John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Zwölftes Kapitel

Sub RosaUnter dem Siegel der Verschwiegenheit

Dem Interview zwischen Ferrand und der Honourablen Mrs. Dennant, dem Schelton beiwohnen zu können das gemischte Vergnügen hatte, entwuchsen gewisse bestimmte Resultate, deren hauptsächliches in der Erlaubnis bestand, der junge Wanderer dürfe das früher von dem Lakaien John inne gehabte Zimmerchen beziehen. Schelton vergaß sich und seine ganze Umgebung in der Bewunderung, die er Ferrands Benehmen während dieser Szene zollen mußte. Seine verschmitzte Kombination von Ehrerbietung und Eigenwürde machte ihn fast sprachlos; sprachlos machte auch das gewissermaßen unterirdische Lächeln auf Ferrands Lippen . . .

»Ganz bezaubernder junger Mann, Dick,« sagte Mrs. Dennant, als Schelton noch unschlüssig zauderte, ob er ihr nicht noch einmal sagen sollte, daß er nur sehr wenig von ihm wisse. »Ich werde sofort ein Billett an Mrs. Robinson senden. Sind ja doch eigentlich einfachere Leute, die Robinsons – Sie begreifen mich . . . Ich glaube, sie werden irgend einen, den ich ihnen empfehle, engagieren.«

»Ich bin dessen gewiß, daß sie's tun werden,« sagte Schelton; »eben deshalb meine ich, daß Sie wissen sollten . . .«

Jedoch Mrs. Dennants inbrünstig-alberne Augen waren schon auf etwas weit Entferntes gerichtet . . . Als er sich umwandte, sah er in einer hohen Vase, auf hohem und spindelbeinigem Gestell, die Rose. Sie schien ihnen zuzunicken im Sonnenscheine. Mrs. Dennant bückte sich mit ihrer Nase zu dem photographischen Apparat herab.

»Das Licht ist nun gerade vorzüglich,« sprach sie, mit einer durch das Einstelltuch gedämpften Stimme. »Ich bin davon überzeugt, das Zusammenleben mit anständigen Leuten wird ihn ganz wunderbar und von Grund auf umwandeln . . . Natürlich, er begreift doch wohl, daß seine Mahlzeiten ihm gesondert serviert werden . . .«

Da es Schelton, dank seinen Bemühungen, gelungen war, seinem Schützling einen Vertrauensposten zu verschaffen, verfiel er wieder der Hoffnung, daß alles sich aufs beste abwickeln würde. Sein Instinkt belehrte ihn, daß Ferrand, so sehr er auch ein urwüchsiger Vagabund sein mochte, denn doch eine ganz seltsame Selbstachtung besaß, die ihn vor jeglicher niederen Undankbarkeit bewahren würde.

Wie Mrs. Dennant, die keineswegs des gesunden Menschenverstandes ermangelte, voraussah, ging die von ihr betriebene Angelegenheit in jeder Weise gut vonstatten. Ferrand trat seine Pflichten als französischer Lehrer der Kleinen im Robinsonhause an. Im Haushalte der Dennant verhielt er sich meist in seinem eigenen Zimmer, das er, Tag und Nacht, durch Tabakrauch parfümierte; des Morgens tauchte er im Garten auf oder, wenn es regnete, im Studierzimmer, wo er den jungen Toddles in Französisch unterrichtete. Nach einiger Zeit wurde es sogar Gewohnheitssache, daß er mit den übrigen Hausbewohnern zusammen gabelfrühstückte, teilweise infolge eines Vorstoßes von Toddles, der dies für ganz natürlich gefunden und teilweise durch John Noble, einen von Scheltons Freunden, der auch Aufenthalt genommen hatte und in Ferrand eine ungeheuer interessante Persönlichkeit entdeckte – in der Tat entdeckte er seit jeher immer wieder ungeheuer interessante Persönlichkeiten . . . In seiner gravitätischen und tonlosen Stimme, sein Haar von den Brauen zurückkämmend, ließ er sich mit Begeisterung in längeren Erörterungen über Ferrand aus, denen eine Art von verärgerter Belustigung beigemischt war. Und es war stets, als ob jemand sagte: »Nun ja, ich weiß natürlich selbst, daß es recht seltsam aussieht, aber wahrhaftig, ich finde doch, daß er eine ungeheuer interessante Persönlichkeit ist . . .«

