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23. Kapitel

Worin Rosemarie Thürke ihren Kampf allein kämpft

 

Sturm und Regen, trübe Wolken, ein grauer Tag, ein endloser Tag. Rosemarie ging hin und her, her und hin in ihrem engen Zimmerchen. Ja, wenn jetzt der Doktor noch einmal käme, sie würde nach ihm rufen, sie würde flehentlich bitten, sie fortzunehmen. Was wog es, daß er böse war auf sie? Gar nichts wog es! Allein die Angst in ihr bedeutete noch etwas. Sie wuchs an diesem regnerischen Tag, sie breitete sich aus mit dem Sturmwind, pfiff durch das Schlüsselloch, prasselte gegen die Scheiben. Alles war Angst, nur noch Angst.

Und es war nicht einmal Angst wegen des bösen Päule Schlieker, der sie wortlos aus der Kammer holte, an irgendeine Arbeit stellte, finster und hustend dabeistand und sie wieder einschloß. Nein, jetzt war es wegen der Frau, der Mali, die wortlos, bleich, mit ausdruckslosem Gesicht durch das Haus irrte, über den Hof ging, drei Minuten an einer glatten Wand nach einer nicht vorhandenen Klinke tastete. Ihr Gesicht war so ohne deutbaren Ausdruck, es schien klein geworden, als sei es von einem hitzigen Feuer in ihr zusammengetrocknet.

Die Frau kam in den Vorraum, wo Rosemarie – unter Schliekers Aufsicht – Schweinekartoffeln stampfte. Sie hatte eine Flasche in der Hand, eine geöffnete Flasche mit Petroleum. Sie blieb stehen, ohne von den beiden Notiz zu nehmen, sah sich um, als suchte sie etwas. Dann plötzlich neigte sie den Flaschenhals zur Erde, und breit aufklatschend spritzte das Petroleum vom Boden. Sie sah dem zu, gedankenlos, als sähe sie es gar nicht, sondern etwas anderes. Doch wollte es Rosemarie scheinen, als läge über dem starren Gesicht etwas wie ein Schimmer von Befriedigung, leiseste Andeutung eines Lächelns.

Mit einem Fluch war Schlieker zugesprungen, riß an der Flasche, die Frau hielt sie fest. Er zog und zerrte, dabei rief er – und auch in seiner Stimme klang etwas wie Angst: »Mali, Mali! Besinne dich! Was tust du?«

Päule begegnete dem aufmerksamen Blick des Mädchens, die Flasche war leer geronnen, er hatte sie der kleinen, schwachen Frau nicht fortnehmen können. Er faßte Rosemarie bei der Schulter und schob sie ohne ein Wort hastig durch Küche und Kinderzimmer in die Stube. Der Riegel klirrte vor, aufatmend lehnte Rosemarie den Kopf gegen die kalte Scheibe. Draußen hörte sie Schlieker aufgeregt sprechen, aber sie achtete nicht auf das, was er sagte. Nur die Angst war in ihr, gestaltlose Angst vor etwas Schrecklichem, das immer näher rückte.

Rechnete sie alles mit den längsten Zeiträumen, so mußte der Amtsgerichtsrat doch um sieben Uhr, spätestens um acht Uhr hier sein. Wenn sie nur bis dahin durchhielt, wenn es bis dahin nur nicht geschah! Aber was sollte eigentlich geschehen?

Unendlich langsam wurde es dämmrig, das Haus war totenstill. Wie glücklich wäre sie jetzt gewesen, wenn eine Kinderhand Kies gegen ihre Fenster geworfen hätte! Aber der Garten war leer, triefend naß beugten sich die Bäume, mit wild um sich schlagenden Ästen, beim Anprall des Windes. Auf dem See waren kleine, weiße Schaumköpfe. Dann regnete es wieder.

»Ich müßte Schlieker sagen, daß mein Wäschepaket noch immer in der Sandgrube liegt.«

Aber als er sie dann in der Dunkelheit zum Melken holte, sagte sie es nicht. Es kam nicht mehr darauf an, alles löste sich auf, ging seinem Ende zu. In einer Stunde konnte sie den Amtsgerichtsrat erwarten.

