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1. Kapitel

Worin Professor Gotthold Kittguß von einem Engel besucht und nach Unsadel gesandt wird

 

Es war einmal ein alter Professor namens Gotthold Kittguß, der hatte weder Weib noch Kind. Bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr war er schlecht und recht an einem Berliner Gymnasium Lehrer der christ-evangelischen Religion gewesen. Zudem hatte er die jüngeren Jahrgänge in die lateinische und griechische Sprache eingeführt, während er mit den älteren, soweit sie sich später der Gottesgelehrsamkeit widmen wollten, das Neue Testament im griechischen Text gelesen und das Hebräische exerziert hatte.

Diese fünfundzwanzig Jahre seines Lehrerdaseins hatte eine wahre Liebe zu den heranwachsenden Knaben erwärmt, und sein eifrigstes Bemühen war dahin gegangen, ihnen nicht nur die Schrift, sondern auch den Geist, der in dieser Schrift wohnt, recht faßlich zu machen. Viele Male schon hatte er den Jungen das Neue Testament erklärt und damit auch die Offenbarung Johannis, aber nie hatte er versucht, gerade an dieses letzte und ihm sehr liebe Buch der Heiligen Schrift mit eigenen Deutungen heranzugehen.

»Da aber ließ mir«, wie er in seinem Tagebuch niedergeschrieben, »der Herr mit einemmal ein Licht aufgehen, durch das mir die Pforte zum göttlichen Bau der Offenbarung aufgeschlossen ward. ›Wie‹, fragte ich mich, ›wenn zwar für die Herrlichkeit des vollendeten Reiches Gottes keine Zeitschranke gesetzt wäre, wohl aber für den vorangehenden Jammer, welcher der Weg zu dieser Herrlichkeit ist?‹ Mit der stärksten Klarheit und Überzeugung stellte sich diese

Vermutung vor meine Seele, und ich ward so sehr von ihr eingenommen, daß ich nicht mehr imstande war, die Unterrichtung meiner Knaben fortzusetzen ...«

Trotz mancher an ihn gerichteten Bitte von Mitlehrenden und Schülern suchte er um seine Pensionierung nach, die ihm schließlich auch gewährt wurde. Und nun zog er sich ganz in seine Berechnungen, Textvergleichungen und Schriftdeutungen zurück.

Nur einem Studienfreunde von ehemals, einem Geistlichen Thürke im Mecklenburger Lande, hatte er von den tieferen Gründen zur Veränderung seiner Lebensumstände Mitteilung gemacht, und zwar mit den Briefworten: »Es ist mir nicht möglich, Dir eine Nachricht vorzuenthalten, von der ich gleichwohl wünschen muß, daß Du sie vorerst ganz für Dich behältst ... Unter dem Beistand des Herrn habe ich die Zahl des Tieres gefunden. Dieser apokalyptische Schlüssel ist von Wichtigkeit, denn diejenigen, welche jetzt geboren sind, kommen in wunderbare Zeiten hinein. Auch Du hast Dich darauf gefaßt zu machen, denn Weisheit wird nottun ...«

Dies war im Dezember geschrieben, und es wurde März, ehe Professor Kittguß eine Antwort seines Freundes Thürke in Händen hielt: Es sei ihnen ein Töchterchen geboren, das in der Taufe den Namen Rosemarie erhalten habe, und als Taufpaten habe man auch den Herrn Professor Gotthold Kittguß in das Kirchenbuch eingetragen, weswegen man seine Zustimmung erhoffe. – Es freuten den Freund die wunderbaren Zeiten, denen dies Mägdlein entgegengehe! Indessen möge er, der Kittguß, seine Untersuchungen beschleunigen und sobald wie tunlich abreisen in die ländliche Pfarre, sich das Patenkind zu beschauen. Auch auf dem Lande fehle es nicht an Zeichen kommender guter Zeiten: in diesem Jahre sei der Frühling eher, denn je erhört, gekommen, auf dem Kirchgang seien die Schwalben schon über dem Täufling mit ihrem Zwi-Wit hingeschossen ...