Denn John Noble war ein Politiker. Er gehörte einer jener zwei ganz besonderen Parteien Englands an, die, anscheinend immer im heftigen Kampf gegen einander liegend, mit einer über jeden lästigen Zweifel erhabenen einmütigen Ehrlichkeit, stets um das Volkswohl besorgt, sich als konstitutionelle Parteien in ihrer gemeinsamen Abneigung gegen alles wirklich Besondere, das dem Volke helfen würde, fanden und vereinigten – und zwar aus Furcht, dadurch diejenige Grenze zu überschreiten, die in der Politik die Grenze der praktischen Politik bildet. Als solch praktischer Politiker flößte Noble Vertrauen ein, da er sich nur dann um eine Angelegenheit bekümmerte, wenn er irgend einen sofortigen handgreiflichen Nutzen dabei ersah; auch besaß er ein vollendetes Anstandsgefühl, wie eine nicht gerade hochfliegende Phantasie.

Er disputierte über alle möglichen Dinge mit Ferrand. Bei irgend einer Gelegenheit belauschte sie Schelton; sie argumentierten über den Anarchismus.

»Kein Engländer kann den Mord billigen,« sprach Noble mit jener düsteren Stimme, die in bedeutsamem Kontrast stand mit der optimistischen Schädelform seines wohlgeformten Kopfes, »aber das Hauptprinzip ist richtig. Die Gleichmachung der Eigentumsverhältnisse wird ganz gewiß einmal kommen. Ich sympathisiere stark mit ihnen, nicht aber mit ihren Methoden.«

»Verzeihen Sie,« warf Ferrand ein, »kennen Sie irgendwelche Anarchisten?«

»Nein,« erwiderte Noble, »ich habe nie mit einem Anarchisten selbst gesprochen.«

»Sie sagen, Sie sympathisieren mit ihnen, wiederholen aber das Schlechte über sie, was man ihnen nachsagt, daß sie den Mord predigen . . .«

»Well, ist das nicht wahr?«

»Oh, Monsieur! Ich empfehle Ihnen, den Anarchismus zuerst zu studieren, ehe sie mit ihm sympathisieren.«

Schelton bemerkte, wie er kurz abbrach. Er schloß daraus, daß Ferrand dieses Gesprächsthema peinlich war. Seine Lippen, denen ringelnde Rauchwolken entstiegen, schienen zu sagen: »Was verstehen Sie, ein englischer Gentleman von vornehmem Stande und mit all den Vorurteilen ihrer Klasse, von der Philosophie der Freiheit? Wenn Sie uns begreifen wollten, müßten Sie die Politik an den Nagel hängen und ein Freiheitskämpfer werden. Für uns ist der Kampf keine Spiegelfechterei.«

Dieses Gespräch fand auf dem Wiesengrunde statt nach Beendigung einer der französischen Lektionen, die Toddles erteilt wurden. Schelton kehrte gerade nach dem Herrenhause zurück, da rief ihn irgend jemand von unterhalb der Steineiche an. Dort im Grase saß auf türkische Weise, eine Pfeife zwischen den Zähnen haltend, ein Mann, der am Vorabend eingetroffen war und durch seine freundliche Wortkargheit einen guten Eindruck auf Schelton machte. Er hieß Whyddon und war soeben von Zentralafrika zurückgekehrt. Ein gebräuntes Gesicht mit großer Kinnbacke, kleinen, aber gütigen und gelassenen Augen, von starker, wenn auch magerer Gestalt.

