Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierundzwanzigstes Kapitel

Das Justizverfahren nahm seinen Lauf, und Hubert wurde vor Gericht zur Verantwortung gezogen. Während der Verhandlung saß Dinny mit den andern Familienangehörigen in stummem Protest wartend da. Zunächst kam die beeidigte Zeugenaussage der vier bolivianischen Maultiertreiber an die Reihe: Hubert habe, ohne jede Herausforderung, den Schuß abgefeuert. Hierauf folgte Huberts Gegenbehauptung, das Vorweisen der Narbe, seine Darstellung des Falls und das Zeugnis Hallorsens. Auf Grund dieses Materials sollte das Gericht die Entscheidung fällen. Die Entscheidung fiel. Sie lautete: ‹Vertagt bis zum Eintreffen der Aussage des Entlastungszeugen.› Dann drehte sich die Verhandlung um jenen in der Praxis meist nicht beachteten Grundsatz des englischen Rechts, ein Gefangener habe so lange als unschuldig zu gelten, als seine Schuld nicht klar erwiesen sei. Es ging darum, ob Hubert gegen Erlag einer Kaution auf freiem Fuß belassen werden sollte. Dinny hielt den Atem an. Der Gedanke, er müsse so kurz nach der Hochzeit unschuldig ins Gefängnis wandern, während das Entlastungszeugnis über den Ozean schwamm, schien unerträglich. Endlich wurde die beträchtliche Kaution, die Sir Conway und Sir Lawrence boten, angenommen. Mit einem Seufzer der Erleichterung schritt Dinny erhobnen Haupts hinaus. Draußen schloß sich ihr Sir Lawrence an.

«Zum Glück», sagte er, «merkt man es Hubert gleich am Gesicht an, daß er sich nicht aufs Lügen versteht.»

«Die Geschichte kommt vermutlich in die Zeitungen», murmelte Dinny.

«Du kannst den Kopf drauf wetten», gab Sir Lawrence zurück. «‹Schießerei in Bolivien! Britischer Offizier unter Mordanklage!›»

«Wie wird das Huberts Karriere beeinflussen?»

«In günstigem Sinne, glaub ich. Die Anfrage im Parlament war verhängnisvoll. Doch der Streitfall: ‹Britischer Offizier gegen bolivianisches Halbblut› wird die ganzen Vorurteile wachrufen, die wir samt und sonders für unsre eigene Sippe hegen.»

«Am meisten macht mir Vater Sorge. Sein Haar ist seit dieser Geschichte merklich grauer geworden.»

«Es ist ja nichts Entehrendes dabei, Dinny.»

Dinny warf den Kopf zurück. «Nein, wahrhaftig nicht!»

«Dinny, du erinnerst mich an ein zweijähriges Füllen, eins jener sehnigen, kastanienbraunen Dinger, die im Gestüt herumspringen, vor der Stalltür ausreißen wollen und dann doch als erste hineingehn. Da steuert dein Amerikaner auf uns zu. Sollen wir auf ihn warten? Er hat sehr günstig ausgesagt.»

Dinny zuckte die Achseln. Fast im selben Augenblick rief Hallorsens Stimme: «Miß Cherrell!» Dinny wandte sich um. «Vielen Dank, Professor, für Ihre Aussage!»

«Für Sie hätt ich gern gelogen, fand aber leider keine Gelegenheit. Wie geht es dem Kranken, in dessen Haus Sie jetzt wohnen?»

«So weit ist alles in Ordnung.»

«Freut mich, das zu hören. Ich war schon recht besorgt um Sie.»

«Professor, Ihre Bemerkung heut vor Gericht, Sie möchten mit einem dieser Maultiertreiber nicht einmal tot zusammen sein, hat auf den Richter gewaltigen Eindruck gemacht.»

«Mit ihnen lebend zusammen sein, war schlimm genug. Sir Lawrence, ich hab einen Wagen hier. Darf ich Sie und Miß Cherrell irgendwohin bringen?»

