John Galsworthy
Auf Englands Pharisäerinsel
John Galsworthy

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Zwölftes Kapitel

Rotten RowPromenade und Reitweg im Hyde Park zu London

Mit Kopfschmerz und einer wehen Empfindung von Ruhelosigkeit, hoffnungsvoll und zugleich unglücklich, bestieg Schelton am anderen Morgen sein Reitpferd und sprengte im Galopp in den Park.

Am Himmelsgewölbe vermengte sich all die Schlaffheit und das Ungestüm des englischen Frühlings. Bäume und Blumen sahen in den Lichtstrahlen, die sich von der Rückenseite des Wolkenpurpurs herabstahlen, aus, als ob sie erwachten. Die Luft war wie gewaschen vom Regen, und die Vorübergehenden schienen das Wesen gemächlicher Sorglosigkeit an sich zu haben, als ob selbst ihr eifrigstes Verlangen gelähmt wäre durch die Unverantwortlichkeit des Firmaments.

Alles in der Row war in wilder Bewegung, voller Reiter.

Nahe an der Ecke des Hyde-Parkes fing eine Gestalt am Gitter Scheltons Blick auf. Schlank und mager, die eine Schulter ein wenig höckerig, als ob ihr Eigenes immer im Nachdenken versunken wäre, gekleidet in einen zweireihigen Gehrock mit Schößen und einen braunen Filzhut, zusammengepreßt in zügelloser Fasson, war diese Gestalt so völlig losgelöst von ihrer Umgebung, daß sie überall aufgefallen wäre. Sie gehörte Ferrand, der augenscheinlich darauf wartete, bis es Zeit sein würde, mit seinem Gönner zu frühstücken. Schelton bereitete es Vergnügen, ihn unsichtbarer Weise zu beobachten, und er saß still, hinter einem Baum verborgen, auf seinem Pferd.

Es war gerade an diesem Ort, wo die Reiter, außerstande weiter zu kommen, immerwährend, um es nochmals zu versuchen, ihre Pferde herum werfen. Und dort stand Ferrand, dieser Zugvogel; seinen Kopf ein wenig zur Seite geneigt, beobachtete er, wie sie in kurzem leichten Galopp einher ritten, trabten, hin und her schwenkten.

Drei Männer, die das Gelände entlang gingen, rissen ihre Hüte vor einer Dame zu Pferd ab. Sie alle taten es in genau demselben Krümmungswinkel, in absolut gleicher Art und Weise, als ob sie in der modischen Vollbringung dieses alten feierlichen Brauches einen ihnen ungemein teuren Instinkt befriedigten.

Schelton bemerkte, wie Ferrands Lippen sich kräuselten, als er diesen Anblick beobachtete. »Vielen Dank, Gentlemen,« schien er zu sagen, »in dieser bezaubernden kleinen Handlungsweise haben Sie alle mir Ihre Seelen enthüllt! . . .«

Was für eine eigentümliche Gabe der Kerl doch besaß, Dinge und Menschen zu entkleiden, die Schleier ihres Scheinlebens hinwegzureißen und ihre Talismane bloßzustellen! Schelton warf sein Pferd herum und galoppierte weiter. Seine Gedanken weilten bei Antonie, und er wollte diesen Zauber nicht zerstört haben.

Er blickte zum Himmelsgewölbe empor, das jeden Augenblick einen Wolkenbruch zu entsenden drohte, als er plötzlich von hinten seinen Namen rufen hörte – und wer waren die zwei, die da von beiden Seiten auf ihn zugeritten kamen: niemand als Bill Dennant und – Antonie selbst!

Sie hatten schnell galoppiert. Über und über war sie mit Rot übergossen – ebenso gerötet wie damals, als sie auf der alten Turmspitze von Hyères stand, aber in einem Freudenglanz, der ganz verschieden war von dem kalten und unterjochenden Glanz jenes anderen Augenblicks. Zu Scheltons höchster Wonne ritten sie in einer Reihe mit ihm, und alle drei galoppierten nun gemeinsam zwischen Bäumen und Geländern die Hecken entlang. Der Blick, mit dem sie ihn ansah, schien zu sagen: »Obwohl es verboten ist, tue ich's doch!« Allein sie sprach kein Wort. Er konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. Wie lieblich sah sie doch aus, mit der beherzten Linie ihrer Figur, dem Goldflimmer unter ihrem Hütchen, der köstlichen Farbe ihrer Wangen – es war, als ob sie geküßt worden wären . . .

»Ach, wie herrlich, wieder zu Hause zu sein! Reiten wir rascher!« rief sie aus.

»Ziehe die Zügel an! Sonst werden wir noch verhaftet,« brummte ihr Bruder und kicherte dabei.

Sie zügelten, als sie rund um die Biegung ritten und trotteten besonnener die andere rechte Seite hinunter. Noch immer kein Wort von ihr zu Schelton, und Schelton seinerseits sprach nur zu Bill Dennant. Er fürchtete sich, zu ihr zu sprechen, denn er wußte, daß ihr Geist sich in einer von seiner eigenen ganz verschiedenen Weise mit dieser verbotenen Zufallsbegegnung beschäftigte.

