Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

13. Kapitel

Worin Doktor Georg Kimmknirsch Patienten bekommt und in eine Verschwörung gerät

 

In Kriwitz gab es zwei Ärzte: den alten Geheimen Sanitätsrat Faulmann, kurz Geheimrat genannt, und neuerlich dazu noch den Doktor Georg Kimmknirsch, meist gar nicht genannt.

Eigentlich bot Kriwitz mit seinen achtzehnhundert höchst langlebigen Einwohnern und einer ländlichen Umwelt, die womöglich noch widerstandsfähiger war, schon einem Arzt kein zu reges Betätigungsfeld. Eigentlich hatte schon der alte Geheimrat allein ein gar zu beschauliches Dasein führen müssen, und Goldfäden aus dem ländlichen Stroh seiner Ärztekunkel zu spinnen war ihm nicht geglückt. Er hatte sich und seine Familie eben grade so durchgeschlagen und hatte sie ja auch schließlich alle jedesmal satt gekriegt mit seiner Neigung, ihnen die vorzüglichen Agrarprodukte der Gegend als Abschlag aufs Honorar mitzubringen: Enteneier, zwei Honigwaben, einen frischgeschossenen Hasen, einen Korb Himbeeren und einmal sogar – bei einem bösartig an Nichtzahlen erkrankten Patienten – ein fettes Kalb, das ihm allerdings in seinem Kutschchen rechten Kummer mit unverständigen Kapriolen gemacht hatte.

Was wollte es da also heißen, daß eines Tages bei Frau Postdirektor Bimm ein weißes Emailleschild mit der Inschrift hing:

 

Dr. Georg Kimmknirsch
Prakt. Arzt u. Geburtshelfer
Sprechst. 6-11 u. 4-6 –?!

 

Gar nichts wollte das heißen! Die Kriwitzer in und außer der Stadt zogen die Schultern hoch und grinsten.

Zweimal Sprechstunde am Tage – sonst kann er es wohl nicht schaffen. He –??!

Und ein richtiger Porzellanknopf zu einer richtigen elektrischen Glocke, wo doch jeder weiß, daß man beim alten Geheimrat am zweiten Fenster Parterre gegen die Scheiben zu klopfen hat. Der geht bald wieder ...

Aber Doktor Kimmknirsch ging nicht bald wieder. Ob er Patienten hatte oder nicht (natürlich nicht) – ob er sich darüber ärgerte oder nicht (natürlich ärgert er sich!) –, unverbrüchlich stieg er morgens um elf mit freundlich-ernstem, braunem, sehr sommersprossigem Gesicht auf sein Motorrad und töffte stinkend und hupend aus der Stadt, womöglich denselben Weg, den eine Stunde vorher Geheimrat Faulmann mit seinem Braunen langgezottelt war.

»Was das nur bedeuten soll!« lachten die Leute. »Uns kann er doch nicht die Augen verblenden!«

Vielleicht wollte er das auch gar nicht. Vielleicht wünschte Doktor Kimmknirsch nur, für ein paar Stunden aus der hocheleganten Wohnung bei Frau Postdirektor Bimm, wo ihn die sechs Rohrstühle im Wartezimmer förmlich angähnten, hinauszukommen an die frische Luft. Das wäre schon zu verstehen gewesen, denn er war von Jugend auf an viel frische Luft gewöhnt, als Sohn vom Schäfermeister Kimmknirsch aus Hinterpommern, in der Nähe von Belgard an der Persante.

Jawohl, er fuhr ins Grüne oder Gelbe oder Braune, er lehnte sein Motorrad an einen Baum und ging im Wald spazieren, er sprang gänzlich unbekleidet in einen welteneinsamen See und schwamm, er suchte unter einer Hecke und knackte zwischen zwei Steinen Haselnüsse (und war immerhin schon so weit zivilisiert, daß er nicht wie in seinen Schäferjungentagen die Zähne nahm) – ja, er kletterte sogar in seinen schönen, teuren, großkarierten Anzügen auf eine Kiefer und nahm ein Krähennest aus. So vertrieb er sich seine Zeit, und ungeduldig war er gar nicht – was der Sohn eines Schäfers ist, der dreitausend Schafe zu warten hat, der wird schon auf ein paar Patienten warten können!