«Nehmen Sie uns also in den Grenzbezirk der Zivilisation mit, falls Sie westwärts fahren», erwiderte Sir Lawrence.

«Nun, Professor», fuhr er fort, als sie im Auto saßen, «wie gefällt Ihnen London? Ist es die barbarischste oder die zivilisierteste Stadt der Welt?»

«Ich liebe es!» entgegnete Hallorsen und ließ den Blick nicht von Dinny.

«Ich nicht», murmelte sie. «Ich hasse die grellen Kontraste und den Benzingeruch.»

«Ein Fremder kann nicht so leicht erklären, warum er London liebt. Es ist wohl das bunte Leben, das hier pulsiert, die Freiheit und die Ordnung dabei. Vielleicht auch, daß eure Städte so ganz anders sind als unsre. New York ist großartiger und aufregender als London, aber nicht so anheimelnd.»

«New York wirkt wie Strychnin», meinte Sir Lawrence. «Es peitscht erst auf, dann bringt es um.»

«Ich möchte in New York nicht leben. Für mich der Westen!» erklärte Hallorsen.

«Die unabsehbar weite Prärie», murmelte Dinny.

«Jawohl, Miß Cherrell. Sie würden sie lieben.»

Dinny lächelte matt. «Niemand kann entwurzelt leben, Professor.»

«Ja, mein Sohn brachte einmal im Parlament das Auswanderungsproblem zur Sprache», bemerkte Sir Lawrence. «Er erklärte, das Volk sei zu fest im Heimatboden verwurzelt; man müsse diese Idee fallen lassen.»

«Wirklich?» fragte Hallorsen. «Wenn ich mir Ihre Stadtbevölkerung ansehe, bleich, unterernährt, bar aller Illusionen, frag ich mich, was für Wurzeln diese Geschöpfe noch haben können.»

«Je großstädtischer der Typ, um so zäher die Wurzeln. Für die gibt's keine unabsehbar weiten Prärien, nein, enge Gassen, gebackenen Seefisch und Kino. Möchten Sie mich hier absetzen, Professor? Dinny, wohin willst du

«In die Oakley Street.»

Hallorsen ließ den Wagen halten, und Sir Lawrence stieg aus.

«Miß Cherrell, würden Sie mir erlauben, Sie in die Oakley Street zu bringen? Es wäre mir eine solche Freude!»

Dinny verneigte sich. Als sie neben ihm im geschlossenen Wagen saß, fragte sie sich mit leisem Unbehagen, wie er wohl diese Situation ausnützen werde. Ohne sie anzublicken, sagte er: «Sobald die Angelegenheit Ihres Bruders erledigt ist, reise ich ab. Ich unternehme eine Expedition nach Neu-Mexiko. Auf die Bekanntschaft mit Ihnen, Miß Cherrell, werde ich immer stolz sein.»

Er krampfte die unbehandschuhten Hände zwischen den Knien zusammen; der Anblick rührte sie.

«Es tut mir so leid, Professor, daß mein Bruder und ich Sie zuerst ganz falsch beurteilten.»

«Nur zu begreiflich. Wenn dann alles vorüber ist, werde ich froh sein, daß ich Ihnen meinen guten Willen zeigen konnte.»

Impulsiv streckte ihm Dinny die Hand hin: «Das haben Sie bereits getan.»

Mit ernster Miene ergriff er ihre Hand, hob sie an die Lippen und gab sie gleich wieder frei. Dinny fühlte sich maßlos unglücklich. Schüchtern sagte sie: «Seit ich Sie kennengelernt habe, Professor, denk ich ganz anders über die Amerikaner.»

Hallorsen lächelte.

«Immerhin etwas.»

«Ich fürchte, ich hatte sehr primitive Vorstellungen. Ich hatte eben noch keinen Amerikaner kennengelernt.»