»Oh, Mr. Schelton!« sprach er, »es würde mich sehr interessieren, ob Sie mir sagen könnten, wieviel Trinkgeld ich den Dienern hier geben soll? Da ich zehn Jahre fort war, habe ich diese ganze Sache vergessen.«

Schelton setzte sich zu ihm; unwillkürlich kreuzte auch er die Beine, was ihm aber bald sehr großes Unbehagen verursachte.

»Ich horchte zu,« sagte sein neuer Bekannter, »wie das Kerlchen dort Französisch lernt. Ich habe meines längst vergessen. Man fühlt sich wie ein dummer Tölpel, wenn man keine fremden Sprachen kennt.«

»Ich nehme an, Sie sprechen wohl arabisch?« meinte Schelton.

»Oh ja, arabisch und noch einen oder zwei Dialekte. Aber das zählt für nichts. Jener Hauslehrer hat ein sehr merkwürdiges Gesicht.«

»Glauben Sie?« fragte Schelton von Interesse bewegt. »Er hat ein merkwürdiges Leben hinter sich.«

Der Naturforscher breitete seine Hände mit der Innenfläche nach unten, auf dem Grase aus und betrachtete lächelnd Scheltons Gesicht:

»Mich dünkt, er ist einer jener unsteten Menschen . . .« sagte er. »Ganz merkwürdig, in Zentralafrika habe ich viele Weiße gesehen, die größtenteils denselben Gesichtsausdruck hatten wie er.«

»Ihre Diagnose trifft den Nagel auf den Kopf,« antwortete Schelton.

»Mir tun solche Kerle immer sehr leid. Gewöhnlich steckt manch Gutes in ihnen. Sie sind ihre eigenen Feinde. Es kann keine üblere Veranlagung geben, als die: unfähig zu sein, auf irgend etwas, das man tut, stolz zu sein!« Ein Ausdruck des Mitleids war in sein Antlitz getreten.

»In der Tat, ganz so ist es!« sagte Schelton. »Ich versuchte oft, das in Worte zu kleiden . . . Ist sie unheilbar?«

»Ich glaube.«

»Können Sie mir erklären, warum?«

Whyddon sann ein wenig nach.

»Ich möchte fast sagen,« sprach er endlich, »daß es deshalb so ist, weil Menschen mit jener Veranlagung eine allzu stark entwickelte Gabe der Kritik besitzen . . . Man kann keinen Menschen lehren, auf seine Arbeit stolz zu sein – das liegt in seinem Blut.« Er faltete seine Arme über die Brust und seufzte schwer. Unter dem schattigen Laubwerk, die Augen auf dem Sonnenlichte ruhend, war er der Typus all derjenigen Engländer, die sich ihren Geist frisch bewahren, indem sie ihre Körper in den dunklen Orten harter Arbeit erschöpften. »Sie können sich nicht vorstellen,« sagte er, in seinem Lächeln seine Zähne zeigend, »wie herrlich es ist, zu Hause zu sein! Man lernt die alte Heimat erst dann lieben, wenn man fern von ihr weilt.«

Oftmals in späterer Zeit erinnerte sich Schelton dieser Diagnose über den Landstreicher. Denn immer stolperte er über Beispiele jener machtvollen Eigenschaft schärfster Kritik, die des jungen Ausländers vorzüglichsten Anspruch begründete, eine »ungeheuer interessante« und vielleicht auch eine ziemlich anstößige Persönlichkeit zu sein.