Professor Kittguß hatte einen Augenblick nachsinnend über diesem Brief gesessen, in seiner dunklen Wohnung war es für eine kurze Frist hell gewesen; er hatte den Brief auch beantworten wollen. Dann aber war er zwischen andere Papiere geraten, die Berechnungen, was eine halbe Zeit, ein καιρός, und eine gemessene Ewigkeit, ein αἰών seien, hatten den Professor wieder ganz gefangengenommen. Und so blieb der Brief unbeantwortet und vergessen, durch sechzehn Jahre, wie die ganze Umwelt vergessen und ohne Lebenszeichen vom Professor blieb.

Wir haben ihn uns in all diesen fast nur hinter dem Schreibtisch verbrachten Jahren vorzustellen als einen immer noch ansehnlichen, großen Mann mit einem breiten, fleischigen, weißen Gesicht, festem Kinn, starken, dunklen Augenbrauen, braunen, freundlichen, aber etwas fremden Augen und sorgfältig gescheiteltem, weißem, etwas gewelltem Haar. Er gab viel auf Sauberkeit, stets war er glatt rasiert, seine weißen Halsbinden waren sorgfältig gestärkt und geplättet, seine weißen, sehr kleinen, etwas vollen Hände, an deren Handgelenken erst da und dort der erste gelbe Altersfleck auftauchte, trugen trotz aller Bücher und Schreibereien nie ein Spürchen Staub oder Tinte.

Betreut wurde der Professor von der Witwe Müller, die hinten in der Küchenregion lautlos wirtschaftete, lautlos ihm das Essen hinstellte, an jedem Sonnabend ungefragt die frische Wäsche über den Stuhl legte und nie ein überflüssiges Wort sprach.

Die beiden waren so ineinander eingelebt, daß sie oft viele Wochen nicht einmal miteinander sprachen. An jedem Morgen jedes Monatsletzten fand Professor Kittguß über seinen Schreibtischsessel gebreitet liegen: den Mantel, dazu den Hut und den Stock. Aus einer Lade hob er dann das Sparbuch, ging langsam durch die Straßen zu seiner Kasse, wartete bedächtig versonnen am Schalter, bis er angesprochen wurde, hob das – immer gleiche – Wirtschaftsgeld ab, ließ den Rest der Pension seinem Guthaben zuschreiben und ging langsam – jetzt schon wieder voll mit seiner Arbeit beschäftigt – nach Haus. Dort wartete bereits im Flur die Müllern – nahm Mantel, Hut, Stock und Wirtschaftsgeld wortlos entgegen, und Professor Kittguß setzte sich wieder für einen neuen Monat an seine geduldige, grüblerische Arbeit.

Zu Beginn seiner Studien hatte er in der Erleuchtung gemeint, dem Ziele ganz nahe zu sein. Aber je länger er arbeitete, um so ferner schien es zu rücken. Er saß und sann und grübelte über jedem Wort, und die Jahre rannen dahin. Aber wenn wir von ihrer sechzehn gesprochen haben, so muß bemerkt werden, daß Professor Kittguß von dieser Zahl nichts wußte, denn sie waren ihm alle wie ein Tag. Daß er selbst nun schon stark auf die siebziger Jahre seines Lebensalters losmarschierte, war ihm noch nie bewußt geworden über der Auslegung eines Briefes, wie dieser ist: »Und ich hörete eine Stimme in der Mitte der vier Tiere sagen: Ein Vierling Weizen um einen Zehner und drei Vierling Gersten um einen Zehner, und dem Öl und dem Wein tue kein Leid.«