Und was noch viel mehr ist: er konnte sich sogar das Warten leisten, denn er hatte, was die Kriwitzer nicht wußten, schon von Geburt an, was der alte Geheimrat in seinem ganzen Leben nicht geschafft hatte. Er war auch ohne Patienten ein recht gutgestellter junger Mann, dieser Sohn des Schafmeisters Kimmknirsch!

Schäfer Kimmknirsch war nämlich ein in jenem Lande Hinterpommern sehr bekannter Mann, war noch weit über die Grenzen dieser Halbprovinz berühmt und geehrt als Arzt, zu dem man selbst in den schwierigsten Fällen gehen konnte, der das Geld von seinen Tausenden von Patienten nur so scheffelte. Aber wenn er es in seinem Leben in jeder Hinsicht weit gebracht hatte, einen großen Kummer hatte er doch: daß ihn nämlich seine Kollegen von der wahren, alleinseligmachenden medizinischen Fakultät stets nur den Quacksalber und Viehdoktor nannten.

Er nahm es mit seinen Krankenheilungen so wichtig und genau wie nur einer von ihnen, aber es steckte in ihm wie in allen: man möchte grade da Anerkennung ernten, wo von Rechts und Natur wegen gar nicht darauf zu rechnen ist.

Da war es denn sein Herzenswunsch, aus dem Jungen Georg einen »wirklichen« Doktor zu machen, und bei der Erfüllung dieses Wunsches hatte er, der wie ein rechter Landmensch jeden Pfennig umdrehte und jede Mark ängstete, ehe er sie ausgab, nie mit dem Gelde geknausert.

So wandelte denn Doktor Georg Kimmknirsch der Jüngere nun durch Kriwitz' Gassen und Auen, zahlte zur Überraschung aller an jedem Ersten pünktlich die Miete, aß mittags im »Erbherzog«, hielt sein Schwätzchen mit Herrn oder Frau Stillfritz (und erfuhr dabei mancherlei Nützliches über Land und Leute) und ließ sich durch etliche gutmütige Stichelreden am abendlichen Stammtisch nicht die Spur aus der Ruhe bringen.

Wenn ihn etwas störte, war's der Mangel an Arbeit, aber schließlich hatte er die dicksten wissenschaftlichen Werke in seinen Schränken stehen, und so saß er denn auch an diesem stillen Oktoberabend über seinen Büchern und dachte nichts anderes, als daß sein Leben erst einmal so weitergehen würde – bis zur nächsten großen Influenzaepidemie etwa; wenn er überhaupt darüber nachdachte.

Aber so lange brauchte Doktor Kimmknirsch nun nicht mehr auf den ersten Patienten zu warten, denn der stieg grade jetzt unten vom Wagen, und Mali tröstete: »Jetzt hast du es gleich überstanden, Päule!«

Worauf er wütend antwortete: »Was ich wohl überstanden habe, wenn ich zu dem Knochenschuster gehe! Denn ob er überhaupt was kann, weiß keiner. Wir wollen nur hoffen, daß er wenigstens nicht so neugierig wie der alte Geheimrat ist.«

Da hatten Schliekers es nun schlecht getroffen. Denn neugieriger noch als der Geheimrat war sicher Frau Postdirektor Bimm, die ihnen die Tür aufmachte. Sie sah die beiden sehr prüfend an und wollte sich gar nicht recht zu einer Meldung bei Herrn Doktor entschließen. Und als sie schließlich doch meldete, meldete sie »zwei Leute«, machte aber dabei eine heftige und kaum mißzuverstehende Gebärde, als seien es gerade keine guten Leute.

