John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Dreizehntes Kapitel

Eine »Daheim«-Soiree

Am Dienstagmorgen wanderte er nach Paddington, in der Hoffnung, sie gelegentlich ihrer Fahrt hinunter nach Holm Oaks zu erblicken. Allein die Furcht, sich lächerlich zu machen, die ein Gesetz seiner Erziehung bildete, war mächtig genug, ihn davon abzuhalten, die Station wirklich zu betreten und umher zu spähen, bis sie kommen würde. Mit einem Stich der Enttäuschung lenkte er seine Schritte von Praed-Street zurück nach dem Park, und einmal dort angelangt, versuchte er es nicht mehr, ihr über den Weg zu laufen. Er stattete am Nachmittag eine Runde von Besuchen ab, zumeist bei ihren Verwandten. Er suchte Tante Charlotte auf und erzählte ihr mit Schmerz seine Begegnung in der Row. Jedoch sie fand sie »ziemlich hübsch«, und als er sie mit seinen Ansichten bedrängte, murmelte sie, das sei »ganz romantisch gewesen; nicht wahr?«

»Und doch fällt es mir so schwer,« sagte Schelton; und er verließ sie trostlos.

Während er sich zum Diner umkleidete, fiel sein Auge auf eine Karte, welche die »Daheim«-Soiree bei einer seiner eigenen Basen meldete. Ihr Gemahl war ein Komponist und Schelton hatte eine vage Idee, daß er im Hause eines Tondichters eine ganz ungewöhnlich freigeistige Atmosphäre antreffen würde. Nachdem er im Klub gespeist hatte, fuhr er deshalb nach dem Stadtteil Chelsea. Die Soiree fand in einem großen Zimmer im Hochparterre statt, das, als Schelton eintrat, schon voller Leute war. Man stand oder saß in Gruppen, und auf aller Lippen lag ein Lächeln; und aus den ballonartigen Lampen fiel das Licht in kleinen Flecken auf die Köpfe und Hände und Schultern aller Anwesenden. Gerade hatte jemand seine eigene Klavier-Komposition zum besten gegeben. Ein Sachverständiger hätte in der Beifall spendenden Gesellschaft im Nu diejenigen ausfindig machen können, die von Beruf Musiker waren, denn ihre Augen funkelten, und eine gewisse Herbheit erfüllte ihre Begeisterung. Die Freimaurerei beruflicher Unduldsamkeit flog hier gleichwie ein Hauch der Einmütigkeit von einem zum andern, und das leise Achselzucken war so harmonisch und selbstverständlich, wie wenn einer der hohen Fensterflügel plötzlich aufgegangen wäre und einen Windstoß kühler Mailuft hereingelassen hätte.

Schelton bahnte sich seinen Weg zu seiner Base – einer gebrechlichen, grauhaarigen Frau in schwarzem Samt und mit venetianischen Bändern, deren sternhelle Augen ihn anblinkten, bis ihre Pflichten, wie es eben der Brauch dieser geselligen Unterhaltungen erforderte, sie gerade dann nötigten, das Gespräch abzubrechen, als es ihn zu interessieren begann. Er wurde an eine andere Dame abgetreten, die bereits zu zwei Herren sprach, und da ihre Zungenfertigkeit größer war als seine eigene, geriet er in die Lage des Beobachters. Statt der tiefsinnigen Probleme, deren Erörterung er hier denn doch zu vernehmen erwartet hatte, schien jedermann nur zu schwatzen oder in das Innere nur solcher Gesprächsthemata eindringen zu wollen, wie etwa, wo man den Sommer verbringen werde, wie neue Dienstboten zu bekommen wären. Tändelnd mit Kaffeeschalen, sezierten sie ihre Kunstkollegen in ziemlich derselben Weise, in der neulich des Abends seine Freunde aus der feinen Gesellschaft ihren »flotten« fidelen Tee sezierten. Und der Firnis des Fußbodens, der Gemälde und des Pianos spiegelte sich in aller Gesichter ringsherum wieder. Betrübt bewegte sich Schelton von Gruppe zu Gruppe.

Unter einem japanischen Stahlstich stand eine hochgebaute, eindrucksvolle männliche Person und hielt die innere Fläche einer Hand vor sich ausgebreitet. Ihr schwerfälliger Rumpf und die dünnen Beine torkelten in harmonischer Übereinstimmung mit der sich einschmeichelnden Stimme.