Er saß und las und sann und schlug nach und bedachte dieses und jenes, und schließlich schrieb er nieder: »Hier ist die Rede von einer Zeit, die für das Öl und den Wein besser ist als für die Gerste und den Weizen. Alles miteinander aber zielt auf eine gemäßigte Teuerung. Weizen und Gerste, Öl und Wein sind die gemeinsten und nötigsten Lebensmittel. Also hält der hier gegebene Befehl gar viel in sich. Unter Trajans Regierung hat es, besonders im Süden, in Ägypten, das sonst ein fruchtbares Land und vieler Völker Kornboden war, eine namhafte Teuerung gegeben. Wenn der Nil sich nicht hoch genug, sondern unter vierzehn Schuh ergoß, gab es gewiß Teuerungen, wie Plinius Buch 5, Kapitel 9 bezeugt. Anno 110 im dreizehnten Jahre Trajans stieg der Nil nur auf sieben Schuh, wie Harduinus mit einer alten Münze beweist ...«

So weit war Professor Kittguß mit seiner Auslegung der Offenbarung Johannis an diesem trüben Oktobernachmittag des Jahres 1912 gekommen, als ihm bewußt ward, daß es an seiner Tür gepocht hatte, daß jemand an seinem Schreibtisch stand. Langsam und ein wenig widerwillig blickte er hoch und sah in das Gesicht der Witwe Müller. Dieses Gesicht drückte so vielerlei aus, vom Unwillen über die Störung an, die sie verursachen mußte, bis zu einem gewissen, ziemlich deutlichen Ekel, daß er ganz unwillkürlich sein Schweigen brach und fragte: »Nun, Witwe Müller, was gibt es?«

»Ein Junge«, flüsterte die Witwe Müller unwillig.

»Also ein Junge«, antwortete der Professor beruhigend, und eine Erinnerung an seine Lehrerjahre kam ihm. Er sah zur Tür und meinte schon den Klassenprimus Porzig eintreten zu sehen, die rote Schülermütze mit dem weißen Band in der Hand. Manchmal hatte Porzig – oder auch ein anderer – ihn in solch dämmriger Stunde aufgesucht und hatte die eine oder andere Frage gestellt, die schließlich alle darauf hinausliefen: wenn ich gläubig bin, muß ich alles glauben?

Wie eine Vorahnung kommender Ereignisse rührte den alten Professor ein Erinnern an jenes holde, vertrauensvolle Ehemals an – er sah auf die Tür, die Müllern ...

Er vergaß, daß der Klassenprimus Porzig jetzt ein Mann Mitte der Dreißiger sein mußte, daß ihm eine sehr lange Spanne Zeit über dem Papier zerronnen war, daß es unter den jetzt Jungen niemanden gab, der auch nur seinen Namen wußte.

Beinahe lächelnd sagte der alte Mann: »Und warum kommt der Junge nicht herein, Frau Müller?«

Die Müller wußte viel von ihrem Herrn, sie hatte ihn schon verstanden. »Nicht solch ein Junge«, murmelte sie unwillig.

»Nun, was es auch für ein Junge sei«, sagte der Professor fröhlich und stand groß und stattlich hinter seinem Schreibtisch auf, »lassen Sie ihn herein, Witwe Müller. Unsere Tür ist niemandem verschlossen.«

Er nickte ihr aufmunternd zu und ging selbst, das Deckenlicht einzuschalten. Dann blieb er stehen und sah auf die Tür.

Die Tür aber tat sich einen Spalt weit auf, und herein schob sich ein Geschöpf, ein Sohn Labans, ein trauriger Bengel, verdreckt und verkommen. Da stand er auf der Kokosmatte, eine alte Mütze in der Hand drehend, und sah nicht hoch und sprach kein Wort.

