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8. Kapitel

Worin nächtlich beraten und der Belagerungszustand über Schliekers verhängt wird

 

Rosemarie fuhr hoch aus Plänen, Bedenken, Hoffnungen: ein kalter Luftzug kam von der Tür, etwas Weiches drängte sich winselnd an sie, schmiegte den Kopf in ihren Schoß.

»Mein Bello, Bello!« flüsterte sie entzückt. »Bist du nun auch hier! Guter Hund! Ja, ich weiß, du hast dich gesehnt! Sei leise, Lieber, er soll nicht aufwachen. Ganz leise!«

Der Hund sah unter dem zottigen Stirnhaar mit seinen bernsteinbraunen Augen liebevoll zu ihr auf, er drückte den Kopf fester an sie, selig die Wiedervereinigung genießend ...

In der Tür stand Philipp und flüsterte: »Se sund dor. Schalln se rinkamen, o'er kümmst du buten?«

Sie zog die Decke auf des Schläfers Knien zurecht und sagte: »Ich komme nach draußen ...«

Den Hund am Halsband, ging sie leise aus dem Waldhaus. »Philipp, bleib du hier. Sobald er aufwacht, rufst du mich.«

Ein wenig Mond, ein letztes Viertel, erhellte die Baumblöße mit blassem Schein so weit, daß Rosemarie die Gruppe der Wartenden erkennen konnte. Sie ging ihnen entgegen, fragte: »Sind alle da?«

Es war Hütefritz, der vortrat: »Ja, Rosemarie, alle bis auf Heini Beier. Er wollte, aber im Krug ist noch Licht, da hat er sicher nicht fortgekonnt.«

»Aber sieben seid ihr doch?« fragte Rosemarie.

»Ein Neuer«, murmelte Hütefritz verlegen. »Ich wollte ihn nicht mitnehmen, aber die andern sagten, wer mitmachen will, darf nicht zurückgewiesen werden.«

»Nein«, sagte Rosemarie rasch. »Darf er auch nicht. Es soll ein Zusammenhalt werden von allen Jungen im Dorf.«

»Aber es ist Otsche Gau«, beharrte der Hütefritz.

»Otsche Gau!« rief Rosemarie und war still.

Auch die andern waren still. Ja, sie traten zurück, so daß der neue Junge Rosemarie allein gegenüberstand. Sehr still war es, nur der Nachtwind lief einmal rasch über die Kronen der Bäume und verlor sich.

Der kleine, gedrungene, schwarzhaarige Otsche Gau, der manches Jahr Rosemaries schlimmster Feind gewesen, der das Pflegekind seiner Eltern wie ein rechtes Aschenputtel gekniffen und geschlagen, verpetzt und geschunden hatte, sagte endlich mürrisch: »Ich habe gehört, es geht gegen die Schliekers. Ich kann die Schliekers nicht riechen. Wenn du mich also nehmen willst, Marie ...«

»Ich heiße Rosemarie«, antwortete sie heftig. »Wenn mir die Großen meinen Namen nicht geben wollen, das ist mir egal. Wir sind keine Großen, und bei uns heiße ich Rosemarie, Otsche!«

»Na schön«, sagte der Junge trödelig. »Ich heiße auch eigentlich Georg, aber mir ist Otsche lieber. Aber gut, wenn ich gegen Schliekers mitmachen kann, sage ich auch Rosemarie.«

»Er ist ein Taps, Rosemarie«, gab Hütefritz zu bedenken. »Aber nützlich kann er sein ...«

»Ja, schon«, sagte Rosemarie, noch immer erbittert. »Und ich will auch gerne alles vergessen, Otsche, was gewesen ist, trotzdem du oft hundsgemein zu mir warst ...«

»Na, na«, sagte der dreizehnjährige Otsche beruhigend. »Immer halblang, Rosemarie, immer sachte! Denn wie oft du mich auf die Zehen getreten hast, wenn's keiner sah, daran denkst du natürlich nicht mehr.«

»Also gut, wir wollen alles vergessen«, sagte Rosemarie nach einigem Nachdenken sanfter. »Aber wenn du meinst, wir haben uns bloß zusammengetan wegen der Schliekers, Otsche, dann irrst du dich gewaltig. Die Schliekers müssen raus aus dem Dorf, das ist die eine Sache, aber das ganze Dorf muß anders werden, das ist die Hauptsache!«

Die Kinder im Kreis murmelten Beifall.