»Nehmen Sie die Frauenfrage,« so sprach er; »nun, ich erachte die englischen Ehegesetze für barbarisch.«

Zum erstenmal empfand Schelton vor ihnen Achtung. Er machte eine verständnisvolle Geste und drang in die Unterhaltung einer anderen Gruppe ein, da er sonst befürchten mußte, den Umsturz aller seiner Vorurteile zu erleben. Hier stand in einem Halbkreis ein irischer Bildhauer, der wütend behauptete: »Blumenwespen befinden sich nicht in Butes ›Botanischen Tabellen‹,Der britische Staatsmann Graf von Bute stellte im 18. Jahrhundert für die Königin, die nur in 12 Exemplaren gedruckten »Botanischen Tabellen« zusammen, welche die Pflanzengattungen Großbritanniens enthalten. zum Teufel noch einmal!« Ein schottischer Maler, der mit krausem Lächeln zuhörte, schien geneigt zu sein, mit dieser Behauptung, die für den englischen Krämerstand von hochwichtiger Bedeutung sein mochte, einen Kompromiß zu schließen. Und wiewohl er mit dem Iren übereinstimmte, fühlte sich Schelton doch nervös werden über dessen quasi elektrischer Entladung. Neben ihnen diskutierten zwei amerikanische Damen, versammelt unter dem einem Liederdichter gehörenden dichten Haargezelt, über die durch Wagnersche Opern in ihnen ausgelösten Gemütsbewegungen.

»Sie versetzen mich in einen ganz sonderbaren Zustand,« sagte die schmächtigere.

»Sie sind geradezu himmlisch,« sagte die üppigere.

»Ich kann es nicht verstehen, wie man fleischliche Lust himmlisch zu nennen vermag,« erwiderte die schmächtigere und blickte dem Liederdichter in die Augen.

Inmitten all des Stimmengewirrs und der Rauchwolken verfolgte Schelton trotzdem ein Gefühl der starren zeremoniellen Förmlichkeit. Zwischen einen Holländer und preußischen Dichter gestellt, konnte er keinen seiner Nachbarn verstehen; er nahm aber einen intelligenten Gesichtsausdruck an und verfiel schließlich der Ansicht, daß selbst eine Versammlung solch erlesener Geister genau so durch die Herkömmlichkeit des Gedankenaustausches gebunden sei, wie alltägliche Leute durch die Herkömmlichkeit ihres Mangels an Ideen, mit denen sie Handel treiben könnten. Er konnte nicht umhin, sich verwundert zu fragen, ob, in Bausch und Bogen genommen, sie nicht genau so abhängig von einander wären wie die Bewohner von Kensington; ob sie, gleich Lokomotiven, sich überhaupt in Bewegung setzen konnten, ohne derlei Gelegenheiten zu haben, den Dampf abzulassen – und was eigentlich von ihnen übrig bliebe, wenn der Dampf sich vollständig verflüchtigt habe? . . . Jemand hörte auf, Violine zu spielen, und ganz nahe von ihm begann eine Gruppe über Ethik zu debattieren. Gleich einer Menge hungriger Gespenster flogen ringsum die Aspirationen des Geistes in der Luft herum. Er begriff – sobald man ihnen solche Zungen verlieh, entschwindet den Ideen, die sonst als Geist in der Seele umgehen, all ihr Wohlgeruch . . .

Wieder spielte der Geiger.

»Ach, du meine Güte!« sprach der preußische Dichter und setzte, als die Fiedel verstummte, hinzu: »Kolossal! Aber wie großartig er ist!«

»Haben Sie den Besons Mist gelesen?« fragte eine schrille Stimme von hinten.

»Oh, mein lieber Junge! Es ist fast zu schrecklich, um es in Worten zu sagen . . . Der Kerl verdient den Galgen!«

»Der Mensch ist furchtbar,« fuhr die Stimme, noch schriller als vorher, fort; »nichts als eine vulkanische Eruption könnte ihn kurieren.«

Bestürzt wandte sich Schelton, um die Schöpfer dieser Auseinandersetzungen zu betrachten. Es waren zwei Literaten, die über einen dritten sprachen.

»C'est un grand naif, vous savez,«Er ist sehr kindisch, wie Sie wissen sagte der zweite der Sprechenden.

