Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel

Durch hartnäckiges Telephonieren hatte Jeanne herausgebracht, daß Hubert sich im ‹Coffee House› aufhalte, und die letzten Ereignisse von ihm erfahren. Als Dinny und Adrian eintraten, kam sie grade aus dem Haus.

«Wohin des Wegs?»

«Bin gleich wieder da», gab Jeanne zurück und ging um die Ecke.

Sie fand sich in London nicht besonders zurecht und rief das erstbeste Taxi an. Vor einem großen, düstern Haus auf dem Eaton Square entlohnte sie den Lenker und klingelte. «Ist Lord Saxenden in London?»

«Jawohl, gnädige Frau, aber nicht zu Hause.»

«Wann kommt er zurück?»

«Seine Lordschaft wird zum Dinner hier sein, aber –»

«Dann warte ich.»

«Verzeihung – gnädige Frau –»

«Bin keine gnädige Frau», erwiderte Jeanne und gab ihm ihre Karte, «trotzdem wird er mich bestimmt empfangen.»

Der Mann zögerte einen Augenblick, fing einen ihrer scharfen Blicke auf und stammelte: «Bitte, hier einzutreten, gnädige – Miß?»

Jeanne folgte ihm. Das kleine Zimmer war ganz kahl bis auf einige goldverzierte Empiresessel, einen Luster und zwei Konsoltische mit Marmorplatten.

«Sobald er kommt, geben Sie ihm bitte schleunigst meine Karte.»

Der Mann schien sich zu sammeln. «Seine Lordschaft wird es eilig haben, Miß.»

«Unbesorgt – nicht eiliger als ich.» Sie ließ sich auf einem der goldverzierten Sessel nieder. Der Mann zog sich zurück. Schlank, grade und energisch saß sie da und flocht die langen Finger ihrer gebräunten Hände ineinander – die Handschuhe hatte sie beim Eintritt abgestreift. Bald blickte sie auf den dämmrigen Platz hinaus, bald auf die Standuhr mit dem goldverzierten Marmorsockel. Wieder trat der Diener ein und zog die Vorhänge zu.

«Möchten Sie nicht lieber eine Botschaft hinterlassen, Miß, oder ein paar Zeilen schreiben?»

«Danke, nein.»

Einen Augenblick sah er sie argwöhnisch an, scheinbar vermutete er bei ihr eine Waffe.

«Lord Saxenden kennt mich», sagte Jeanne und hob wieder den Blick zu ihm.

«Versteh schon, Miß», stotterte der Diener hastig und verschwand.

Langsam krochen die Zeiger auf sieben zu, da vernahm sie endlich Stimmen in der Halle. Im nächsten Augenblick ging die Tür auf, und Lord Saxenden trat ein, ihre Karte in der Hand, mit selbstzufriednem, vom Wandel der Zeiten unberührtem Antlitz. «Ein Vergnügen», erklärte er, «wahrhaftig ein Vergnügen!»

Jeanne hob den Blick. ‹Schnurrendes Biest!› fuhr es ihr durch den Kopf. Sie hielt ihm die Hand hin.

«Reizend von Ihnen, daß Sie mich empfangen!»

«Bitte. Nicht der Rede wert.»

«Ich wollte Ihnen nur meine Verlobung mit Hubert Cherrell mitteilen – Sie erinnern sich gewiß, Sie haben seine Schwester bei den Monts kennengelernt. Wissen Sie schon von diesem lachhaften Auslieferungsbegehren? Nicht wert, daß man ein Wort daran verschwendet – er hat ja nur aus Notwehr geschossen – er hat eine scheußliche Narbe, die er Ihnen jederzeit zeigen kann.»

Lord Saxenden brummte etwas Unverständliches. Seine Augen blickten ziemlich frostig drein.

«Ich bitte Sie also, der Sache ein Ende zu machen. Sie haben die Macht dazu, das weiß ich.»

«Macht? Hab gar keine Macht – nicht die geringste.»

Jeanne lächelte. «Natürlich haben Sie die Macht. Das ist allgemein bekannt. An dieser Sache ist mir so viel gelegen.»

