Gateways, die irgend jemand zum Sprachunterricht für ihre Knaben sucht. Und falls er sehr und vollkommen zufriedenstellend sein sollte, dann wäre es auch für Toddles wirklich schon hohe Zeit, einige französische Stunden zu nehmen . . . Im nächsten Halbjahr geht er nach Eton ab.«

Schelton starrte auf die Rose. Ihm war plötzlich zum Bewußtsein gekommen, warum bessere Leute sich mehr für Rosen als für Menschen interessieren – man konnte ersteres mit ruhigerem Gemüte tun . . .

»Du mußt aber wissen, er ist nicht Franzose:,« sagte er, um einen kleinen Zeitvorsprung zu gewinnen.

»Er ist doch kein Deutscher, hoffe ich,« antwortete Mrs. Dennant und ließ, um sich dessen Formen gut im Gedächtnis einzuprägen, ihre Finger rund um ein Blumenblatt gleiten. »Ich habe Deutsche nicht gern . . . Ist das nicht der, über den Sie uns schrieben – er sei so tief heruntergekommen in der Welt? Wie traurig ist so etwas für einen jungen Menschen! Sein Vater sei Kaufmann gewesen, sagten Sie uns, glaube ich . . . Antonie teilt mir mit, er biete immerhin einen recht wohlerzogenen Anblick dar . . .«

»Oh ja,« sagte Schelton und fühlte wieder festen Grund unter sich, »er hat ein sehr wohlerzogenes Aussehen.«

Mrs. Dennant ergriff die Rose und hielt sie an ihre Nase.

»Ein köstlicher Duft! Wirklich, das war eine höchst rührende Geschichte, als er ohne Nahrung in Paris umherwanderte . . . Die alte Mrs. Hopkins hat ein Zimmer zu vermieten; ich möchte ihr gern einmal eine Gefälligkeit erweisen. Aber ich fürchte, daß es in der Decke ein Loch hat. Oder das Zimmer bei uns da, auf dem linken Flügel im Parterre, in dem gewöhnlich der Diener John schlief . . . Es ist ganz nett, vielleicht könnte er das haben.«

»Sie sind ungemein gütig,« sagte Schelton, »aber . . .«

»Ich möchte gern etwas für ihn tun, um ihn in seiner Selbstachtung wiederherzustellen,« fuhr Mrs. Dennant fort, »da er, wie Sie mir sagen, so aufgeweckt und auch sonst nicht übel ist. Sieht er nur erst wieder einmal ein geläutertes Leben um sich, so mag das eine ganze Umwälzung bei ihm bewerkstelligen . . . Ach, wie traurig ist es doch, wenn ein junger Mann seine Selbstachtung einbüßt . . .«

Schelton war außerordentlich überrascht ob der erfahrenen Art, mit der sie die Dinge des Lebens beurteilte. Seine Selbstachtung wollte sie wiederherstellen! Wahrlich, das schien ein ganz prächtiger Vorsatz! Er lächelte und sagte:

»Sie sind allzu gütig. Ich denke . . .«

»Es ist nicht meine Art, einmal im Angriff genommene Dinge nur zur Hälfte auszuführen,« sprach feierlich Mrs. Dennant. »Ich nehme an, er ist kein Trinker?«

»Oh nein!« sagte Schelton. »Freilich, ein Bißchen leidet er an der Tabakmanie!«

»Well, das ist eine wahre Gottesgnade! Sie würden mir nicht glauben, welches Ungemach ich schon wegen des Trinkens auszustehen gehabt habe, besonders mit Köchen und Kutschern . . . Und jetzt verfällt ihm auch schon Bunyan.«

»Oh, mit Ferrand würden Sie keinerlei Ungemach haben,« erwiderte Schelton. »Was sein Benehmen anbetrifft, ist zwischen ihm und einem Gentleman kein Unterschied.«

Mrs. Dennant lächelte mit ihrem doch eigentlich so süßen und liebenswürdigen Lächeln.