»Und was fehlt denn dem Dorf?« fragte Otsche Gau dröhnig. »Ich find, es ist ein ganz gutes Dorf, das Unsadel.«

»Gut?!« rief Rosemarie. »Was fehlt?!« rief Rosemarie. »Frag lieber, was da ist, Otsche!«

»Na, was fehlt denn?« fragte der Junge hartnäckig.

»Höre«, sagte Rosemarie eindringlich. »Du willst zu uns, Otsche, und das ist vielleicht gut, denn dein Vater hat den größten Hof. Die Schliekers gehören nach Biestow, wenn die Schliekers weg sind, ist Unsadel, was es vorher war, und das ist gar nichts. Wir wollen ein anderes Dorf Unsadel, unser Adel heißt das, und so soll das Dorf auch werden!«

»Ich versteh nichts«, beharrte Otsche Gau. »Unser Hof ist uns gut genug, wir ernten mehr als jeder andere im Dorf.«

»Wir wollen ein anderes Dorf, Otsche«, sprach Rosemarie. »Wie ist es denn jetzt? Jeder ist jedes Feind. Ihr Gaus seid mit allen verstritten, Hübners reden nicht mit Strohmeiers, Schulze Gottschalk ist aller Prügeljunge, die Frauen von Witt und Schluck haben sich gezankt, und seitdem schabernacken die Männer einander, wo es nur geht ...«

»So ist es doch überall«, sagte der Gaujunge.

»Aber bei uns soll es nicht mehr so sein«, rief Rosemarie. »Wir sind uns einig geworden, wir wollen das nicht mehr. Jeder soll jedem Freund sein, jedem helfen ... Da sind Robert Hübner und Albert Strohmeier, du weißt, wie ihre Väter stehen – na, vertragt ihr euch beide nicht hier?«

»Doch, doch!« riefen sie.

»Das geht, solange es geht«, widersprach beharrlich Otsche. »Aber laß Robert nur mal ein bißchen nah an die Grenze pflügen – gleich ist der Krach da!«

»Er wird eben nicht zu nah pflügen!« rief Rosemarie. »Nicht wahr, Robert?«

»Nein, werd ich nicht! ...«, bestätigte Robert Hübner.

Der junge Gau stand nicht mehr so unerschütterlich, und als er nun sprach, klang es nicht mehr so dröhnig: »Naja, das klingt alles ganz schön, aber ...«

»Halt, Otsche!« rief der kleine Witt. »Hör mal zu! Was kostet 'ne Leiter? Sieben Meter lang?«

»Was die kostet?« Otsche war etwas verblüfft. »Die Sprosse fünfzig Pfennig, zwanzig Sprossen und vier Scheiden zwölf Mark. Aber was soll das?«

»Schmeißt du zwölf Mark weg –?«

»Quatsch!«

»Kiek mal hinter deines Vaters Scheune, da hängt so 'ne Leiter. Ich kann sie immer von unserm Garten aus sehen, und hübsch ist sie auseinandergefault, deine Zwölfmarkleiter! Futsch ist die!«

Otsche Gau kratzte sich den Kopf. »Die hat Vater wohl ganz vergessen. Es ist«, sagte er entschuldigend, »weil wir fast nie hinter die Scheune kommen.«

»Siehst du! Und wenn wir nun nicht verkracht wären, hätte ich dir längst gesagt: sieh mal nach deiner Leiter ... Aber so – sind zwölf Mark hops.«

»Na schön«, gab Otsche Gau zögernd zu, »ich will ja nichts gegen eure Ideen sagen, aber ...«

»Und es ist nicht nur euer Schaden, sondern auch unser Schaden. Denn weil ihr nie hinter die Scheune kommt, wächst da lauter Unkraut. Und im Herbst wehen alle Schweinsdisteln in unsern Garten, und wir können hacken und hacken ...«