»Solche Geschöpfe existieren ja gar nicht,« nahm neuerdings der erste das Gespräch wieder auf. In seinen kleinen Augen blinkte ein grünliches Licht, sein ganzes Gesicht besaß ein Aussehen, als ob er sich selbst zerfressen wollte. Obwohl selbst kein Literat, konnte Schelton doch nicht umhin, aus jenen Augen die Freude abzulesen, die es ihnen bereitete, jene Worte zu sagen: »Solche Geschöpfe existieren ja gar nicht!«

»Armer Beson! Sie wissen doch wohl, was Moulter sagte . . .«

Schelton wandte sich ab, als ob er jemandem zu nahe stünde, dessen Haar von Kantharidin roch. Und als er sich im Saale umblickte, runzelte er, finster dreinschauend, die Stirn. Mit Ausnahme seiner Base, schien sozusagen er die einzige Person englischen Geblütes da zu sein. Sonst waren nur Amerikaner, Mesopotamier, Iren, Italiener, Deutsche, Schotten und Russen anwesend. Darob, weil sie Ausländer, hegte er für sie keinerlei Geringschätzung; es war nun einmal so, daß Gott und ein wenig auch das Klima ihn an Haut und allem übrigen ganz anders gemacht hatten . . .

Allein, in dieser Hinsicht wurden seine Schlußfolgerungen widerlegt – auch solches ereignet sich manchmal –, indem ihm jetzt ein Engländer vorgestellt ward: ein Major Somebody, der, mit glattem Haar und blondem Schnurrbart, netten Augen und noch netterem Anzug, sich ein bißchen über seine eigene Anwesenheit an diesem Ort zu wundern schien. Schelton gewann ihn rasch lieb, teilweise wegen gemeinsamer Interessen, teilweise wegen des zärtlichen Lächelns, mit dem er seine Gattin anblickte. Fast noch ehe er »Wie geht es Ihnen?« gesagt hatte, war er schon in eine Diskussion über den englischen Imperialismus gestürzt.

»Alles das zugegeben,« sagte Schelton, »was ich aber hasse, ist der Humbug, mit dem wir uns rühmen, der ganzen Welt durch unsere sogenannten zivilisatorischen Methoden Wohltaten zu erweisen!«

Der Offizier wandte ihm seine verständigen Augen zu.

»Aber ist das wirklich Humbug?«

Schelton sah sein Argument gefährdet. Wenn man nun wirklich dieser Meinung war, war es dann auch noch Humbug? Immerhin antwortete er:

»Wie können wir, ein kleiner Teil der Bevölkerung der Erde, annehmen, daß unsere Normen und Richtmaße die für jede Rassenart bestgeeigneten sind? Wenn das nicht Humbug ist, dann ist es barer Stumpfsinn.«

Ohne seine Hände aus den Taschen zu ziehen, antwortete der Offizier und zeigte durch eine eifrige Gesichtsbewegung, daß es sowohl aufrichtig als auch gerecht sei:

»Well, ich muß sagen, dann haben wir eine ausgezeichnete Art von Stumpfsinn! Denn durch diesen sind wir die große Nation geworden, die wir heute sind.«

Schelton fühlte sich wie durch einen Schlag betäubt. Rings um ihn schwirrte die Unterhaltung. Er vernahm den lächelnden Propheten, wie er sagte »Altruismus! Altruismus!« und in dessen Stimme schien ein Etwas mitzumurmeln: »Oh, wie sehr hoffe ich, daß ich einen guten Eindruck mache!«

Er blickte auf den scharfgeschnittenen Kopf des Offiziers, mit seinen wohlgestalteten Augen, den winzigen Krähenfüßen in ihren Winkeln, mit dem üblichen Schnurrbart. Er beneidete die Gewißheit der Überzeugungen, die unter jenem wohlgescheitelten Haar lag.

»Mir wäre lieber, wenn wir in erster Linie Menschen und dann erst Engländer sein wollten,« sprach er, kaum vernehmlich. »Ich halte das Ganze für eine Art von nationaler Illusion, und ich kann Illusionen nicht ausstehen.«

»Wenn Sie nun das meinen,« sagte der Offizier, »so lebt die ganze Welt von Illusionen. Ich glaube, wenn man die Geschichte betrachtet, erkennt man bald, daß die Schöpfung von Illusionen stets ihre Obliegenheit gewesen ist, wie Sie wohl wissen dürften!«

Schelton war außerstande, dies zu bestreiten.