Aber der Herr Doktor wollte sie doch empfangen. Er schaltete sogar das Deckenlicht ein, und so hatte er gleich eine gute Aussicht auf die beiden Besucher.

Den Mann sah er zuerst, denn er war zuerst eingetreten, und der sah mit blaugeschlagenem Auge, geschwollener Nase und blutrünstiger Lippe so aus, daß der junge Arzt unwillkürlich rief: »Oho! Oho! Da hat es aber Kloppe gegeben!«

»Geben Sie mir das schriftlich?« rief der Besucher rasch.

»Daß Sie Schläge bekommen haben?«

»Daß ich mißhandelt worden bin, junger Mann!« sagte Päule wütend.

»Dazu müßte ich erst wissen, wie Sie gehandelt haben«, antwortete der Arzt kühl. »Im übrigen bin ich kein junger Mann, sondern der Herr Doktor Kimmknirsch!«

»Und einen feinen Namen haben Sie da erwischt«, sagte Päule, fest entschlossen, sich von diesem Hungerleider nicht imponieren zu lassen. »Fast so schön wie meiner. Ich heiße nämlich Schlieker.«

»Schlieker?« fragte der junge Arzt, und ihm fiel ein, was er heute mittag im »Erbherzog« von Frau Stillfritz gehört hatte. »Schlieker aus Unsadel?«

»Derselbige«, nickte Schlieker. »Sie haben also schon von mir gehört. Da werden Sie wissen, daß ich mir so was nicht gefallen lasse, und darum verlange ich ein Zeugnis von Ihnen und eine genaue Untersuchung, denn zahlen soll der Kerl ...«

»Das müssen Sie vor Gericht anbringen«, sagte Kimmknirsch. »Ihre Untersuchung und Ihr ärztliches Zeugnis sollen Sie bekommen – aber erst ist hier die junge Frau wichtiger. – Sie haben heute einen Anfall gehabt?«

»Nein so was!« rief Schlieker, nun doch verblüfft. »Woran sieht man denn das?!«

Aber dann war er still und ließ die beiden reden, denn allmählich imponierte ihm nicht nur das feierliche Ordinationszimmer, ganz in Weiß und mit schimmernden Glasscheiben und blitzenden Geräten (ganz anders wie beim alten Geheimrat), sondern auch der Arzt mit dem klaren, ernsten Gesicht und den durchdringenden, ruhigen, hellen Augen.

»So, nun nehmen Sie einmal das«, sagte Kimmknirsch schließlich und gab Frau Schlieker ein Glas. »Und am besten bleiben Sie erst eine Woche im Bett liegen ...«

»Herr Doktor!« unterbrach Schlieker. »Wie soll sie das denn machen?! Wir haben Vieh, und sie muß Essen kochen und ...«

»Herr Schlieker«, unterbrach nun wieder Kimmknirsch. »Ich verordne, was ich für richtig halte – das ist meine Sache. Und Sie tun von meinen Verordnungen das, was Sie für richtig halten – das ist wieder Ihre Sache. So, und nun machen Sie einmal Ihren Oberkörper frei, Ihre Frau sagt, Sie haben ein paar Rippen gebrochen ...«

»Er hat sie mir gebrochen, der Hund ...«, legte Schlieker wieder los. Aber der Arzt sagte nur: »Ruhig, wenn ich untersuche ...«, und Schlieker war ruhig.

»Nicht weiter gefährlich«, meinte Doktor Kimmknirsch abschließend und legte lange Streifen Heftpflaster dachziegelförmig über die Schliekersche Brust. »In drei Wochen ist das wieder heil. Drei Rippen gebrochen und zwei angebrochen. Die ersten Tage liegen Sie am besten auch im Bett, und Schweres tragen, wie Säcke, ist natürlich ausgeschlossen ...«

»Herr Doktor, ich hab doch 'nen Hof, ich muß doch Vieh versorgen«, sagte Schlieker, jetzt ganz demütig bettelnd.