»Mein lieber Dick,« sprach sie, »das ist ein geringer Trost. Betrachten Sie doch den armen Bobby Surcingle, schauen Sie sich Oliver Semples und Viktor Medallion an; man könnte sich keine besseren Familien wünschen. Aber wer kann dafür einstehen, daß er nicht trinkt? Natürlich, Algy wird darüber lachen, das tut nichts zur Sache – er lacht über alles«.

Schelton fühlte sich schuldig. Auf eine solch rapide Adoption seines Schützlings war er nicht vorbereitet gewesen.

»Ich glaube in der Tat, daß eine Menge guter Anlagen in ihm steckt,« stammelte er; »allein, ich weiß natürlich sehr wenig über ihn . . . Von dem zu schließen, was er mir erzählte, muß er ein sehr merkwürdiges Leben hinter sich haben. Doch es wäre mir nicht recht . . .«

»Wo empfing er seine Erziehung?« erkundigte: sich Mrs. Dennant. »Wie mir gesagt ward, gibt es in Frankreich keine öffentlichen Schulen. Nun, dafür kann man den armen Kerl nicht verantwortlich machen . . . Oh, noch etwas Dick! – ist er verheiratet, hat er eine Familie zu erhalten? Man muß diesbezüglich sehr vorsichtig sein! Es sind zwei ganz verschiedene Sachen, einem jungen Menschen unter die Arme zu greifen oder aber seiner Familie auch noch helfen zu müssen . . . Sie wissen doch, man begegnet heutzutage sehr häufig solchen Fällen, in denen junge Männer ein Mädchen ohne Mitgift heirateten . . .«

»Er erzählte mir,« antwortete Schelton, »daß seine einzigen Verwandten einige Cousinen seien und diese reich sind.«

Mrs. Dennant zog ihr Taschentüchlein hervor und entfernte, sich über die Rose beugend, ein winziges Insekt.

»Diese Mücken kriechen überall hinein,« sagte sie. »Eine sehr traurige Geschichte; könnten die nichts für ihn tun?« und sie stellte im Innern der Rose Nachforschungen an.

»Ich glaube, es gibt irgend ein Zerwürfnis zwischen ihnen,« sagte Schelton. »Ich wollte mich in seine Privatangelegenheiten nicht allzu sehr einmengen . . .«

»Nein, gewiß nicht,« stimmte Mrs. Dennant zerstreut – sie hatte wieder eine Mücke aufgestöbert – bei, »nur meine ich, es ist immer peinlich, wenn ein junger Mann so ganz freundlos in der Welt steht.«

Schelton schwieg; er dachte angestrengt nach. Nie vorher hatte er dem jugendlichen Ausländer ein solches Mißtrauen entgegen zu bringen für nötig befunden.

»Ich denke,« sagte er endlich, »es wäre wohl das beste, wenn Sie ihn selbst sähen . . .«

»Very well,« sagte Mrs. Dennant. »Bitte, seien Sie so freundlich, ihm zu sagen, er möge heraufkommen. Ich muß gestehen, jene Geschichte über Paris war ungemein rührend . . . Ob jetzt wohl das Tageslicht hell genug ist, damit ich diese Rose photographisch aufnehmen kann, bin sehr neugierig darauf . . .«

Schelton zog sich zurück und begab sich in das untere Stockwerk. Ferrand saß noch immer beim Frühstück. An dem Anrichtetisch stand Antonie und tranchierte Rindfleisch für ihn, und in der Fensternische saß Thea mit ihrem persischen Kätzchen.

Mit unergründlichen blauen Augen folgten beide Mädchen den Bewegungen des Wanderers. Über Scheltons Rücken lief ein Schauer . . . Um die Wahrheit zu sagen, verfluchte er die Ankunft des jungen Mannes, als ob sie seine Beziehungen zu Antonie trübte.



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