Im Herrenhause weilten auch ein alter Schulkollege Scheltons und dessen Gattin, die beide dem beschauenden Auge das Gemälde einer vollendeten, geruhsamen Häuslichkeit darboten. Leidenschaftslos und ewig lächelnd, war es geradezu unvorstellbar, daß sie je eine Meinungsverschiedenheit haben sollten. Schelton, dessen Schlafzimmer neben dem ihren lag, konnte sie des Morgens in genau demselben Tonfall miteinander sprechen hören, den sie beim Lunch gebrauchten, und mit demselben Gelächter. Ihr Leben schien ihnen vollkommene Zufriedenheit zu gewähren. Mit ihren moralischen und ethischen Überzeugungen wurden sie von der Gesellschaft versehen, ungefähr so, wie sie zu Hause mit all den übrigen Lebensnotwendigkeiten durch irgend einen Konsumverein versorgt wurden. Ihre ziemlich hübschen Gesichter, mit deren ziemlich gütigen Zügen, die durch eine besondere Empfänglichkeit für Kompromisse sich rasch und sorgsam regulierten, begannen ihm so die Sonne zu verderben, daß er, wenn er in demselben Raum mit ihnen war, sogar zu lesen anfing, nur um die Notwendigkeit, sie anschauen zu müssen, zu vermeiden. Und dennoch waren sie sonst ganz gütige Leutchen – das heißt, ziemlich gütige –, und sie benahmen sich reinlich und ruhig im Hause, außer wenn sie lachten, was oft geschah und über Dinge, bei denen er zu heulen gewünscht hätte, wie ein Hund über Musik heult . . .

»Mr. Schelton,« hob Ferrand eines Tages an, »ich bin wahrlich kein Ehedilettant – hatte nie die Gelegenheit dazu, wie Sie sich wohl denken können. Auf jeden Fall jedoch gibt es hier im Hause einige Leute, die mich veranlassen würden, sehr auf der Hut zu sein, bevor ich mich in ein solches Joch begäbe . . . Sie scheinen ideal verheiratete junge Leute zu sein – streiten nicht, sind wohl und munter, stimmen mit jedermann überein, gehen in die Kirche, haben Kinder – und dennoch möchte ich gern erfahren, was in ihrem Leben schön ist.« Und er zog eine Grimasse. »Mir scheint das Ganze so häßlich, daß ich rasch nach Luft schnappen muß . . . Es wäre mir wahrlich lieber, wenn sie sich gegenseitig mißhandelten, bloß um zu zeigen, daß zwischen ihnen wenigstens so ein Winkelchen eines gemeinsamen Seelenlebens besteht . . . Wenn die Ehe so aussieht – dieu m'en garde!«Gott bewahre mich davor!

Aber Schelton antwortete ihm nicht; er war in tiefes Nachdenken versunken.

John Nobles Redensart: »Er ist wirklich eine ungeheuer interessante Persönlichkeit,« machte ihn zunehmend nervöser und reizbarer. Sie schien ihm die Haltung der Dennants gegenüber diesem Fremdling innerhalb ihres Hauses darzustellen. Man behandelte ihn wie eine Art von Wunder nach der Rühr-ihn-nicht-an-Methode, wie ein Schaustück in einer Ausstellung. Unterdessen machte die Wiederaufrichtung seiner Selbstachtung wirklich erfolgreiche Fortschritte. Außer dem Umstande, daß ihm allem Anscheine nach Scheltons Anzüge zu eng wurden, sein Gesicht einen lebhaft gebräunten Anstrich bekam und auf seine Lippen ein flüchtiger, aber auch verhaltener Zug des Zynismus trat – machte er auch sonst allen seinen Gönnern sehr viel Ehre. Seinen Abscheu vor dem Rasiermesser hatte er längst unterdrückt und sah in einem Gewand aus Scheltons Flanellstoffen recht ansprechend aus. Denn schließlich und endlich war er ja nur acht Jahre von der vornehmen Lebensart des höheren Mittelstandes ausgeschlossen und die Hälfte dieser Zeit Kellner gewesen. Aber Schelton wünschte ihn dennoch zum Teufel. Nicht um seines Benehmens willen – er ward nie müde, zu beobachten, wie abgefeimt der Vagabund sein ganzes Betragen dem Betragen seiner Gastgeber anpaßte, wobei er aber seine kritische Absonderung und Beurteilung nicht aufgab –, sondern, weil eben jene kritische Zersetzung ihn in seinen Traumbildern wie ein Stachel verwundete, ihn zwang, das Leben, in dem er geboren ward und in das hinein zu heiraten er im Begriffe stand, zu analysieren . . . Dieser Vorgang in ihm wirkte höchst störend . . . Und wollte er feststellen, seit wann dieses Gefühl begonnen, so mußte er zurückgehen zu jener ersten Begegnung mit Ferrand auf der Reise aufwärts von Dover.