«Daher rühren ja alle unsere kleinen Differenzen, niemand kennt wirklich den andern. Wir gehn einander durch Kleinigkeiten auf die Nerven, und damit sind unsere Beziehungen erschöpft. Doch Sie, Miß Cherrell, werden in meiner Erinnerung immer das Lächeln auf dem Antlitz dieses Landes sein.»

«Sehr hübsch gesagt, ich wollte, es wäre wahr.»

«Ein Bild von Ihnen wäre mir von unschätzbarem Wert.»

«Selbstverständlich sollen Sie eins bekommen! Ich weiß nicht, ob ich ein halbwegs gutes habe, aber das beste, das ich auftreiben kann, schick ich Ihnen.»

«Ich danke Ihnen. Wenn Sie erlauben, steig ich hier aus. Ich bin meiner selbst nicht ganz sicher. Der Wagen wird Sie weiterbringen.» Er klopfte an die Fensterscheibe und sprach mit dem Lenker.

«Leben Sie wohl!» rief er. Er ergriff nochmals ihre Hand, sah sie ziemlich lange an, drückte sie heftig, und seine lange Gestalt entschwand durch die Tür.

«Leben Sie wohl!» murmelte Dinny und lehnte sich zurück; die Kehle war ihr wie zugeschnürt.

Fünf Minuten später hielt das Auto vor Angelas Haus; ganz niedergeschlagen trat Dinny ein. Als sie an Angelas Zimmer vorbeikam, öffnete diese die Tür. Sie hatten einander am Vormittag nicht gesehn.

«Komm herein, Dinny.» Ihre Stimme klang scheu, Dinny überlief ein leiser Schauer. Sie setzten sich nebeneinander auf das Himmelbett, Angela erzählte leise und hastig: «Vorige Nacht kam er in mein Zimmer und wollte unbedingt bleiben. Ich hab es nicht gewagt, ihn abzuweisen. Jetzt ist es nicht mehr wie früher. Ich hab das Gefühl, das ist wieder der Anfang vom Ende. Seine Selbstbeherrschung läßt nach, in jeder Hinsicht. Ich glaub, ich sollte die Kinder fortschicken. Was meinst du, würde Hilary sie nehmen?»

«Zweifellos. Auch meine Mutter nimmt sie ganz bestimmt.»

«Vielleicht wäre das besser.»

«Glaubst du nicht, daß auch du selbst weggehn solltest?»

Angela schüttelte den Kopf. «Das würde die Katastrophe nur beschleunigen. Möchtest du nicht die Kinder fortbringen?»

«Selbstverständlich. War er gewalttätig?»

«Dazu gab ich ihm keinen Anlaß. Aber er heckt gewiß wieder etwas aus. Nacht für Nacht wird er jetzt kommen. Hast du nicht bemerkt, Dinny, er trinkt jetzt Abend für Abend mehr? Er ist wieder auf dem alten Weg.»

«Wenn er nur seine Scheu vor dem Ausgehn überwinden könnte!»

«Würde auch nicht helfen. Hier wissen wir wenigstens alle, wie es um ihn steht, und sind aufs Schlimmste gefaßt. Ich hab Angst, unter Fremden könnte ihm etwas zustoßen, und uns sind die Hände gebunden.»

Dinny drückte ihren Arm.

«Wann soll ich die Kinder fortbringen?»

«Morgen. Ich kann ihm nichts davon sagen. Du mußt so still wie möglich davonschleichen. Die Erzieherin kann allein nachfahren, wenn deine Mutter sie ebenfalls aufnimmt.»

«Selbstverständlich fahr ich gleich wieder zurück.»

«Dinny, das darfst du nicht, ich hab die Mädchen im Haus. Es ist wirklich nicht recht von mir, daß ich dich so mit meinen Sorgen behellige.»

«Selbstverständlich komm ich zurück. Ich borg mir Fleurs Auto aus. Wird er es übelnehmen, wenn die Kinder fortfahren?»

«Nur dann, wenn er ihre Abreise mit sich in Zusammenhang bringt. Ich kann ihm ja sagen, es sei eine Einladung von früher her.»