»Ich hab's Ihnen schon gesagt, Herr Schlieker, ich verordne, Sie tun, was Sie wollen. Im übrigen werden Sie ja wohl einen Menschen im Dorf finden, der Ihnen die paar Tage zur Hand geht ...«

»Im Dorf?! In Unsadel?!« höhnte Schlieker. »Da kommt keiner zu mir!«

»Keiner?« fragte der junge Arzt und sah seinen Patienten nachdenklich an.

»Keiner, Herr Doktor«, antwortete Päule und grinste dabei, als freue er sich, daß Unsadel so sei, wie es sei.

»Sie ahnen ja nicht, wie schlecht die Menschen bei uns sind«, sagte die Frau heftig, und ihr blasses, trostloses Gesicht wurde böse.

»So«, sagte Doktor Kimmknirsch nur. »So. Nun schreibe ich Ihnen noch Ihr Attest. – Sie wollen es fürs Gericht?«

»Und ob ich das will! Gleich von hier gehe ich zum Amtsgerichtsrat, und Haussuchung bei dem Hund muß heute noch sein! Glauben Sie, ich lasse ihm die kleine Thürke?«

»Die Thürke?« fragte der Arzt erstaunt und dachte an sein Mittagsgespräch im »Erbherzog«. »Ich habe gehört, die ist mit einem alten Manne nach Berlin durchgebrannt?«

»Nach Berlin –?« sagte Schlieker verächtlich und für ihn war mühelos jetzt weiß, was am Morgen noch gnitterschwarz gewesen war. »Die Thürke sitzt in Unsadel versteckt beim Bauern Gau, der mich so zugerichtet hat, und heute abend hat sie sogar meiner Frau zwei Kleider gemaust ...«

»Sie hat sie aber ...«, wandte Frau Schlieker ein.

»Halt's Maul!« schrie Schlieker.

»Nicht so laut«, sagte der Arzt. »Überhaupt sollten Sie in nächster Zeit Ihre Frau nicht so anbrüllen – wenn es überhaupt sein muß ... Hier ist Ihr Attest.«

»Danke auch schön, Herr Doktor. Was macht es?«

»Drei Mark«, sagte der junge Arzt und dachte, daß er mit diesem Honorar seine Praxis lieber nicht eröffnet hätte. »Übrigens wird Herr Amtsgerichtsrat Schulz jetzt nicht zu Haus sein.«

»Weiß doch, weiß doch, Herr Doktor. Ich kenn doch Kriwitz. Sitzt im »Erbherzog«. Und dahin fahren wir jetzt. Guten Abend, Herr Doktor.«

»Guten Abend«, sagte der Arzt und knipste hinter seinen ersten Patienten das Deckenlicht wieder aus.

Es war jetzt Zeit, zum Abendessen in den »Erbherzog« zu gehen. Doch einen Augenblick dachte Doktor Kimmknirsch daran, lieber nach Frau Bimm zu klingeln und sie um ein Glas Tee und ein paar Butterbrote zu bitten, um in aller Abendstille und Sammlung diesen bösartig bissigen Fuchs mit seiner kummervollen, aber zum mindesten ebenso bösen Elster zu verdauen.

»Aber warum eigentlich?« dachte er dann. »Ob ich die Schleicherei wirklich noch einmal im »Erbherzog« sehe oder nicht, kann mir doch egal sein. Und die Verhandlung selbst wird Schulz ja nicht grade in der Gaststube führen.«

Also zog er den Mantel an, rief halblaut über den Flur: »Ich bin in einer halben Stunde zurück, Frau Bimm«, und trat auf die Straße.

Es war ein dunkler, trüber, feuchter Herbstabend mit ein wenig Nebel. Der Doktor ging gemächlich durch die fast ganz dunklen Straßen seinem Ziel zu und summte dabei gedankenvoll das Lied von der Holzauktion vor sich hin.