In einer Gastfreundschaft, die sich einem so seltsam losen Vogel bereitwillig gewährte, lag unbedingt eine gewisse Gutherzigkeit. Und so oft er dieser Güte gedachte, verfiel Schelton dem Laster, sie näher zu untersuchen . . . Für ihn selbst, für Leute seines Standes und seiner Klasse, war die Betätigung von Güte ein Luxussport, der keinerlei Opfer beinhaltete, wohl aber im Herzen ein angenehmes Gefühl erzeugte, ähnlich dem, das die Massage in den Beinen hervorruft . . . »Jedermann hat irgend etwas Gütiges an sich,« dachte er; »die Frage ist immer nur die: Welches Verständnis, welche wahre Sympathie ist darin gelegen?« Dieses Problem gab seinen Gedanken unablässig neuen Stoff.

Was den Fortschritt anbetrifft, auf den Mrs. Dennant nicht selten hinwies, nämlich Ferrands Erringung seiner sonderbaren Position in der ihm neuen Umgebung, so kam es Schelton allerdings vor, daß er aus seiner plötzlichen Heimsuchung dieser seligen Gefilde des vornehmen Lebens so viel an Nutzen für sich herausschlug, als ihm eben möglich war. Unter den gleichen Umständen dachte Schelton, hätte er selbst wohl auch nicht anders gehandelt . . . Er empfand es deutlich genug, daß der junge Ausländer sich zu einer gemächlichen Verbeugung vor dem Reichtum und Eigentumsprivilegium bequemte; dabei hatte er aber mehr Achtung vor dem sarkastischen Lächeln auf Ferrands Lippen und in dessen innersten Herzen . . .

Es dauerte auch gar nicht lange, ehe sich die unvermeidliche Veränderung im Geiste der Gesamtsituation vollzog. Mehr und mehr ward Schelton sich eines gezierten Unbehagens bewußt, das sich förmlich in jedem Atemzuge des prunkvollen Haushaltes äußerte.

»Recht merkwürdiger Kerl, der Ihnen da in die Quere kam, Schelton,« sagte, während eines Krockettspieles, Mr. Dennant zu ihm. »Fürchte sehr, daß er sich immer nur selbst schaden wird.«

»In gewisser Beziehung befürchte ich das auch,« gestand Schelton.

»Kennen Sie seine Lebensgeschichte? Ich wette Ihnen sechs Pence darauf« – und Mr. Dennant ließ, um seinen Schlägel mit genauester Akkuratesse zu schwingen, eine Pause eintreten –, »daß er schon im Gefängnis gewesen . . .«

»Im Gefängnis!« rief mit einem Stoßseufzer Schelton aus.

»Ich glaube,« sagte, mit gebeugten Knien vorsichtig seinen nächsten Schlag bemessend, Mr. Dennant, »daß Sie über ihn Erkundigungen einziehen sollten – ah, nicht getroffen! Höchst ungeschickt, diese Reifen! Irgendwo muß man doch eine Grenzlinie ziehen . . .«

»Ich konnte sie niemals ziehen,« entgegnete erbittert und beunruhigt Schelton; »aber ich verstehe – ich werde ihm einen Wink zum Gehen geben.«