«Aber neulich abends waren Sie noch nicht verlobt, wie?»

«Nein.»

«Geht das geschwind!»

«Gehn nicht alle Verlobungen geschwind?» Sie ermaß wohl kaum die ernüchternde Wirkung ihrer Mitteilung auf einen Mann in den Fünfzig, der das Zimmer in der vagen Hoffnung betreten hatte, er habe auf ein junges Mädchen Eindruck gemacht. Doch ihr entging nicht, daß sie seinen Erwartungen nicht ganz entsprochen, noch er den ihren. Seine Miene war glatt und vorsichtig geworden.

‹So hartgesotten hab ich ihn mir nicht vorgestellt›, dachte sie. «Jedenfalls», fuhr sie kühl in verändertem Tone fort, «ist Hauptmann Cherrell britischer Offizier, Inhaber der Tapferkeitsmedaille und stand im Feld. Ein Engländer läßt den andern nicht in der Patsche sitzen, hoff ich, und schon gar nicht, wenn beide dasselbe College besuchten.»

Diese überaus schlaue Bemerkung blieb auf Saxenden nicht ohne Eindruck. «Oh!» sagte er, «Cherrell hat also auch in Harrow studiert?»

«Jawohl. Und Sie wissen auch, wie es ihm auf jener Expedition ergangen ist. Dinny hat Ihnen ja einige Abschnitte aus Huberts Tagebuch vorgelesen.»

Saxendens rotes Gesicht färbte sich noch röter, und verzweifelt stieß er hervor: «Ihr jungen Damen bildet euch ein, ich hätte nichts andres zu tun, als mich in Dinge zu mischen, die mich nichts angehn. Auslieferungen sind Sache des Gerichts, nicht meine.»

Jeanne warf ihm unter langen Wimpern hervor einen Blick zu, und der unglückselige Lord duckte fast verängstigt den Kopf.

«Was kann ich tun?» brummte er, «man hört ja nicht auf mich.»

«Versuchen Sie's doch», gab Jeanne zurück, «auf manche Männer hört man immer.»

Lord Saxendens Augen traten etwas hervor. «Sie sagen, er hat eine Narbe. Wo denn?»

Jeanne streifte von ihrem linken Arm den Ärmel zurück.

«Von hier bis hierher. Als der Mensch ihm nochmals nahekam, schoß Hubert ihn nieder.»

«Hm!»

Er betrachtete höchst interessiert den Arm und wiederholte seine tiefsinnige Bemerkung, worauf Schweigen eintrat.

Plötzlich fragte Jeanne: «Möchten Sie sich gern ausliefern lassen, Lord Saxenden?»

Er machte eine ungeduldige Bewegung. «Aber, verehrte Gnädige, das ist eine Angelegenheit der Behörden.»

Jeanne warf ihm wieder einen Blick zu.

«Ist es denn wirklich wahr, daß amtlich nie jemand auf etwas Einfluß nimmt?»

Er lachte. «Lunchen Sie doch mit mir im Piedmont-Hotel, übermorgen, nein, überübermorgen. Dann sag ich Ihnen, ob ich etwas ausgerichtet hab.»

Jeanne verstand sich drauf, rechtzeitig Schluß zu machen. Auch bei den Versammlungen der Pfarrgemeinde spann sie ein Thema nie zu lang fort. Sie streckte ihm die Hand entgegen: «Herzlichsten Dank! Ein Uhr dreißig?»

Lord Saxenden nickte ganz überrascht. Dieses junge Frauenzimmer sprach verblüffend frank und frei; in seinen Kreisen war er ans Gegenteil gewöhnt.

«Auf Wiedersehn!» sagte sie.

«Auf Wiedersehn, Miß Tasburgh! Viel Glück!»