Doch grade als er den Straßendamm kurz vor seinem Ziel überquerte, schoß aus Dunkel und Nebel ein düsteres Ungetüm auf ihn zu. Kimmknirsch wollte zur Seite springen, das Ungestüm sprang zur Seite. »Halt!« schrie Kimmknirsch überlaut und ganz unnötig, denn schon bekam er einen fürchterlichen Stoß vor Magen und Brust und stürzte rücklings auf das Pflaster.

Neben ihm prasselte, knirschte und stürzte es dumpf, zwei weitere Stimmen schrien – und die alten Laternen fingen in besorgniserregender Weise vor Kimmknirschs Augen auf ihren Pfählen zu tanzen an. –

Eine Weile später war er sich bewußt, daß eine junge weibliche, ein wenig spröde Stimme etwas zu ihm sagte. »Sehr angenehm«, murmelte er, noch halb benommen. »Danke. Ja, danke.«

»Haben Sie sich etwas getan?« hörte er dann die junge Stimme etwas deutlicher fragen. »Gott, habe ich Ihnen sehr weh getan?!« – »Das haben Sie!« sagte Kimmknirsch energisch und setzte sich auf dem Kopfsteinpflaster der Landstadt Kriwitz hoch. »Ich glaube, Sie sind mit zwanzig Zentnern Gewicht und mit fünfzig Kilometer Geschwindigkeit in meinen Magen gerast.«

Er bemerkte neben sich ein Fahrrad, das völlig zertrümmert schien, und, zwei Meter ab, eine dunkle Gestalt, die sich auch grade stöhnend aufrichtete. Direkt vor ihm aber stand eine Weibsperson, eine junge, soweit die aus Stadtmitteln recht spärlich gespeiste Laterne erkennen ließ.

»Es tut mir so leid –!« sagte sie und faltete recht rührend und überzeugend die Hände vor der Brust. »Wissen Sie, ich hatte den Jungen vorn auf dem Rade. Er ist krank, ich wollte mit ihm zum Arzt ... Und hier geht es bergab, verstehen Sie, und das Pflaster ist heute auch so glitschig ...«

»Und Sie hatten kein Licht«, sagte der Arzt mit Nachdruck, »vergessen Sie nicht, Sie hatten kein Licht ...« Noch etwas fiel ihm ein: »Und geklingelt haben Sie auch nicht!«

Aber das Mädchen – es mußte wohl ein Mädchen sein – war seinen Vorwürfen entflohen und flüsterte mit dem andern Gestürzten. Kimmknirsch seinerseits betastete sachverständig Leib und Brust, zog erst das eine, dann das andere Bein an und bewegte prüfend die Arme. Alles funktionierte, etwas Ernsteres war ihm nicht geschehen – nur sein Kopf brauste wie ein Bienenhaus zur Schwarmzeit.

Das Mädchen kam zurück. »Der Junge sagt, er kann noch warten. Darf ich Sie wohl unterdes irgendwohin bringen, in Ihre Wohnung? Oder zu einem Arzt? Hier gleich in der Nähe wohnt einer ...«

»So«, sagte Kimmknirsch und tat grimmig. »Also zum Arzt wollen Sie mich bringen?«

»Es ist erst ein junger Arzt«, sagte das Mädchen, um Entschuldigung bittend, »und er weiß vielleicht noch nicht soviel. Aber zum Geheimrat ist es so sehr weit. Sie sollen auch keine Kosten davon haben«, sagte sie plötzlich und versuchte, sein Gesicht im Dunkeln zu erkennen. »Ich habe grade etwas Geld bekommen.«

»So, haben Sie das?« fragte Kimmknirsch und saß immer noch auf dem feuchten Pflaster. »Was fehlt denn dem Jungen?«

»Er ...«, fing sie an und verwirrte sich. »Er ist nämlich krank. Aber, bitte, fragen Sie nichts, kommen Sie jetzt, daß ich Sie zum Arzt bringe.«