»Somit,« fuhr der Offizier – sicherlich ein hochgebildeter Mann – fort, »wenn Sie nur einmal zugestehen, daß jede Bewegung, die Arbeit, der Fortschritt und alles andere dazu sich stets damit abgaben, solche Illusionen zu errichten, daß – hm – sie tatsächlich dasjenige sind, was man – hum – nennen könnte: das Ergebnis des Welten-Crescendo« – bei diesem Satze überstürzte er seine Stimme, als ob er sich seiner schämte – »warum wollen sie sie durchaus zerstören?«

Schelton dachte einen Augenblick nach, seine gefalteten Arme drückten auf seinen Körper; dann entgegnete er:

»Gewiß, die Vergangenheit machte aus uns das, was wir sind, und sie kann nicht ohneweiters zerstört werden. Aber wie steht's mit der Zukunft? Es ist doch sicher die höchste Zeit, etwas frische Luft hereinzulassen. Kathedralen sind wohl prächtige Bauten, und Weihrauchduft hat jedermann gern. Allein, wenn sie seit Jahrhunderten ohne Ventilation geblieben wären, können Sie sich leicht die Atmosphäre in ihnen vorstellen . . .«

Der Offizier lächelte.

»Laut Ihrem eigenen Zugeständnis,« sprach er, »werden Sie nur eine neue Reihe von Illusionen zeugen.«

»Jawohl,« antwortete Schelton, »aber auf jeden Fall werden sie den Gegenwartsbedürfnissen rechtschaffen entsprechen.«

Die Pupillen in den Augen des Offiziers zogen sich zusammen. Offenbar empfand er, daß die Unterhaltung sich in Gemeinplätzen verlor. So entgegnete er nur:

»Ich kann nicht einsehen, wieso es für uns gedeihlich sein soll, uns selbst als eine Bagatelle zu erachten.«

Schelton fühlte sich in Gefahr, als ein unpraktischer Mensch angesehen zu werden; so machte er sich denn durch den Wortschwall dieser Bemerkung ein wenig Luft:

»Man muß stets seiner eigenen Vernunft vertrauen. Ich kann mich selbst nie dazu bereden, an eine Sache zu glauben, an die ich nicht mehr glaube.«

Eine Minute später verabschiedete sich der Offizier mit einem herzlichen Händedruck von ihm. Schelton beobachtete, wie seine höfliche Figur gleich einem Seelenhirten sein Weib davongeleitete.

»Dick, darf ich dich Mr. Wilfrid Curly vorstellen?« sprach die Stimme seiner Base hinter ihm. Und schon spürte er seine Hand schüchtern geschüttelt von einem frischwangigen Jüngling mit kuppelförmig gewölbtem Vorderhaupt, der nervös auf ihn einsprach:

»Wie geht es Ihnen? Ja, ich fühle mich ganz wohl, besten Dank für die Nachfrage!«

Er erinnerte sich nun, daß er schon beim Eintritte diesen Jüngling beobachtet hatte, der in einer Ecke gestanden war und sich insgeheim über alles lustig machte. Er besaß ein ungewöhnliches Aussehen, als ob er in das Leben verliebt wäre, es als ein Wesen ansähe, dem man Fragen über seinen Endzweck stellen könne – interessante, komische und dennoch ernste Fragen. Er war schüchtern, liebenswürdig und selbstbewußt und offenbar Engländer.

»Sind Sie vielleicht ein guter Polemiker?« sprach Schelton, da er nicht wußte, was sonst zu sagen.

Der Jüngling lächelte, errötete, strich sein Haar zurück und antwortete:

»Ja – nein –, eigentlich, ich weiß nicht . . . Ich befürchte, mein Gehirn arbeitet nicht rasch genug, um Argumenten folgen zu können. Sie wissen doch, wie viele Bewegungen der Gehirnzellen auf jede Bemerkung kommen? Eine ungeheuer interessante Sache,« und indem er die Körpermitte in exakt beweisender Form einbog, streckte er die Innenfläche einer Hand aus und begann mit seiner Erklärung.

Schelton starrte auf die Hand des Jünglings, auf sein Stirnrunzeln und die Tapse, die er seiner Stirn versetzte, während er nach Ausdrücken für das suchte, was er sagen wollte; er war von spannendem Interesse. Nun brach der Jüngling ab, schaute auf seine Uhr und, in einem rosigen Hauch errötend, sagte er:

»Leider muß ich schon gehen. Ich muß vor elf in der ›Höhle‹ sein.«

»Auch ich muß gehen,« sagte Schelton. Sie nahmen zusammen Abschied von der Gesellschaft und suchten nach ihren Hüten und Überziehern.



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