«Danke, hängt von Ihnen ab.» Und eh er noch etwas erwidern konnte, war sie durch die Tür entschwunden. Sie ging zu Fuß heim, ganz und gar nicht aufgeregt, sondern ruhig und besonnen. Sie dachte klar und schnell und empfand ein angebornes Mißtraun davor, ihre Angelegenheiten andern zu überlassen. Heut abend mußte sie unbedingt Hubert sprechen. Sie trat ins Haus, eilte sogleich wieder ans Telephon und rief das ‹Coffee House› an. «Bist du am Telephon, Hubert? Hier Jeanne.»

«Ja, Liebste.»

«Komm nach dem Dinner her. Ich muß dich sprechen.»

«Gegen neun?»

«Jawohl. Herzlichen Gruß. Schluß.» Sie hängte den Hörer auf.

Eh sie auf ihr Zimmer ging, sich umzukleiden, blieb sie einen Augenblick stehn, wie eine Leopardin, die sich zum Sprung anschickt. Wie die leibhaftige Jugend sah sie aus, die vorwärts stürmt in das Land der Verheißung, geschmeidig, unbeirrbar, jeden Muskel gestrafft. In Fleurs ‹stilisiertem›, vornehmem Salon schien sie so zu Hause und doch auch so fremd wie etwa eine Katze.

Wenn beim Dinner einer der Anwesenden schwere Sorgen hat und die andern darum wissen, dann pflegt sich das Tischgespräch meist nur um oberflächliche Dinge zu drehn. Niemand erwähnte Forests Heimkehr, Adrian ging gleich nach dem Mokka fort. Dinny begleitete ihn.

«Gute Nacht, lieber Onkel! Ich werd mit der gepackten Reisetasche zu Bett gehn; ein Auto ist hier jeden Augenblick zu haben. Versprich mir, dich nicht zu sorgen.»

Adrian lächelte, sah aber ganz vergrämt aus. Als Dinny zurückkam, trat ihr Jeanne entgegen und erzählte ihr den neuesten Stand von Huberts Angelegenheit. Im ersten Augenblick war sie wie vor den Kopf gestoßen, dann aber geriet sie in flammende Entrüstung.

«Unerhörte Niedertracht!»

«Jawohl!» stimmte Jeanne zu. «Hubert muß gleich da sein, ich möchte allein mit ihm sprechen.»

«Dann führ ihn ins Arbeitszimmer hinauf. Ich werd Michael davon erzählen. Die Sache muß vors Parlament! Nur ist es jetzt leider geschlossen», fügte sie hinzu, «es scheint nur dann zu tagen, wenn die Tagung besser unterbliebe.»

Jeanne wartete in der Halle, um Hubert einzulassen. Als er mit ihr in Michaels Arbeitszimmer hinaufgegangen war, in jenes Zimmer, dessen Wände die Stahlstich-Karikaturen der letzten drei Generationen bedeckten, drückte sie ihn in des Hausherrn sehr bequemen Lehnstuhl und setzte sich auf sein Knie. So blieb sie einige Minuten, die Arme um seinen Hals geschlungen, die Lippen mehr oder minder an seinem Mund.

«Genug!» erklärte sie dann, erhob sich und zündete sich und Hubert Zigaretten an. «Hubert, zu dieser Auslieferung kommt es nicht!»

«Wenn es aber doch dazu kommt?»

«Nein, sag ich. Übrigens ein Grund mehr, daß wir sofort heiraten.»

«Liebste, ich kann unmöglich.»

«Du mußt. Bildest du dir ein, ich bleibe daheim, wenn du ausgeliefert wirst? Es kommt ja nicht dazu, lachhaft! Aber wenn du fort mußt, fahre ich natürlich auf demselben Schiff mit, natürlich fahr ich – verheiratet oder nicht, ganz egal.»

Hubert sah sie an. «Bist ein Prachtkerl!» meinte er, «aber –»

«Aha, ich weiß schon! Jetzt wirst du deinen Vater ins Treffen führen, deine Ritterlichkeit, deinen Wunsch, mich unglücklich zu machen, natürlich zu meinem eignen Besten. Ich hab deinen Onkel Hilary aufgesucht. Er ist bereit, uns zu trauen. Er ist Pfarrer und dabei ein Mann von Erfahrung. Jetzt paß auf – wir werden ihm das neueste Stadium der Affäre berichten, und wenn er sich's inzwischen nicht anders überlegt hat, wird er uns trauen. Morgen früh gehn wir zusammen hin.»