Nach dem Melken fütterte sie und putzte, sie machte Feuer im Herd und kochte irgend etwas schnell Fertiges zum Essen. Sie aßen allein in der Küche, Schlieker an der einen Seite des Holztisches, sie an der andern, der kleine Petroleumblaker zwischen ihnen. Die ganze Küche war voll dunkler, drohender Schatten. Und Mali war nicht da, kein Laut war im ganzen Haus zu hören, nur der Wind vor den Scheiben und manchmal das Kratzen einer Gabel auf dem Tellergrund. Jede Gesellschaft, selbst Päules, wäre ihr in dem verwunschenen Haus lieber gewesen als die abgeriegelte Einsamkeit ihrer Stube. Doch Schlieker jagte sie sofort nach dem Essen zurück, sie durfte nicht einmal abwaschen.

»Kannst dich hinlegen, schlafen«, murmelte er. Und schien zu lauschen. Dann klirrte der Riegel, und er war fort.

Sie stand wieder am Fenster, sah in die Nacht, aber es war nur Schwärze da, die wie eine Wand vor ihr stand. Ihr war, fast traumhaft, als hätte sie so ihr ganzes Leben hinter einem verschlossenen Fenster gestanden, mit dem blinden Blick auf eine Welt hinaus, die dasein mußte und ihr doch immer nur diese schwarze Rückwand zeigte.

Jetzt muß der Amtsgerichtsrat schon unterwegs sein, auf der Küchenuhr war es vorhin halb acht gewesen.

Das Haus war totenstill, aber sie meinte doch zu hören, wie es in den Wänden rieselte, wie die Tragbalken sich noch einmal spannten, um gleich, gleich für immer nachzugeben. – Ja, totenstill ... Das Dach duckte sich darüber, aber es konnte auch ein Gewicht sein, ein lastendes Gewicht, das alles zerdrücken würde. Sie fühlte es förmlich, eine Sekunde lang war es, als schwebe schon die Schutt- und Steinlawine über ihr. Sie zog den Hals ein, die Schultern hoch – dann brach in die atemraubende Stille von nebenan her der Schrei!

Sie fuhr zusammen und schrie auch auf, aber dann faßte sie sich wieder. Die Lawine war nicht abgestürzt, es war nichts, Mali hatte wieder einen Anfall bekommen, weiter war es nichts.

Eine Weile wartete sie, ob Schlieker sie zur Hilfe holen würde, aber es war schon wieder still, niemand kam. Sie legte den Kopf gegen die Trennwand, kein Laut, nichts. Müde setzte sie sich auf ihr Bett und zog das Kissen frierend über die Knie.

Wo blieb der Amtsgerichtsrat? Er müßte längst hier sein. Ach, er kam sicher nie!

Sie war sich bewußt, daß Schlieker vor ihr stand, die rötlich scheinende Stallaterne in der Hand, ein veränderter, geängsteter, aufgeregter Schlieker.

»Marie, Marie, wach auf! Die Frau ist weg ... Ich war eben vorm Haus, da lief jemand ... Sie ist weg, der Stall steht offen ... Komm, hilf suchen ...«

Er hustete keuchend. Sie sprang auf, Angst und Müdigkeit waren fort, die Stunde war da!

»Lief Mali draußen?«

»Nein, nein, sie kann das nicht gewesen sein. Ich sehe im Stall nach, such du hier im Haus.«

Er lief kopflos mit der Laterne fort, ließ sie im Dunkeln. Sie tastete sich in die Küche, ihre Hände suchten nach der Küchenlampe, sie war nicht da, sie suchte.

»Jetzt könnte ich fortlaufen«, dachte sie flüchtig und suchte weiter.

Dann dauerte es ihr zu lange, im Dunkeln lief sie über den Gang in das Zimmer ihres Vaters.

»Mali, Mali!«

Nichts antwortete. Sie kam auf den Flur zurück, ein kalter Luftzug blies sie an, die Luke zum Boden mußte offenstehen. Sie kletterte die Stiege hinauf und blieb, den Kopf eben durch die Luke steckend, stehen.

Da war der Boden und da war die Mali! Über den Boden lief es mit vielen aufhuschenden, sich senkenden Zungen, hellen Feuerzungen mit bläulichem Rand, und dazwischen stand im Hemd Mali ...