«Angela», fragte Dinny plötzlich, «hast du ihn noch immer lieb?»

«Lieb? Nein.»

«Nur Mitleid?»

Angela schüttelte den Kopf.

«Das kann ich nicht so recht erklären. Es ist die Erinnerung an die Vergangenheit und das Gefühl, daß er um so früher zusammenbricht, wenn ich ihn jetzt im Stich lasse. Entsetzlicher Gedanke!»

«Ich verstehe. Ihr tut mir beide so leid und Onkel Adrian auch.»

Angela strich sich mit der Hand übers Gesicht, als wollte sie die Spuren des Kummers wegwischen.

«Ich weiß nicht, was noch draus werden mag, wir gehn vielleicht bösen Tagen entgegen. Aber du, meine Liebe, sollst unter keiner Bedingung deine Zeit mit mir vergeuden.»

«Nein, ich bleibe. Ich brauche etwas zur Ablenkung.»

«Vielleicht findest du die in der Ehe. Wann wirst du denn heiraten, Dinny?»

«Soeben hab ich auf die unabsehbar weiten Prärien verzichtet, bin aber mit mir höchst unzufrieden.»

«Du schwankst wohl noch zwischen der weiten Prärie und der tiefen See?»

«Und werd es wahrscheinlich auch weiterhin. Die Liebe eines wackern Mannes und so weiter – all das läßt mich eiskalt.»

«Warte! Wirst wohl kaum ins Kloster gehn – mit solchem Haar.»

«Das laß ich mir färben und segle dann in meinen eignen Farben: Eisberge sind seegrün.»

«Ich kann nur wiederholen: Warte!»

«Das will ich», gab Dinny zurück …

 

Zwei Tage später fuhr Fleur vom South Square mit dem eignen Auto vor Angelas Tür. Die Kinder und das Gepäck wurden ohne Zwischenfall verstaut, und sie fuhren drauflos. Die Reise gestaltete sich etwas aufregend, die Kinder waren an Autopartien nicht recht gewöhnt, doch für Dinny bedeutete diese Fahrt eine wahre Erleichterung. Erst jetzt kam ihr so recht zum Bewußtsein, wie schwer die tragische Atmosphäre in Angelas Haus auf ihren Nerven gelastet. Und doch waren erst zehn Tage vergangen, seit sie von Condaford nach London gereist war. Das Herbstlaub hatte sich bunter gefärbt, in der Luft lag jener stille, klare Glanz schöner Oktobertage. Es roch immer frischer und würziger, je weiter sie aufs Land hinausfuhren. Aus den Schornsteinen der Dorfhütten stieg der Rauch von Holzfeuern empor, Krähen flogen von den Stoppelfeldern auf. Rechtzeitig kamen sie zum Lunch. Dinny ließ die Kinder bei Mademoiselle, die mit dem Zug gekommen war, und ging allein mit den Hunden ins Freie. Vor einer alten Hütte, die auf einer Anhöhe über dem Hohlweg lag, machte sie halt. Die Haustür führte schnurstracks ins Wohnzimmer, wo ein altes Weib vor einem Holzfeuer saß.

«Ah, Miß Dinny!» rief sie, «wie mich das freut! Ich hab Sie schon den ganzen Monat nicht gesehn.»

«Stimmt, Betty; ich bin fortgewesen. Wie geht's Ihnen?»

Die Alte, die ganz klein und verhutzelt aussah, faltete feierlich die Hände überm Bauch: «Mein Magen is wieder einmal hundsmiserabel. Sonst tät mir nichts fehlen. Der Doktor sagt, ich bin für meine Jahr noch fein beisammen, nur der Magen! Ich sollt mehr essen, sagt er, und ich hab auch einen Wolfshunger. Aber meiner Seel, ich kann fast keinen Bissen mehr vertragen!»