«Aber –»

«Kein Aber –! Du kannst dich unbedingt auf ihn verlassen; er scheint mir ein vertrauenswürdiger Mann zu sein.»

«Ist er auch», erwiderte Hubert, «mehr als jeder andre.»

«Abgemacht! Jetzt gib mir noch einen Kuß!» Und sie setzte sich wieder auf sein Knie. Hätte Jeanne nicht so scharfe Ohren gehabt, die beiden wären von Dinny ertappt worden. Jeanne betrachtete also das Bild des ‹Weißen Affen›, das an der Wand hing, und Hubert holte sein Zigarettenetui hervor, als Dinny die Tür öffnete.

«Dieser Affe ist ausgezeichnet!» erklärte Jeanne. «Wir heiraten also, Dinny, trotz diesem neuen Blödsinn, wenn Onkel Hilary uns keinen Strich durch die Rechnung macht. Wenn du willst, geh morgen früh wieder mit uns zu ihm.»

Dinny sah Hubert an; der erhob sich und meinte: «Hopfen und Malz verloren. Ich kann mit ihr nichts anfangen.»

«Und nichts ohne sie», warf Jeanne ein. «Stell dir nur vor, Dinny: Er hat sich eingebildet, ich bliebe zu Haus, wenn man ihn ausliefert. Diese Männer sind wirklich wie die Wickelkinder! Nun, Dinny, was sagst du dazu ?»

«Ich freue mich.»

«Jetzt hängt es von Onkel Hilary ab», erklärte Hubert. «Wohlgemerkt, Jeanne!»

«Einverstanden. Er steht mit dem wirklichen Leben in Berührung, auf seinen Rat darf man gehen. Hubert, hol uns morgen um zehn ab. Dreh dich um, Dinny, er kriegt noch einen Kuß, dann marsch hinaus!»

Dinny wandte ihnen den Rücken.

«Kehrt euch!» gebot Jeanne. Sie gingen hinunter, bald darauf begaben sich die Mädchen zu Bett. Ihre Zimmer lagen nebeneinander und waren nach Fleurs vornehmem Geschmack eingerichtet. Sie plauderten noch ein wenig, umarmten einander und gingen dann jede auf ihr Zimmer. Dinny trödelte beim Entkleiden.

Der Square lag ruhig da, nur wenig Lichter brannten in den Häusern, die größtenteils Parlamentsmitgliedern gehörten. Jetzt, während der Sommerferien des Parlaments, waren die Bewohner verreist. Kein Windhauch bewegte das dunkle Gezweig der Bäume, durchs offne Fenster drang der wilde Lärm der Stadt, der Dinny keine Ruhe finden ließ. Die Nachtluft roch hier nicht so würzig wie in Condaford. ‹Ich könnte mit Jeanne nicht leben›, dachte sie. ‹Aber Hubert wird es können›, fügte sie gerechterweise hinzu. ‹Er braucht so was.› Sie verzog den Mund zu einem matten Lächeln über ihren Kummer, daß ihr Bruder Ersatz für sie gefunden. Als sie im Bett lag, dachte sie noch an Adrians Sorge und Angst um Angela und an jenes arme Wesen, ihren Gatten, der sich nach ihr sehnte, sie begehrte und einsam blieb, fremd und einsam, ihr und jedermann. Im Dunkel glaubte sie seinen brennenden, flackernden Blick zu sehn, den Blick eines Geschöpfs, das nach einem Heim verlangt, nach Frieden und Ruhe, und sie nicht finden kann. Sie zog die Decke bis an die Augen und sprach sich immer wieder zur Beruhigung den alten Kinderreim vor:

Schlaf Kindlein, schlaf!
Draußen stehn zwei Schaf!
Ein schwarzes und ein weißes.
Und wenn mein Kind nicht schlafen will,
Dann kommt das schwarze und beißt es!


 << zurück weiter >>