»Siehst du, Otsche«, sagte Rosemarie. »So denken wir uns das. Und wenn du nun mitmachen willst, gibst du jetzt jedem von uns die Hand und sprichst unsern Spruch: Ich für dich und du für mich, Unsadel blühe ewiglich!«

»Na schön«, gab Otsche klein bei. »Ich will es denn ja auch tun, Marie – nein, Rosemarie. Aber ist das in Ordnung, daß die Wittens uns den Pflaumenbaum abgesägt haben –?«

»Bist du jetzt ruhig mit deinem dußligen Pflaumenbaum«, schrie Hütefritz wütend. »Seit zwei Jahren quatscht ihr Gaus ewig von dem Pflaumenbaum, und nun fängst du hier auch noch davon an, wo es ums ganze Dorf geht ...«

»Aber es war ...«, fing der echte Sohn des Bauern Gau an.

»Gibst du die Hand: Ich für dich, du für mich, Unsadel blühe ewiglich?!« schrie der Hütefritz wütend. »Du bist genauso ein Dickkopf wie dein Alter! Ernst Witt, willst du dem 'nen Pflaumenbaum schenken, wenn du den Hof übernimmst?«

»Meinswegen«, sagte Ernst Witt, zwölfjährig. »Was das schon ist! Drei Mark kostet ein Pflaumenbaum in der Baumschule. Wenn dafür der ewige Stank weg ist ...«

»Also, du hast's gehört, Otsche, du kriegst deinen Pflaumenbaum. Und nun dein Versprechen ...«

Es klang hell im Kreise: »Ich für dich und du für mich, Unsadel blühe ewiglich!«

»Schön, Otsche«, sagte Rosemarie und freute sich doch. »Aber jetzt muß ich erst wissen, ob die Kinder gefunden sind?«

»Seht ihr«, sagte Hütefritz strahlend, »ich habe es euch doch gleich gesagt, das war die Rosemarie!«

»Natürlich war ich das. Und wer hat sie gefunden?«

»Ich!« schrie der Hütefritz. »Oh, Rosemarie, ich kam grade mit Tamms Kühen auf den Hof, und von der andern Seite kamen Tamms gelaufen – sie hatten sich doch bei Schliekers versäumt, weil sie durchaus wissen wollten, ob der Gendarm den Päule nun mitnahm oder nicht ...«

»Und hat er ihn mitgenommen?« fragte Rosemarie gespannt.

»Warte doch! – Also die liefen, daß sie zum Melken zurechtkamen, und ich lief auch, weil ich mich mit meinen Kühen versäumt hatte. Und die dämliche Bleß stellt sich wieder so verrückt an und brüllt und muht, weil sie nie in den Stall will. Es ist ein Spektakel, und ich horch und ich hör: ich hör doch was! Und plötzlich schreit die Frau: ›Das sind doch Kinder, die schreien! Jetzt weiß ich, sie sind mit Schliekers Kahn ertrunken, und nun spuken sie durchs Dorf!‹ Und ein Geschrei und ein Gezeter, als wollte man einem Huhn den Hals abhauen, na ja, ich sage bloß, die Frauen ...«

»Fritze!« rief Rosemarie wütend. »Nimmst du das zurück, du dämlicher Bengel! Auf der Stelle nimmst du das zurück!«

»Dich meine ich doch nicht, Rosemarie!« sagte Fritz gekränkt. »Wir wissen doch alle, wie dein Vater das Gespenst an der Kriwitzer Brücke verjagt hat und daß es überhaupt keine Gespenster gibt, wenn man ›Im Namen Gottes!‹ sagt. Darum bin ich doch auch rein ins dunkle Haus, und du kannst mir glauben, es hörte sich im Windfang grausig an. Da reichen keine zwanzigmal, daß ich ›Im Namen Gottes‹ gesagt habe, aber es wurde nicht still. Ich habe gestanden und mir überlegt, wenn sie auf Gottes Namen nicht still werden, sind es auch keine Gespenster. So habe ich schließlich die Schlafkammertür aufgemacht, und da quäkten sie so vor sich hin ... Wir haben es ja alle hier – bis auf den Otsche – oft genug gehört, wenn die Schliekers über Land waren und wir haben dir Gesellschaft geleistet, und so kannte ich es und machte Licht. Und da lagen sie ja nun auf den Betten ...«