«Sie tun mir so leid, liebe Betty. So ein Magen ist furchtbar zuwider. Magen und Zähne. Weiß Gott, wozu wir die überhaupt haben. Hat man keine Zähne, so kann man nicht verdaun, und hat man welche, so kann man es auch nicht.»

Die Alte kicherte leise. «Die Zähne, die ich noch hab, soll ich mir ausreißen lassen, sagt er. Aber ich geb sie nicht her. Vater hat keinen einzigen mehr und beißt doch einen Apfel zusammen. Na, ich werd's wohl nimmer lernen, dazu bin ich schon zu alt.»

«Sie könnten sich doch ein paar schöne neue einsetzen lassen.»

«Gott bewahre! Ich mag keine falschen! So eine Hoffart! Sie täten wohl auch nie falsche Zähne tragen, Miß Dinny, oder doch?»

«Natürlich tät ich's, Betty. Die vornehmsten Leute tragen sie heutzutag.»

«Da spaßen Sie aber. Nein, so was tu ich nicht. Grad so gern setz ich mir eine Perücke auf. Doch meine Haare sind noch so dicht wie früher. Na, für meine Jahr bin ich noch recht fein beisammen. Muß Gott danken! Nur der Magen! Wie wenn ein Stein drin liegen tät.»

Dinny sah, wie sich ihre Augen vor Schmerz trübten. «Wie geht's denn Ihrem Benjamin, Betty?»

Bei dieser Frage veränderte sich die Miene der Alten, ihr Blick wurde vergnügt und überlegen, als sei von einem Kind die Rede. «Dem Vater geht's ganz gut, Miß. Nie fehlt ihm was, nur das Reißen plagt ihn. Jetzt is er draußen, ein Stück Feld umgraben.»

«Und was macht Goldie?» fragte Dinny und betrachtete düster einen Stieglitz im Käfig. Sie konnte keinen Vogel im Bauer sehn, hatte es aber nie übers Herz gebracht, das unumwunden den beiden Alten zu sagen; sie hingen ja so sehr an ihrem kleinen gefangenen Liebling. Übrigens hieß es ja, ein zahmer Stieglitz würde in der Freiheit von seinen wilden Gefährten bald zu Tode gepeckt.

«Goldie?» fragte die alte Frau. «Ei, der bildet sich einen Haufen ein, seit Sie ihm den großen Käfig geschenkt haben.» Ihre Augen wurden hell. «Und der Herr Hauptmann hat geheiratet, Miß Dinny! Wie steht's mit der schandbaren Hetze gegen ihn? Sind denn die Leut nicht bei Trost? Mein Lebtag hab ich so was nicht gehört. Ein Cherrell als Angeklagter vor Gericht? Da steht einem ja der Verstand still!»

«Wahrhaftig, Betty.»

«Seine Frau is eine schöne Dame, hör ich. Wo werden sie denn leben?»

«Das wissen wir noch nicht. Zunächst heißt es abwarten, wie die Geschichte ausgeht. Vielleicht hier bei uns, vielleicht kriegt er einen Posten in den Kolonien. Die beiden werden natürlich sehr arm sein.»

«Schrecklich! Da war es in der guten alten Zeit doch anders. Was man sich jetzt alles gegen die Herrschaften herausnimmt, du lieber Gott! Ich weiß noch, Miß Dinny, wie Ihr Herr Urgroßvater vierspännig gefahren is. Ich war damals noch ein ganz kleines Ding. So ein netter alter Herr, so lieb zu den Leuten!»

Solche Aussprüche über die ‹Herrschaften› riefen in Dinny stets ein unbehagliches Gefühl wach. Sie wußte nur zu gut, diese Alte war mit sieben Geschwistern in der Hütte eines Landarbeiters aufgewachsen, der elf Shilling Wochenlohn hatte. Und jetzt mußten sie und ihr Gatte, nachdem sie sieben Kinder großgezogen, von der Alterspfründe leben.

«Na, liebe Betty, was vertragen Sie also? Ich möcht es gern der Köchin sagen.»