»So wollen wir sehen, daß wir ihn zusammen hinbringen«, meinte der Arzt und stand schwerfällig auf. »Hinken kann ich jedenfalls noch. – Oder holen Sie doch noch lieber jemanden«, sagte er, schon gebeugt über den Kranken. »Er scheint ohnmächtig.«

»Nein, nein, keine Leute!« rief das Mädchen in einem Ton so echter Verzweiflung, daß der Arzt zusammenfuhr. »Ich trage ihn ganz alleine. Bitte, fragen Sie nichts, aber nur keine Leute.«

»Schön«, sagte Kimmknirsch nach kurzem Überlegen. »Dann fassen wir beide an. Aber das Rad müssen wir liegenlassen.«

»Ach, das Rad!« rief sie. »Lassen Sie doch das Rad! Wenn ich den Jungen nur erst beim Arzt habe – und Sie natürlich auch«, setzte sie rasch hinzu.

»Also los!« sagte der Arzt. »Kommen Sie, Sie fassen so an, ich so ...«

Es war eine klägliche, kümmerliche, unendlich langsame Prozession, die da durch Kriwitz zog, und es war nur gut, daß die Straßen um solche Herbstabendstunde gänzlich ausgestorben waren, sonst hätte es mancherlei Aufsehen und vielerlei Gerede gegeben. Aber Schritt für Schritt, mit mancher Ruhepause, schafften sie es doch. Schließlich kam das weiße Schild in Sicht, und das Mädchen sagte keuchend: »Da ist es endlich! da wohnt der Doktor.«

»Das weiß ich«, antwortete Kimmknirsch, ebenso keuchend. »Ich bin es nämlich selber.«

»O Gott!« rief das Mädchen und war so überwältigt, daß sie kein Wort weiter sagte.

»Geben Sie ihn mir jetzt auf den Rücken, die paar Stufen trage ich ihn schon besser allein hinauf«, half ihr der Arzt über den Schreck. »Hier sind die Schlüssel – machen Sie auf. Leise, Fräulein, leise ...! Frau Postdirektor Bimm ist ganz ausgehungert nach Neuestem, und da Sie Diskretion wünschen ... Die weiße Tür rechts, der Schalter sitzt links ... So ... Halten Sie den Kopf, ich lege ihn jetzt aufs Sofa ... So ... Nun noch die Tür zu. – Und jetzt haben wir es geschafft –!«

Er stand keuchend im Zimmer, und hätten ihn die Kriwitzer so gesehen, mit dem Schlamm ihrer Straßen auf Mantel, Hose und im Gesicht – sie hätten gegrinst: Haben wir es uns nicht gedacht?! Haben wir es nicht gleich gesagt?

Einen Augenblick blieb er so, keuchend und überlegend. Nur einen flüchtigen Blick warf er auf das Mädchen, das mit gesenktem Kopf gegen den Türrahmen lehnte – ebenso ausgepumpt wie er. Dann trat er zu dem Ohnmächtigen, fühlte den Puls und sah dabei zum ersten Male in vollem Licht dies hilflose, blöde Gesicht, das bläulichweiß war vor Blutleere.

»Was hat er?« fragte er über die Schulter.

»Eine Wunde«, flüsterte sie. »Am rechten Fuß.«

Der Arzt antwortete nicht, horchte nur, fühlte wieder, zählte.

Dann wandte er sich rasch um. »So schmutzig kann ich nichts tun. Setzen Sie sich hier ruhig an den Tisch und warten Sie. Waschen dürfen Sie sich übrigens auch – hier ...«

Sein Ton war ohne alle Freundlichkeit, nur ernst und streng. Rosemarie fühlte es, sie sagte gehorsam: »Ja« und huschte zum Tisch. Erst als der Arzt aus der Tür ging, wagte sie flehend zu fragen: »Und der Philipp, Herr Doktor? Ist es sehr schlimm –?«

»Ich muß mich erst saubermachen«, sagte der Arzt und verschwand.