Nie in seinem ganzen behüteten Leben hatte der Professor Kittguß solch ein Geschöpf gesehen. Aber da stand es nun: überlang, mit schlottrigen Gliedern, die roten, unförmigen Hände waren geschwollen und aufgesprungen. Das Gesicht, sterbensbleich, mit einer riesigen, betrübten Nase, wulstigen Lippen, die halb offenstanden und gelbe große Pferdezähne sehen ließen, und dazu eine niedrige, weit vorgebuckelte Stirn, unter der die kleinen blicklosen Augen fast verschwanden –: so stand der Besucher da: ein armer Tölpel ... Und es griff dem Professor ans Herz, daß auch dieser Schwachsinnige ein Geschöpf Gottes sei, mit weniger Gaben für dies Leben als die meisten, mit einem dafür um so schwereren Weg ...

Kittguß sah zur Tür, die Müllern hatte sie nicht ganz geschlossen, sicher stand sie Wache auf dem Flur. Der Professor reichte an dem Jungen vorbei und zog die Tür sachte ins Schloß. Dann ging er zum Schreibtisch, aber er ging nicht an seinen Schreibplatz, er stellte sich vor ihn hin. Die Arbeit lag ihm im Rücken, Kittguß sah auf den Besucher.

Der stand noch immer wortlos, blicklos da, als wüßte er nicht, warum er hier stünde.

»Wie heißt du, mein Junge?« fragte der Professor sanft.

Die Antwort kam überraschend schnell, mit einer überraschend tiefen, rauhen Stimme: »Dat segg ick nich!«

Kittguß überdachte den Fall. Vielleicht war der Junge fehlgelaufen. »Ich heiße Gotthold Kittguß«, erklärte er.

»Dat weet ick!« sagte der Besucher wiederum rasch und rauh.

»Sprichst du nur plattdeutsch?« fragte der Professor.

»Joa!« antwortete der Junge.

»Von wo bist du denn?«

»Dat segg ick nich!« kam's wieder, rauh und böse.

Eine Weile war Stille, der Professor sah sich zweifelnd in seinem Arbeitszimmer um. Das Deckenlicht beleuchtete friedlich die Regale, deren Bretter sich unter der Last der Bücher krumm gezogen hatten. Es warf seinen Schein auf den Berg beschriebenen, teils schon vergilbenden Papiers, der griffbereit neben dem Schreibtisch in einem Ständer lag. Es verklärte auch die heutige Tagesarbeit auf dem grünen Filztuch, die vorwurfsvoll das Ende der Unterbrechung abzuwarten schien.

»Man müßte«, dachte der Professor, »hierzu auch noch den jüngeren Plinius zitieren, der als ganz Ungewöhnliches gemeldet hat, daß Trajan Anno 98 den Ägyptern mit Brotfrucht aushelfen mußte ...« Darüber fiel ihm etwas ein. Er ging hinter den Schreibtisch und öffnete ein Fach, in dem er zur Linderung seines Hustens einen braunen Malzzucker aufbewahrte. Er wählte ein großes Stück, machte einen Schritt nach dem Besucher hin, kehrte aber wieder um und nahm noch ein kleines Stück dazu. Das große gab er dem Jungen in die Hände, das kleine behielt er selbst. »Da, iß, Junge«, sagte er. »Es ist Zucker. Ich esse auch davon.«

Der Junge wollte das Stück Zucker zurückweisen, es wurde ihm schwer. In das arme, ausdrucklose Narrengesicht kam etwas wie Leben, in den Augen wurde etwas wach wie ein Blick ...

»Du magst ruhig essen«, sagte der Professor sanft, »deswegen brauchst du mir doch nicht zu sagen, was du nicht willst.«

Der Junge aß gierig. Mittendrin deutete er mit dem Kopf nach dem Schreibtisch. »Se schriew'n –? Jümmer?«

Der Professor erriet mehr, als er verstand. »Ja, ich schreibe«, antwortete er. »Meistens.«

»Setten Se sick dal«, sagte der Junge. »Un schriewen Se!«

»Was soll ich schreiben?«

»Wat Se süs (sonst) schriewen. Ick will sehn ... Ick will sehn ...«

»Was willst du sehen –?«

Aber der Junge antwortete nicht. Er war mit seinem Zucker fertig und stand nun wieder blick- und bewegungslos auf der Kokosmatte. Der Professor betrachtete ihn aufmunternd. Vielleicht steckte doch ein Sinn hinter all dieser Hilflosigkeit und Blödheit. Er machte ein paar Schritte, zögerte, tat noch einen Blick – nichts war verändert – und setzte sich auf den Sessel.