«Vergelt's Gott, Miß Dinny! Ein mageres Stück Schweinernes läßt sich der Magen mitunter gefallen.» Und wieder wurden ihre Augen ganz trüb vor Schmerz. «Wie mich das martert! Manchmal wär's mir schier am liebsten, ich läg unter der Erd.»

«Nur nicht verzagen, liebe Betty, bei der richtigen Kost werden Sie sich bald wohler fühlen.»

Das runzlige Gesicht der alten Frau schien zu strahlen.

«Für mein Alter bin ich noch fein beisammen. Da darf ich nicht klagen. Und wann werden denn für Sie die Glocken läuten, Miß Dinny?»

«Still, still davon, Betty! Von selber fangen sie nicht zu läuten an, das steht einmal fest.»

«Ja, ja, heutzutag heiraten die Leut nimmer so jung und kriegen nimmer so viel Kinder wie zu meiner Zeit. Meine Muhme hat achtzehn geboren und elf davon großgezogen.»

«Jetzt scheint für so viele weder Raum noch Arbeit vorhanden.»

«Jawohl! Das Land hat sich geändert.»

«Hier weniger als sonst wo, Gott sei Dank!» Dinnys Blicke glitten durch das Zimmer, in dem die beiden Alten mehr als fünfzig Jahre ihres Lebens verbracht hatten. Vom ziegelgepflasterten Fußboden bis zum Gebälk der Decke sah es blitzblank aus und wirkte traulich.

«Nun muß ich aber gehn, Betty. Ich wohne jetzt in London bei einer Freundin und muß heut abend noch zurück sein. Der Köchin werd ich sagen, sie soll Ihnen ein paar leichte Sachen schicken, die Sie noch besser vertragen werden als Schweinefleisch. Bleiben Sie doch sitzen!»

Doch die kleine Alte war schon aufgesprungen. Aus ihrem Blick sprühte ihre ganze Liebe und Anhänglichkeit. «Ihr Besuch war mir wirklich und wahrhaftig eine große Freude, Miß Dinny. Gott segne Sie! Hoffentlich hat der Herr Hauptmann mit dieser Bande keine Scherereien mehr.»

«Leben Sie wohl, Betty! Einen schönen Gruß an Benjamin.» Dinny drückte der Alten die Hand und trat ins Freie, wo die Hunde sie bereits auf dem fliesenbelegten Weg erwarteten. Wie stets nach einem solchen Besuch fühlte sie sich traurig, fast zum Weinen aufgelegt. Wurzeln! Die eben fehlten ihr in London, die hätte sie in der unabsehbar weiten Prärie vermißt. Sie schritt auf ein benachbartes, leicht ansteigendes Buchengehölz zu und betrat es durch ein verfallenes Zaungatter, das sie gar nicht erst zu öffnen brauchte. Dann stieg sie aufwärts durch den feuchten Hain, wo es würzig nach Bucheckern roch. Zu ihrer Linken hob sich ein graublauer Himmel von den herbstlichen Buchen ab, zur Rechten dehnte sich ein Brachfeld, auf dem ein Hase kauerte, emporschrak und in langen Sprüngen gegen den Heckenweg hin floh. Vor einem der Hunde flatterte krächzend ein Fasan auf und schoß über den Wald davon. Sie trat auf der Anhöhe aus dem Gehölz und blickte zum Schloß hinab; langgestreckt lag es da, altersgrau, halb verdeckt von Magnolien und den Bäumen des Rasenplatzes. Aus zwei Schornsteinen stieg der Rauch empor, der eine Giebel sah ganz weißgesprenkelt aus, so viel Tauben hockten auf seinem Dach. Volle zehn Minuten stand sie da, in diesen Anblick versunken, und sog die Luft von Condaford ein, wie eine Wasserpflanze die nährende Flut. Rings duftete es nach welkem Laub, Erdschollen und nahendem Regen. Zum letztenmal war sie Ende Mai hier gestanden und hatte die Sommerluft eingeatmet, die so viel Erinnerung und Verheißung birgt, so viel Schmerz und Entzücken …

Sie nahm zeitig den Tee, dann fuhr sie an Fleurs Seite im geschloßnen Auto nach der Stadt zurück. «Ich muß sagen», erklärte die kluge junge Frau, «Condaford ist einer der friedlichsten Plätze auf Erden. Die ländliche Abgeschiedenheit von Lippinghall ist nichts dagegen. Wenn ich hier leben müßte – es wäre mein Tod, Dinny.»