Sie tat, was er befohlen hatte, aber sie konnte nicht still am Tischlein sitzen, immer wieder trat sie zu Philipp. Was sie fühlte, war Angst, Angst über alles Begreifen, Angst seit der Sekunde, als die Falle mit scharfem Klick zugeschlagen war und Philipp aufgeschrien hatte. So aufgeschrien –!

In der Sandgrube nachher hatte er nur leise gewimmert und dazwischen gemurmelt: »Es ist nichts, min Deern ..., es ist gleich wieder gut ...«

Aber es war nicht gleich wieder gut. Das Blut rann und rann, und sie bekam es nicht zum Stehen. Beim Schein schnell aufflackernder und ebenso schnell wieder ausgeblasener Streichhölzer löste sie die Falle und versuchte, aus der Wäsche einen Verband zu machen ...

Und das halb verhungerte, mißhandelte Geschöpf wurde immer schwächer ...

Ja, da war Angst gekommen – Angst über das, was sie begonnen, ahnungslos, mit einem Brief –, und nun wuchs es wie ein Feuer, griff hierhin, flammte dort, und sie mitten drin, ohne Gewalt, es zu dämmen, zu löschen ...

Dann die schreckliche Fahrt auf Hütefritzens altem Rad mit dem immer schwerer werdenden Jungen über den Sandweg nach Kriwitz, diese endlose Fahrt, bei der zu treten, auszuschauen in die Nacht, zu steuern und festzuhalten war, und dabei immer die Angst: Wenn er nun stirbt ... Was habe ich nur getan ...

Tiefschwarze Oktober-Nebelnacht, ohne Stern, und ein fast versagendes Herz, ohne Trost ...

Das Gesicht des jungen Arztes, wie sie es auf der Straße gesehen, mit den hellen, freundlichen Augen, mit der kameradschaftlichen Stimme ... und jetzt der kalte, ernste Ton ...

»Sie sollen am Tisch sitzen«, sagte er hinter ihr, im weißen Mantel. »Sehen Sie nicht her, setzen Sie sich ...«

Sie tat es, sah vor sich in den Schoß.

»Gibt es denn nichts in der Welt«, fragte sie sich in einer verzweifelten Anwandlung, »wohin man flüchten kann? Irgend etwas müßte es geben, wohin man geht, wenn man gar nicht mehr aus noch ein weiß.«

Von ihrer Jugend und den verstorbenen Eltern her und ganz frisch noch aus des Professor Kittguß' Munde hätte sie es kennen müssen, dieses »Irgend etwas«, aber es ist nun einmal so, daß die Jugend zumal alles von dieser Welt und ihren Menschen, wenig aber von Gott erwartet.

Der Arzt stieß einen ärgerlichen Ruf aus, jetzt sah er wohl den Fuß.

»Woher ist das?« fragte er scharf über die Schulter.

»Er ist in eine Falle getreten«, antwortete Rosemarie ängstlich.

»So!« rief der Arzt böse. »Und warum sind ihm diese Drecklappen umgebunden worden? Und derartig sinnlos?! Macht das ein vernünftiger Mensch?! Nicht mal ausgewaschen sind die Wunden, alles voll Sand und Dreck?!«

»Wir ... ich hatte nichts anderes ... Und es war kein Licht ...« Oh, gegen diesen schneidend bösen, kalten Ton konnte sie sich nicht verteidigen.