»Und keines war runtergefallen?« unterbrach Rosemarie aufgeregt. »Ich habe immer Angst gehabt darum ...«

»Keines runtergefallen!« beruhigte sie Hütefritz. Das war ja nun nichts zum Fürchten, und so kriegte ich denn schließlich die Tamms herein und erfuhr so allmählich, warum sie denn nun eigentlich hier lagen. Ich wußte ja noch gar nichts.«

»Und was wurde?« fragte Rosemarie gespannt. »Sind sie wieder zu Schliekers gekommen?«

»Ach nee! Was du nur denkst! Ich kenne doch den Peter Gneis, und kaum wußte ich Bescheid, war ich auch schon im Krug, und da saß er nun so wütend über den verlorenen Tag wie nur möglich. Das wurde ein ander Gesicht, als er meine Botschaft hörte, und hin zu den Tamms, er wollte es erst gar nicht glauben!

Aber dann nicht lange gewunderwerkt, sondern den Maxe auf dem Rade den Schwestern, die schon wieder auf dem Wege nach Kriwitz waren, nachgeschickt, und ist runter zu Schliekers wie ein geölter Blitz. Da hat er aber so getan, als wüßte er nichts, und hat den Schlieker nur gebeten, er möchte mal mit zu August Tamm kommen, der hatte ein Geständnis gemacht.«

»Der August Tamm? Wieso?« fragte Ernstel Witt ganz verblüfft.

»Mensch, das ist doch nur eine Kriegslist gewesen, kapierst du das denn nicht?!!« fragte Hütefritz empört. »Er bringt also den Schlieker auf die Diele, wo August Tamm schon wartend sitzt. Es war nämlich vorher so verabredet, Ernst, mit deiner langen Leitung!«

»Roß!«

»Schafskopp!«

»Dösbartel!«

»Ruhe!« befahl Rosemarie. »Ihr werdet euch nachher beide hauen, damit die Stänkerei alle ist. Und weil Hütefritz schon vierzehn ist und Ernstel erst zwölf, wird Hütefritz ein Arm auf den Rücken gebunden ...«

»Meinshalben, ich ...«

»Ruhe jetzt! Erzähl weiter, Fritze!«

»Der August Tamm macht ein ganz unglückliches Gesicht, und Peter Gneis sagt ganz höflich: ›Nehmen Sie bitte Platz, Herr Schlieker. Ich habe Ihnen Unrecht getan, Herr Tamm hat jetzt alles gestanden.‹

›Was hat er gestanden?‹ fragt Päule. So dumm ist er ja nun nicht, daß er den Dreck nicht riecht, er weiß bloß nicht, woher es stinkt.

›Daß er Ihnen die Kinder gestohlen hat!‹

›Gestohlen, der Tamm? Ich hab die Kinder aufs Amt geschafft!‹

›Nein, ich hab sie dir gestohlen, Päule, weil ich mir mal wieder 'nen Witz machen wollte.‹

›Die Kinder sind auf dem Amt!‹

›Können Sie das beschwören, Herr Schlieker?‹

›Ich hab's ja schon zu Protokoll gegeben, daß ich sie hingeschickt habe.‹

›Also hier bei Tamm sind sie nicht?‹

›Sie sind auf dem Amt.‹

Und grade da kräht eines los!

›Herr Paul Schlieker – und was ist das?‹

Da gab's kein Halten, wir haben die Tür aufgemacht und haben reingesehen, und der Päule Schlieker hat in der Schlafkammertür gestanden und war weiß vor Wut. Und dann hat er gesagt: ›Hat die verdammte Giftkröte mir doch einen Streich gespielt, wenn ich die erwische ...‹ – ›Erst mal sind Sie erwischt, Herr Schlieker‹, hat Gneis gesagt. ›Und nun kommen Sie ohne Widerstand mit, denn daß ich Sie ein bißchen mitnehme, das brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu erzählen ...‹«

»Und Schlieker –?«

»Ist ohne ein Wort mit dem Gendarmer fort, und jetzt sitzt er schon im Kriwitzer Loch bei Thode Brummig.«