»Seien Sie,« sagte Mr. Dennant, indem er sich zu seinem zweiten Ball begab, den Schelton bis auf die entfernteste Seite geschleudert hatte, »Seien Sie uns nicht böse, mein lieber Schelton, und geben Sie ihm auf keinen Fall einen derartigen Wink. Er interessiert mich außerordentlich – ein sehr aufgeweckter, stiller, junger Kerl . . .«

Daß dies aber keineswegs seine Privatansicht war, nahm Schelton wahr, wenn er Mr. Dennants Benehmen in Anwesenheit des Vagabunden studierte. Unterhalb des wohlerzogenen Scherzes der ruhigen Stimme, der Neigung seines blaßbrünetten Gesichtes zu behutsamer Neckerei, konnte man wahrnehmen, daß Algernon Cuffe Dennant, Esquire und Justice of the Peace, der gewohnt war, sich über andere Leute ins Fäustchen zu lachen, diesmal den Verdacht schöpfte, selber ausgelacht zu werden. Was war natürlicher, als daß er umhertastete, wie dies denn möglich sein konnte? Ein ausländischer Landstreicher machte einen bedeutsamen Eindruck auf einen englischen Friedensrichter! – das war kein geringer Achtungstribut, der Ferrands Persönlichkeit gezollt ward. Letzterer saß während einer Mahlzeit gewöhnlich still, und dennoch übte er seine Wirkung aus. Er, das Objekt ihrer Güte, Erziehung und Gönnerschaft, erfüllte sie mit Furcht . . . Darüber bestand kein Zweifel. Nicht vor Ferrand selbst hatten sie Angst, wohl aber vor dem in ihm, was sie nicht verstanden: jene schrecklichen Spitzfindigkeiten, die sich in dem Hirne unter dem aufrechtstehenden, feucht aussehenden Haar dahinschlängeln mochten . . . Jenes gewisse Etwas, das bizarr auf den gekrümmten Lippen unter jener dünnen, ein wenig schrägen Nase entlang lief . . .

Allein sowohl in diesem, wie auch sonst in allem, kam für Schelton nur Antonie in Betracht. Zuerst schien sie, da sie begierig war, ihrem Geliebten zu zeigen, daß sie seinem Urteil vertraute, nie darin zu ermüden, seinem jungen Schützling Gefälligkeiten zu erweisen, als ob auch sie sich seine Seelenrettung fest vorgenommen hätte. Doch so oft er ihre auf dem Vagabunden ruhenden Augen beobachtete, mußte sich Schelton unablässig ihrer Worte am ersten Tage seiner Ankunft in Holm Oaks erinnern: »Aber ich glaube halt doch, daß er in Wirklichkeit ein recht anständiger Mensch ist – ich meine, daß alle die Sachen, die du mir erzähltest, bloß . . .«

Nie verließ die Neugierde ihren Blick, noch auch konnte sie je die Geschichte seines viertägigen Hungerleidens vergessen. Über jenem Vorfall lag etwas sentimental Malerisches, das bei weitem wertvoller war, als dieses einfache Menschenwesen selbst, mit dem sie alle auf solch wunderbare Weise in Berührung gekommen waren. Sie beobachtete Ferrand, und Schelton beobachtete sie . . . Hätte man ihm gesagt, daß er sie beobachtete, er hätte es in gutem Glauben bestritten. Aber er fühlte sich wie gezwungen, sie zu beobachten, festzustellen, mit was für Augen sie diesen Besucher betrachtete, der alle jene rebellischen Kehrseiten des Lebens verkörperte, die in ihr nicht vorhanden waren.

»Dick,« sagte sie eines Tages zu ihm, »du sprichst nie von Monsieur Ferrand zu mir.«

»Wünschest du über ihn zu sprechen?«

»Glaubst du nicht, daß er sich gebessert und verfeinert hat?«

»Er ist korpulent geworden.«

Antonie sah ihn ernsthaft an.