»Päule!« schrie Rosemarie hinunter. »Hierher! Es brennt!«

Sie sprang vollends hinauf, lief über die kleinen Flammen, die schon überall waren, zu der Frau hin, die starr, geistesabwesend und doch mit einem Lächeln zwischen dem steigenden Feuer stand.

»Mali!« schrie sie. »Komm! Komm bloß schnell!«

»Horch!« sagte die Frau. »Wie es knistert! Wir sind frei ...«

Ein hereinfauchender Windstoß blies ein Flammenbündel hoch wie einen Strauß riesiger, feuerroter Tulpen. Verzaubert schaute Rosemarie hin. Auf langen, blauen Stielen schwankten die Blüten ...

»Sieh«, flüsterte die Frau, »wir sind frei.«

Etwas biß in Rosemaries hängende Hand – neben ihr stieg eine weiße, glutzitternde Flamme auf. Sie riß an der Frau, zögernd folgte sie.

»Schnell«, flüsterte Rosemarie.

Unten in dem zitternden Schein, der nun schon durch die Luke leuchtete, stand groß und schwarz Schlieker.

»Brennt es?« fragte er leise.

»Es brennt«, antwortete sie.

»Wasser?«

»Nichts, nein«, schüttelte sie, »es brennt schon überall. Was sollen da ein paar Eimer Wasser?!«

»Ich ...«, fing er an. Er schüttelte den Kopf. »Das wollte ich nicht ... Nein, nein«, sagte er dann ungeduldig. »Jetzt ist alles zu Ende ...«

Er stand da und sah Rosemarie an. Von oben fiel röterer Schein hinab. Nun prasselte und knisterte es, wie es Rosemarie vorhin in ihrer Stube gehört hatte.

»Ich habe immer Pech gehabt«, sagte der Mann langsam. »Und du hast mir nun das größte Unglück gebracht, Marie.«

Er stand unentschlossen da. Plötzlich lachte er auf, breitete die Arme aus und sagte mit einem seltsamen Schluchzen in der Stimme: »Also, ich bin fertig! Es brennt ... Hast du es doch geschafft –!«

Er ging aus dem Gang, ließ sie dort stehen mit der bewegungslosen, teilnahmslosen Frau.

Als Rosemarie die Willenlose angezogen hatte, mit ihr aus dem Haus kam, schlug schon die Flamme aus dem Dach. Im Dorf wurde Schreien laut, die Glocke fing an zu bimmeln. Brausend stürzte sich der Sturm in die Flammen, riß Fetzen von ihnen ab, trieb sie in die Nacht wirbelnd über das Stalldach fort.

Die Kühe brüllten im Stall. »Man müßte das Vieh losmachen«, dachte Rosemarie, seltsam betäubt (ihr war, als sei sie ganz ruhig); aber sie ging nicht, sie ließ die Frau an ihrer Seite nicht los.

Die Flammen prasselten und sangen, sie schlugen immer höher in den Nachthimmel, noch waren die Fenster im Erdgeschoß dunkel.

»Man müßte Vaters Sachen heraustragen«, dachte Rosemarie wieder, aber die Erstarrung wich nicht von ihr.

Ein Funkenregen fiel stäubend hinter den Fenstern von Schliekers Schlafzimmer nieder. Flammend kam von niederfallenden Balken Schlag auf Schlag – eine Scheibe sprang klirrend ...

Und nun liefen die ersten Menschen herbei, schreiend, keuchend, zuerst ratlos umherirrend, dann zum Stall.

»Geht doch weg, ihr Weiber!« schrie einer und stieß Rosemarie an.

Langsam, Schritt für Schritt, ging Rosemarie aus dem Funkenregen mit der Frau dem Garten zu. Es war sehr schwer, etwas zu tun, und sei es auch nur zu gehen.

Bei einer Bank hielt sie an, setzte sich, zog die Frau Mali neben sich. Das Haus war eine glühende, lohende Fackel. Beide starrten sie bewegungslos hinein.

So wurde sie von ihren Freunden gefunden, von Professor Kittguß und Doktor Kimmknirsch, vom Amtsgerichtsrat Schulz und dem Hütefritz. So in die Flammen starrend, ohne Wort und Träne.

»Hast du es doch geschafft«, klang es in Rosemarie. Und immer wieder die Frage: »Ich –? Wirklich ich?«


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