»Dann habe ich gewonnen«, rief Rosemarie jubelnd. »Jetzt müssen ihn die Vormünder absetzen. – Hütefritz Hütefritz«, rief sie und schüttelte ihn bei der Schulter. »Freust du dich denn gar nicht?!«

»Du bist eben doch ein Mädchen«, sprach der Hütefritz mißbilligend, »wenn du auch die Klügste von uns allen bist. Das solltest du nun doch schon wissen, daß Päule Schlieker immer wieder auf die Beine fällt, sooft man ihm auch ein Bein stellt.«

»Aber wo er schon im Loch sitzt!«

»Der Päule wird sich schon freischwindeln. – Was würdest du denn nun tun, Rosemarie?«

»Ich will morgen mit dem Professor zu Frau von Wanzka und Kaufmann Mühlenfeldt gehen und verlangen, daß Schlieker als Pflegevater abgesetzt und Professor Kittguß eingesetzt wird.«

»Nein, Rosemarie, mindestens mußt du abwarten, was der Amtsgerichtsrat tut. Und dann der alte Professor ...«

Hütefritz sah sich um, und – siehe – die andern murmelten Beifall.

»Was ist's mit dem Professor?« fragte Rosemarie ärgerlich. »Der war der älteste Freund meines Vaters und ist überhaupt der beste Mensch von der Welt!«

»Das mag sein, aber richtiger ist doch, du schickst ihn wieder zurück nach Berlin. Denn wir sind uns alle einig, daß er zu nichts nutze ist, und du kannst ihn auch nicht brauchen, Rosemarie. Das weißt du natürlich noch nicht, daß er sich heute früh von Tamms hat überreden lassen, wieder nach Berlin zu fahren, weil ihm die halbe Stunde in Schliekers Kohlenstall schon zuviel geworden ist ...

»Ist das wahr, Hütefritz?« rief Rosemarie. »Nein, das kann nicht wahr sein, er müßte es mir doch wenigstens gesagt haben. Ohne ein Wort weg, es kann nicht möglich sein.«

Sie sah böse auf all die mondscheinhellen Gesichter, die sie mit schwarzen Augenflecken starr ansahen. Aber keines wollte ihr zunicken.

»Es kann nicht wahr sein, Hütefritz!«

»Es ist wahr, Rosemarie! Frau Tamm hat es mir gesagt, und ich habe ihn in Tamms Stuhlwagen auf dem Wege nach Kriwitz gesehen. Darum sagen wir, schick ihn zurück, er macht uns nur Unfug. Wir wollen unter uns Jungen bleiben.«

»Und wieso ist er wieder hier?«

»Weiß ich, was ihm eingefallen ist?! Weg hat er gewollt, so viel ist sicher. Schick ihn fort, Rosemarie.«

»Es ist gut, Fritze«, sagte Rosemarie. »Wenn es so ist, wie du sagst, soll er fort. Ich werde mit ihm sprechen. Und was sollen wir tun, denkst du?«

»Ja«, sagte Hütefritz nachdenklich. »Bestimmt müssen wir erst einmal abwarten, was mit Päule Schlieker wird. Bleibt er drin, wird alles glattgehen – aber kommt er raus ... Ich hab dir ja erzählt, Rosemarie, wie er gedroht hat; dich darf er nicht wieder erwischen ...«

»Nein«, sagte Rosemarie, »nein, du hast recht. Ich bleibe erst einmal hier. Aber dann müßt ihr mir was zu essen besorgen, es ist fast nichts hier. Für mich und Philipp und den Bello – und auch für den Professor, erst mal.«

»Das machen wir, da hilft jeder mit«, sagte Hütefritz, und die andern bestätigten es. Wäre es heller gewesen, hätte man ihnen ansehen können, wie sie im Geist einen Überschlag über die mütterliche Speisekammer machten. »Hungern sollt ihr hier nicht!«

»Schön«, sagte Rosemarie. »Und einer sagt mir jeden Tag Bescheid, was im Dorf los ist.«

»In Ordnung.«

»O Gott, ihr habt es gut, und ich werde hier ewig sitzen und nicht wissen, was ich tun soll. Fritz, ihr müßt auch auf den Hof aufpassen, da sind Weizen und Roggen und Kartoffeln – ihr müßt genau aufpassen, ob die Mali was wegschleppt und zu wem.«

»Schön«, sagte Hütefritz. »Es werden immer zwei die Schule schwänzen müssen, wer will es sein?«

Da war keiner, der nicht »Ich« rief.