Er sah in das Geschriebene ...: »Wie Harduinus mit einer alten Münze beweist«, stand da.

»Richtig. Nun wollte ich noch den jüngeren Plinius anführen.« Und laut sprach er. »Setze dich doch hin, mein Junge, da auf den Stuhl, du siehst müde aus.« Und wieder zu sich: »Steht er noch da? Unverändert. Beinahe ist es wie ein Traum. Hätte ihn die Müllern nicht gebracht ... Also, der jüngere Plinius. Er muß es in seiner Lobrede auf Trajan Anno 100 gesagt haben ...«

Die rotgeschwollene Hand schob sich ihm zwischen Auge und Manuskript. Sie verschwand, und auf der Erklärten Offenbarung Johannis lag ein Zettel, ein Wisch, ein schmutziges Blatt, sichtlich aus einem Schulheft gerissen, aber ebenso sichtlich am rechten Platz, denn: »Herrn Professor Gotthold Kittguß« stand darauf zu lesen. Der Professor sah hoch, der Junge war lautlos auf den Platz an der Tür zurückgeglitten. Wieder hatte er sich nicht gesetzt, sondern stand dort mit einem Gesichtsausdruck, als grübele er etwa über dem Unterschied zwischen Schaf und Kuh.

»Herrn Professor Gotthold Kittguß« stand noch immer auf dem Schreiblappen. Für dieses Mal dachte der Professor nicht an das kostbare Manuskript, das darunter lag. Er entfaltete das nur ineinandergesteckte Blatt, las die Überschrift, stutzte, las noch einmal, sah zur Tür (der Junge stand) und machte sich endlich an den Brief.

»Lieber Pate«, las er. »Bei uns in Unsadel geht die Rede: ein Gau ist rauh, aber ein Schlieker ist ein Betrüger. Erst bin ich bei den Gauens geschlagen, nun wollen die Schliekers mich um mein Erbteil bringen. Du hast meinem seligen Vater die wunderbaren Zeiten, in die ich hineingeboren sei, zugesagt – willst Du nicht einmal kommen und nach mir sehen? Es eilt sehr. Matthäus 7,7. Deine Rosemarie«

Eine Nachschrift: »Ob Du kommst oder nicht, gib dem Philipp Geld für Essen, er hat zwei Tage zurückzulaufen.«

Die zweite Nachschrift: »Er soll Dir den Brief nur geben, wenn Du der rechte Mann für uns bist.«

»Oh, mein Herr und mein Gott!« rief Professor Kittguß über diesem jämmerlich stolzen Brief zu sich und legte die Hände recht theatralisch an den Kopf: »Was soll dies?! Was soll mir dies?!«

Er starrte auf den Brief. Ihm war wie einem Schläfer, der, aus einem sanften Traum geweckt, in einen schlimmeren Traum verstrickt wird, der nicht mehr weiß: wacht er, schläft er, wo ist er?

»Ein Gau ist rauh, aber ein Schlieker ist ein Betrüger«, murmelte er. »Rosemarie – Philipp – zwei Tage Weg – Narren und Narrenstreiche«, dachte er unwillig. »Philipp!«

Etwas wie ein Geräusch ließ ihn hochsehen, er blickte zur Tür, der Platz an der Tür war leer. Mit einem völlig jugendlichen Ruck war der Professor hoch und lief, »Frau Müller! Frau Müller!« rufend, in den Flur.