»Nicht doch, ist's nicht so?«

»Ich weiß es nicht,« sagte Schelton, »ich kann ihn nicht beurteilen.«

Antonie wandte ihr Gesicht von ihm ab, und irgend etwas in ihrem Wesen beunruhigte ihn.

»Er ist einstmals eine Art von Gentleman gewesen,« sprach sie, »warum sollte er nicht wieder einer werden?«

Auf der niederen Umzäunungsmauer des Küchengartens sitzend, war ihr Kopf von goldigen Pflaumen umrahmt. Das Laubwerk der Steineiche hielt die Sonne ab, aber ein kleines Strahlenbündel sickerte durch eine Spalte und verweilte im Mittelpunkte des Pflaumenbaumes. Es krönte das Mädchen. Ihre Kleidung, die dunklen Blätter, die rote Mauer, die goldigen Pflaumen wurden von dem durchdringenden Strahl zu einem unentwirrbaren Knäuel wildheidnischer Farben verwoben. Und über all dem war, so keusch und ungetrübt, ihr Antlitz, einem geruchlosen Sommerabend ähnlich . . . Zwischen den Johannisbeersträuchern fuhr ein Vögelchen fort, seinen vibrierenden Gesang ertönen zu lassen, und Form und Farbe des ganzen Pflaumenbaumes schienen lebendig geworden . . .

»Vielleicht will er aber kein Gentleman sein,« sprach Schelton.

Antonie schwang ihren Fuß.

»Kann man denn anders, als dies sein wollen?«

»Er mag eine andere Lebensanschauung haben . . .«

Ziemlich lange dauerte es, bevor Antonie antwortete.

»Ich verstehe nichts von Lebensanschauungen,« sagte sie endlich.

Kalt antwortete Schelton:

»Keine zwei Personen haben die gleiche.«

Mit dem Untergehen der Sonnenglut entschwand der Zauber vom Baume . . . Frostig und strenger, dabei weniger tief, war er nicht mehr ein Knäuel von Farbgewebe, warm und unempfindlich, wie eine Göttin des Südens. Er war nun ein Baum des Nordens, durch dessen Blätter fahles Licht drang.

»Ich kann dich unmöglich begreifen,« sagte sie; »will doch jedermann ein guter Mensch sein . . .«

»Und auch wohlgeborgen?« fragte Schelton sanft.

Antonie starrte ihn an.

»Nehmen wir an,« sprach er – »ich gebe freilich nicht vor, Positives darüber zu wissen, ich nehme nur an – daß das, was Ferrand wirklich lieb und teuer ist, darin besteht, in allen Dingen anders zu urteilen und zu handeln, als andere Menschen? Wollte man ihm nun einen besonderen Charakter aufbürden und ihm unter der Bedingung Geld geben, daß er so handle, wie wir alle handeln, glaubst du, daß er darauf einginge?«

»Warum nicht?«

»Warum sind Katzen keine Hunde? oder Heiden Christen?«

Antonie glitt von der Mauer herab.

»Du scheinst der Meinung zu sein, daß es vergebens sei, etwas zu probieren,« sagte sie und wandte sich von ihm ab.

Schelton machte eine Bewegung, als ob er ihr nacheilen wollte . . . Dann aber stand er still, beobachtete, wie ihre Gestalt, die Umrisse ihres Kopfes oberhalb der Mauer, ihre Hände nach hinten über die schmalen Hüften verschränkt, – wie alles sich langsam entfernte . . . An der Biegung machte sie Halt, schaute zurück; noch eine ungeduldige Geste, und sie war verschwunden . . .

Antonie entschlüpfte ihm!

Ein einziger Augenblick des Anblickes seines äußeren Ich hätte schon genügt, ihm zu zeigen, daß eigentlich er es war, der sich fortbewegte und sie, die still stand – wie eine Wesensgestalt, die mit klaren, unbeirrbaren und eigensinnigen Blicken das Vorüberrauschen eines Stromes beobachtete . . .



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