»Wie ihr mit Lehrer Schlitz auseinanderkommt«, sagte Hütefritz nachdenklich, »das ist eure Sache. Also Essen verschaffen wir dir, und den Hof bewachen wir dir auch. Schön, Rosemarie, und ist das nun alles?«

»Ich denke, ja«, sagte sie zögernd und sah auf die Getreuen.

»Na also«, sagte Hütefritz, »so ist denn wohl alles fertig, und wir können sehen, daß wir noch ein bißchen schlafen. Rosemarie ...«

»He, Hütefritz«, rief der Knirps Witt schnell. »Nicht so eilig! Erst soll ich dich noch verdreschen, das haben wir ausgemacht!«

»Du mich verdreschen?!« höhnte Hütefritz. »Komm bloß her ...«

»Halt!« riefen die andern. »Erst deinen rechten Arm auf den Rücken!«

»Ich hau ihn auch mit dem linken zu Mus!«

»Platte Wanze!« schrie schrill Witt die augenblicklich schwerste Beleidigung der Unsadeler Dorfjugend.

»Los!« kommandierte Rosemarie, denn schon war dem Hütefritz der Arm mit Sackband auf den Rücken geschnürt.

Die Kämpfer stürzten aufeinander, Hütefritz hob drohend den linken Arm, aber Witt war schon darunter weg. Ein auf den Rücken geschnürter Arm hindert rasche Bewegungen: wie ein Ziegenbock rannte mit eingezogenem Kopf Ernstel Witt Hütefritzens Hinterfront an. Der flog los, wie aus der Kanone geschossen, stolperte über eine Baumwurzel, angelte krampfhaft um Balance mit einem Arm ... Noch ein Prellstoß des Böckleins, und schon schwamm Hütefritz bäuchlings auf dem Boden wie eine Padde, und die andern jubelten ...

»Was geht denn hier vor?« fragte von der Hütte her der Professor Kittguß, dem der ganze Elfen- und Rüpelzauber des Sommernachtstraums auf dieser mondbeschienenen Waldwiese lebendig geworden schien. »Rosemarie, mein Kind, was begibt sich hier?«

Lautlose Stille nach dem Lärm, nur der Hütefritz schwamm noch, wütend um Hilfe flüsternd, auf dem Wiesenboden.

»Es sind bloß meine Freunde aus dem Dorf, Pate«, sagte Rosemarie unschuldig.

»Hier? Mitten in der Nacht?! Es ist bald elf. Du müßtest längst im Bett sein, mein Kind.«

»Sie gehen schon, Pate. Los, Witt, hilf Fritzen auf. Bind ihm den Arm los ...« Witt half. »Jetzt gebt euch die Hand. Und nun unsern Vers ...«

»Ich verstehe alles nicht«, murmelte der Professor unter der Türe hilflos.

»Ich für dich, du für mich, Unsadel blühe ewiglich«, murmelten die beiden Kämpfer.

»Los mit euch«, rief Rosemarie. »Im Wald könnt ihr noch schwatzen. Aber beim Dorf seid ihr mucksruhig. Gute Nacht!«

»Gute Nacht, Rosemarie!« riefen sie und vergaßen den Professor.

»Das ist unser Spruch, Pate«, erklärte Rosemarie. »Ich für dich, du für mich, Unsadel blühe ewiglich. Gefällt er dir?«

»Ich glaube, Rosemarie«, sagte der Professor, »du bist schon ein sehr großes Mädchen.«

Er stand nachdenklich. »Ich für dich, du für mich ...«

Dann bewegte er die Schultern: »Aber, ob groß oder klein, du mußt jetzt zu Bett gehen. Der Philipp ist längst eingeschlafen. Komm.«

Sie gingen ins Waldhaus, und beide sprachen nicht mehr von dem, was sie auf den Herzen hatten, sondern jedes ging still hinter seinem Vorhängchen zu Bett und schlief nicht schlecht.


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