Die Tür zum Treppenhaus stand offen, er meinte Poltern auf den unteren Stufen zu hören. »Der Junge, der arme, blödsinnige Junge – ich muß ihm Geld geben!« rief er aufgeregt zur Müllern.

Seine Versorgerin sah ihn wortlos an.

Er überwand sich. »Philipp!« rief er ins Treppenhaus hinab. »Philipp! Du bekommst noch Geld ...«

Der Professor wurde ein wenig rot unter dem Blick der Müllern. »Er hat noch zwei Tage zu laufen«, versuchte er zu erklären. »Und er hat Hunger. Ich habe es gesehen, als er meinen Malzzucker aß ...«

»Ihren bayerischen Malzzucker, Herr Professor«, sagte die Müllern voll Empörung. »Solche wie die«, erklärte sie mit all der Verachtung der Armen für die Ärmsten »kommen nie um.«

»Frau Müller, Witwe Müller«, sagte der Professor mit erhobener Stimme, »was steht Matthäus 7,7?«

Sie antwortete nicht, aber sie lavierte den Aufgeregten, ohne daß er dessen achtete, in sein Zimmer zurück.

»Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan.«

Er stand an seinem Schreibtisch, in der stillen, geborgenen Helle des Arbeitszimmers, ein alter, noch stattlicher Mann, zur Stunde ein wenig erregt.

»Ich,« sagte er leise, »bin gebeten worden. Ich«, sagte er, »bin gesucht worden. Bei mir hat er angeklopft. Frau Müller, ich fahre morgen nach Unsadel.«

»Unsadel –?« fragte die Müllern, »wo ist denn das?«

»Ich weiß es nicht«, sagte der Professor. Aber auf der Eisenbahn werden sie es wissen. Dies zu wissen ist dort ihr Beruf.«

»Eisenbahn!« verwirrte sich Frau Müller und war sofort den Tränen nahe. »Herr Professor, ich bin siebenundzwanzig Jahre bei Ihnen, und Sie sind nie mit der Eisenbahn gefahren!«

»Das hat hiermit nichts zu tun«, antwortete der Professor milde. »Dies heißt den Fall zu weiblich betrachten.«

»Und Ihre Arbeit?« rief die Müllern, warf einen Blick auf den Schreibtisch und brach nun wirklich in Tränen aus. »Ihre Arbeit, Herr Professor?! Ich hatte mich so gefreut, Sie kamen in der letzten Zeit so gut voran.«

»Meine Arbeit?« fragte der Professor betroffen und sah mit ihr auf den Tisch voll Papier. »Ja freilich, meine Arbeit. Haben Sie mitgelesen? Ist sie gut?«

»Und ob sie gut ist!« rief die zu weiblich denkende Müllern. »Eine ganze Seite haben Sie in der letzten Woche jeden Tag geschrieben!«

»Meine Arbeit«, sagte der Professor noch einmal wehmütig. Er schwankte. Aber auf ihren Blättern lag der Brief, nicht mehr fortzudenken. Er hob ihn auf. Mit festerer Stimme sagte er: »Hier steht Matthäus 7,7. Das ist unverbrüchlich. Ich bin gerufen.«

»Von solchem Schmierian, Herr Professor!« widersprach die Witwe Müller.

»Liebe Witwe Müller«, sagte der Professor Gotthold Kittguß und war nun wieder ganz daheim in seiner milden Ferne. »Es ist ausgemacht und mit vielen Stellen der Heiligen Schrift belegt, daß Gott seine Boten und Engel durchaus nicht immer in der seligen weißen Flügelgestalt auf diese Erde sendet, wie wir als einfältige Kinder wähnten.«

Und als die Müllern noch weiter widersprechen wollte: »Genug und übergenug, es ist endgültig beschlossen: ich folge dem Ruf. Morgen in der Frühe fahre ich nach Unsadel.«


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