»Fräulein«, sagte Herr Doktor Georg Kimmknirsch und wandte ihr sein zorniges Gesicht jetzt ganz zu. »Fräulein, Sie sind jetzt ausgeruht und ein bißchen warm geworden, nicht wahr? Nun rate ich Ihnen: ziehen Sie sich Ihren Mantel wieder an und verschwinden Sie! Ich will Sie nichts weiter fragen, wie Sie mich gebeten haben, aber gehen Sie ...«

Sie sah mit hilflos zitternden Lippen zu ihm auf, in ihre großen, hellen Augen traten ein paar Tränen. Doch sie schien die strengen Worte ganz überhört zu haben, sie fragte eindringlich: »Und der Philipp –?«

Ein wenig milder sagte der Arzt: Der Mittelfußknochen ist zerschlagen, wahrscheinlich gesplittert. Er muß operiert werden, das kann ich hier nicht machen. Er muß ins Kreiskrankenhaus ...«

»Nicht ins Krankenhaus!« bat das Mädchen flehentlich. »Er wird glauben, er ist wieder in der Blödenanstalt. Er war einmal da, Herr Doktor, und er hat solche Angst davor ...«

Doktor Kimmknirsch sah sie nachdenklich an: »Sie können ihn doch nicht pflegen«, sagte er. »Kein Verbandszeug, kein Licht, kein Wasser ... womöglich kein Geld ...« Sein Gesicht wurde wieder strenger: »Es geht nicht immer so, wie man möchte, mein Fräulein ...«

»Und die Polizei!« flüsterte das Mädchen noch angstvoller. »Im Krankenhaus muß er doch angemeldet werden. Er ist doch ein entlaufener Knecht ...«

»Da!« sagte der Arzt wütend. »Da! Nun fangen Sie wirklich an zu schwatzen. Und ich sollte Sie nichts fragen ...« Er überlegte. »Kann er denn nicht zu seiner Dienstherrschaft?! Wem ist er denn entlaufen? So schlimm wird es doch gar nicht sein ...«

»Schlieker in Unsadel ...«, flüsterte das Mädchen.

»So!« sagte der Arzt. Und noch einmal: »So!« Seine Stimme klang wieder milder. Er dachte nach. Dann fragte er: »Dann hat Herr Schlieker wohl auch die Falle aufgestellt?«

»Ja«, flüsterte das Mädchen.

»Und für kein Tier?«

»Nein«, sagte sie leise. »Wohl für mich.«

»Sie sollen doch nicht schwatzen«, sagte Doktor Kimmknirsch ärgerlich. »Sie sind ein sehr schwatzhaftes Mädchen. Sie meinen für Diebe, für Kleiderdiebe ...«

Er sah sie scharf an.

Sie errötete leise. Dann warf sie trotzig den Kopf mit den hellen Haaren zurück. »Ja, für Kleiderdiebe«, sagte sie.

»Ich will sehen, was sich tun läßt«, sagte der Arzt langsam. »Ich hole meinen Kollegen, Herrn Geheimrat Faulmann. Der Junge wird unterdes nicht wach werden, ich habe ihm eine Spritze gegeben. Sie werden jetzt diese Tablette nehmen und sich hier in meinem Schlafzimmer auf das Sofa legen und sofort einschlafen. Sie stehen nicht auf, wohlverstanden, ehe ich es Ihnen erlaube. Sie schlafen ...«

»Oh, Herr Doktor –!« rief Rosemarie.

»Wollen Sie still sein!« befahl er. »Sie haben zu schlafen, nicht zu schwatzen! Und es ist noch lange nicht ausgemacht, Fräulein Thürke, daß ich Sie nicht persönlich dem Ehepaar Schlieker wieder zuführe. –

Rasch: Hier ist eine Decke. Decken Sie sich gut zu. Gute Nacht!«

Der Arzt überlegte lange, er sah sie lange an. Ihr war, als drängen seine Augen immer tiefer in sie ein, und das war nicht schlimm, nein, sie wünschte, diese Augen sähen alles, alles. Plötzlich, unter diesem Blick, in ein paar flüchtig vorbeihuschenden Sekunden, wird es ihr, als kennte sie nun das eben noch ersehnte »Irgend etwas« – fast lächelt sie.


 << zurück weiter >>