Sie näherten sich der Ecke des Hyde-Parkes, wo Ferrand noch immer am Geländer stand, und Schelton, der dessen Existenz vergessen hatte, erlitt einen jähen Schreck, als seine Augen plötzlich auf jene gegen Leiden so abgestumpfte Gestalt fielen. Schon wollte er seine Hand erheben, da sah er, wie der junge Ausländer, der seine instinktive Regung bemerkte, sich sofort derselben anpaßte. Wieder passierten sie einander ohne Gruß, es sei denn, daß jene flüchtige forschende Nachspürung, gefolgt von scheinbarer Achtlosigkeit in Ferrands Augen, ein solcher genannt werden konnte.

Aber bald verließ Schelton sein blödsinniges Glücksgefühl. Dieses Stillschweigen reizte ihn. Es ließ ihn nur um so größere Tantalusqualen erdulden, als Bill Dennant zurückgeblieben war, um mit einem Freund zu plaudern. Schelton und Antonie waren allein; sie ritten wortlos ihre Pferde und blickten einander nicht einmal an. Einen Augenblick dachte er daran, voraus zu galoppieren und sie zu verlassen, oder aber das Gelübde der Schweigsamkeit zu brechen, das sie ihm streng aufzuerlegen schien. Und er sagte sich fortwährend: »Entweder das eine oder das andere. Ich kann es nicht länger ertragen.« Ihre kalte Gemütsruhe ging ihm auf die Nerven. Sie schien bei sich genau ausgemacht zu haben, wie weit sie gehen wollte, schien kaltblütig eine Grenzlinie gezogen zu haben. In ihrer glücklichen jungen Schönheit und strahlenden Kühle bildete sie den Inbegriff jenes gewissen Etwas des gesunden Menschenverstandes und der Gleichförmigkeit im Engländertum, das in neun von je zehn Personen dieser Nation, die Schelton kannte, existierte. ›Ich kann es nicht mehr lang ertragen,‹ dachte er, und plötzlich begann er zu sprechen. Aber sobald sie dies vernahm, runzelte sie die Stirn und trieb ihr Pferd heftig an. Als er sie einholte, lächelte sie und reichte ihr Gesicht dem Himmel dar, um die nun rasch fallenden Regentropfen aufzufangen. Sie gewährte ihm just ein Nicken, winkte ihm mit der Hand ein Zeichen zu, sie zu verlassen; und als er nicht gehorchen wollte, wies sie ihn durch tadelnde Blicke zurück . . . Er sah Bill Dennant ihnen nachsprengen, und da ihn ein beschämendes Gefühl über die Lächerlichkeit seiner Situation erfaßte, lüftete er seinen Hut und galoppierte auf und davon.

Der Regen ergoß sich nun in Strömen herab, und alles suchte in ungestümer Hast ein Schutzdach. An der Biegung sah er zurück und konnte Antonie noch immer unterscheiden. Sie ritt gemächlich, ihr Gesicht nach oben gerichtet und schwelgte darin, sich vom Regen überschütten zu lassen. Weshalb hatte sie ihn beim Begegnen nicht überhaupt übersehen, oder aber jene Gottesgaben angenommen, die ihr der Gott des Zufalls bescherte? Es war höchst leichtfertig, sich eine solche Gelegenheit entgehen zu lassen. Er wandte sich zurück nach Hyde Park Corner und drehte den Kopf nach allen Seiten, um zu sehen, ob sie nicht doch auf irgend eine Weise nachgäbe.

Sein Zorn war bald verraucht, aber seine Sehnsucht blieb. Hatte es je etwas gleich ihr Schönes gegeben, mit diesem Gesicht nach oben, dem Regen entgegengehalten? Sie schien in den Regen verliebt zu sein. Er gefiel ihr, gefiel ihr um vieles besser als der Sonnenbrand des Südens. Ja, sie war durchaus englisch, Engländerin! Während er sich darüber Kopfzerbrechen machte, erreichte er verdrießlich seine Gemächer. Ferrand war nicht da gewesen, tatsächlich kam er an jenem Tag nicht. Sein Ausbleiben bot Schelton einen weiteren Beweis für das Zartgefühl, das Hand in Hand mit des jungen Landstreichers Zynismus ging. Im Laufe des Nachmittags erhielt er ein Briefchen:

». . . Du weißt doch, Dick« – las er – »ich hätte Dich ›schneiden sollen‹. Aber ich fühlte mich wie verrückt – alles scheint so lustig zu Hause zu sein, selbst dieses alte, dumpfe London. Freilich hätte ich allzugern zu Dir gesprochen – es gibt eine Menge von Sachen, die sich in Briefen nicht sagen lassen –, aber nachher hätte es mir leid getan. Ich habe Mutter alles erzählt. Sie sagte, ich hätte vollkommen richtig gehandelt, aber ich glaube nicht, daß sie mich ganz begriff. Fühlst Du nicht auch, daß die Hauptsache doch nur das Eine ist, ein Ideal zu haben, und es so heilig zu halten, daß man ihm fortwährend zustreben und dabei empfinden muß, man sei . . . Ich kann den Sinn dessen, was ich sagen will, nicht genau ausdrücken.«

Schelton zündete sich eine Zigarette an und runzelte die Stirn. Ihm erschien es eigentümlich, daß sie auf ihr »Ideal« weit größeren Wert legte, als auf die Tatsache, daß sie einander seit vielen Wochen zum ersten und einzigen Mal begegnet waren.

›Ich glaube, sie hat recht,‹ dachte er – ›ich glaube wirklich, daß sie im Recht ist. Ich hätte nicht versuchen sollen, zu ihr zu sprechen!‹ Tatsächlich aber empfand er keineswegs, daß sie im Rechte war.



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