«Alt und verfallen, wie?»

«Hm! Ich sag Michael immer, euer Zweig seiner Familie ist eines der unergründlichsten und interessantesten Phänomene Englands. Ihr rührt nie die Reklametrommel, tretet nie ins Rampenlicht, liefert dem Romanschriftsteller keine Sensation, und dennoch seid ihr immer da und behauptet euch, ich weiß nicht wie. Alle Einrichtungen der Welt sind gegen euch, von den hohen Erbschaftssteuern bis zum Grammophonlärm. Und dennoch dringt ihr bis ans Ende der Erde und vollbringt Taten, die niemand erfährt, die niemand preist. Die meisten eures Schlages haben sogar nicht einmal mehr ein Condaford, in das sie heimkehren, wo sie sterben können. Und dennoch haben sie noch immer Wurzeln, noch immer Pflichtgefühl. Ich hab keines von beiden, wahrscheinlich, weil ich Halbfranzösin bin. Meines Vaters Familie, die Forsytes, hat vielleicht Wurzeln, aber kein Pflichtgefühl in eurem Sinn. Das eure ist vielleicht der Trieb, dem Vaterland zu dienen. Ich bewundre es, Dinny, aber es langweilt mich zu Tod. Dich treibt es jetzt, hinzugehn und dir dein junges Leben mit dieser Affäre der Forests zu verbittern. Pflichtgefühl ist eine Krankheit, Dinny, eine bewundernswürdige Krankheit.»

«Was sollte ich also nach deiner Meinung tun?»

«Dich ausleben! Nichts macht einen so alt wie deine jetzige Lebensweise. Angela ist vom gleichen Schlag, die Montjoys haben ja auch eine Art Condaford in Dumfriesshire. Ich bewundre ihre Anhänglichkeit an ihren Mann, finde sie aber verrückt. Das kann nur auf eine Art enden, und dieses Ende wird um so peinlicher sein, je später es kommt.»

«Ja», stimmte Dinny bei, «sie steigt hoch und wird tief fallen. Doch ich täte an ihrer Stelle dasselbe.»

«Mir fiele es nicht im Schlaf ein», erwiderte Fleur munter.

«Mir scheint, niemand weiß, was er in einer bestimmten Lage täte, eh er nicht vor der Entscheidung steht», gab Dinny zurück.

«Dazu darf man es eben nicht kommen lassen.»

Fleur hatte das in seltsamem Ton gesagt; um ihre Lippen lag ein harter Zug. Dinny hatte Fleur immer anziehend gefunden, weil man sich bei ihr nie recht auskannte.

«Du hast eben Forest nie gesehn», erwiderte sie, «darum weißt du auch nicht, wie erschütternd er wirkt.»

«Gefühlsduselei, meine Liebe. Ich bin nicht so gefühlvoll.»

«Du hast bestimmt eine Vergangenheit, Fleur, und hättest sie nicht, wenn du nicht auch gefühlvoll sein könntest.»

Fleur warf ihr einen hastigen Blick zu und trat eifrig den Accelerator. «Hohe Zeit, daß ich die Lampen anzünde.»

Während der übrigen Fahrt sprach sie über Kunst, Literatur und andre belanglose Themen. Als sie Dinny in der Oakley Street absetzte, war es fast acht Uhr.

Angela war zu Hause, schon zum Dinner gekleidet. «Dinny», rief sie, «er ist ausgegangen.»


 << zurück weiter >>