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5. Kapitel

Worin Professor Kittguß den zweiten Ruf des Engels erfährt

 

Eigentlich saß Professor Kittguß, warm zugedeckt, recht gut neben Maxe, dem Kutscher – eigentlich trabten die beiden Braunen schön sachte über den Sandweg, der herwärts so mühselig gewesen –, eigentlich hatte das stille, friedliche Land mit dem herbstlichen Blätterfall seinem Herzen guttun müssen – aber nein, dem Professor war nicht wohl. Gar nicht! Es war angenehm, nun wieder planend an die große, sechzehnjährige, geruhige Arbeit zu denken und an den Vers, der als nächster zu deuten war – es war natürlich auch richtig, daß die Unruhe in der Brust von den Anstrengungen des gestrigen Tages kam und von nichts anderm, gar nichts anderm.

Aber schließlich kam doch ein Heckentor in Sicht, und auf ihm saß, mit den Beinen baumelnd und die Harmonika blasend, ein Junge. Der Professor erkannte ihn wohl: es war der Hütefritz. Und auch der Junge erkannte den Professor, und das Lied vom Heidenröslein brach mitteninne ab. Die Augen des Jungen wurden immer größer, bis sie so groß wie die Teetassenaugen aus dem Märchen schienen; er sah erstarrt, ohne jedes Beinebammeln, mit den großen Augen und dem ganz offenen Munde den abreisenden Professor an.

Der sah ihn wieder an, und die Unruhe in der Brust wurde stärker, wurde zu einem Druck auf dem Herzen. Am liebsten hätte er den Maxe um einen kurzen Halt gebeten. Am liebsten wäre er vom Wagen gestiegen und hätte dem Jungen erklärt, daß so doch nichts für seine Freundin Rosemarie zu tun sei, daß aber Geld geschickt werden und daß damit alles, alles gut werden würde ...

Aber es ging zu schnell, die Braunen trabten, und das Jammerbild auf dem Heckentor glitt vorbei. Nur der Maxe schnüffelte noch wütend durch die Nase und drohte: »Das werde ich dem Bengel, dem Hütefritzen, schon zeigen, ob er zu dudeln oder zu hüten hat! Immer gehen seine Kühe in unsern Klee!«

Worauf der Professor hastig erwiderte: »Oh, nicht doch! Oh, bitte nicht doch!«

Dann schwiegen sie wieder beide, bis die Hecken zurückblieben und das Land sich mit allerlei Äckern immer weiter auftat. Über einen Hügelrücken sah schon der schieferschwarze Kirchturm von Kriwitz, und Maxe verkündete: »Wir schaffen den Zug gerade noch.«

Doch zur gleichen Minute parierte er die Pferde in langsamsten Schritt und starrte verblüfft eine seltsame Prozession an, die ihnen auf dem Straßenrand entgegenkam. Es waren aber eins, zwei, drei, vier, fünf Diakonissen, die da in ihren schwarzen Übermäntelchen und weißen Hauben, eine hinter der andern, gegen den Stuhlwagen anrückten. Jede von den Schwestern trug ein Köfferchen in der Hand, und so gingen sie, ohne die Augen zu heben, heran – vorüber, und nur die letzte, eine derbe, rotbackige, wie gerade vom Lande geholt, hob für einen Augenblick die Augen und sagte leise: »Guten Tag.«

Weil aber die vorderste, ein wahrer Mannskerl von einer Frau, mit wehenden Haaren am Kinn, hustend brummte, erschrak sie und lief beschleunigt, das Täschchen schwenkend, hinter den andern drein.

Der Maxe, den Kopf im Nacken, starrte und starrte, bis die fünf Schwestern um die nächste Hügelecke verschwunden waren. Dann aber drehte er sich, vor Schadenfreude wahrhaft strahlend, dem Professor zu und sagte aus tiefster Brust: »O – haua – haua – ha! So mußte es kommen. Darauf freß ich einen Besen, der Päule Schlieker kriegt heute keinen guten Tag ...«

»Was haben denn die Diakonissen mit Herrn Schlieker zu tun?« fragte der Professor ängstlich.

»Zu tun –!?« fragte der Maxe dagegen, fast empört über so viel Unverstand. »Zu holen haben sie die Kinder!«

»Welche Kinder?« fragte der Professor und hätte doch lieber nicht weiter gefragt.

»Natürlich die Pflegekinder, die bei Schliekers sind. Aber wer nicht hört, muß fühlen. Jetzt holen sie ihm die Kinder fort und damit hundertfünfzig Mark im Monat! Ohgottegottegott – wie das den Schliekers weh tun wird!«

Und Maxe grinste über das ganze dicke, derbe Gesicht vor Mitgefühl.

Der Professor mußte immer noch weiter fragen, sein Gewissen ließ ihm keine Ruhe. »Halten die Schliekers denn die Kinder wirklich so schlecht?«

Aber der Maxe war ein Bauernsohn und vorsichtig wie seine Eltern. »Weiß ich das?!« fragte er dagegen. »Ich gehe nicht zu Schliekers, und auf das Gerede der Leute darf man nicht hören. Aber jedenfalls sind die fünf Schwestern unterwegs, und ich gäbe einen Taler, wenn ich beim Wegholen über den Zaun sehen könnte. – Willst du mal laufen, Liese! Wir kriegen den Zug nicht mehr!«

»Und die Rosemarie?« fragte der Professor angstvoll. » Das Kind holen die Schwestern doch wohl auch?«

»Die kleine Thürke? Wieso denn die –?! Die Thürke ist Vormundschaft, und die fünf lütten Bälger sind Landratsamt – das hat doch nichts miteinander zu tun, Herr Professor!«

»Aber das Kind kann doch nicht dort gelassen werden«, protestierte der. »Wenn die Schliekers so schlecht sind ...«

»Da geht er hin!« schrie Maxe und hielt die Pferde mit einem Ruck an. »Haben wir's doch nicht geschafft! Ich sage es ja. Ich sage es ja!«

Und richtig – eben tauchte pustend und schnaufend hinter dem Kriwitzer Bahnhofshäuschen die Kleinbahnlokomotive auf, zwei Wägelchen hinter sich. Mit Klingling-Klingling fuhr sie die Hügelseite entlang und Klingling-Klingling verschwand sie im Walde.

»Da!« sagte der Maxe und starrte.

Der Professor Kittguß starrte mit. »Und was machen wir nun?« fragte er dann hilfeflehend seinen Kutscher.

»Fahren Sie doch mit dem Sechs-Uhr-Zug, Herr Professor«, sagte der Maxe überredend und erinnerte sich sehr, wie dringlich die Eltern diesen Gast aus dem Dorf gewünscht hatten. »Kriwitz kann man sich schon mal ein paar Stunden ansehen, und bei Stillfritzens im ›Erbherzog‹ ißt man großartig!«

Und damit war er auch schon runter vom Wagen, hatte die Reisetasche auf die Straße gesetzt und bot dem Professor die Hand zum Absteigen.

Der nahm sie mechanisch. »Beinahe«, sagte er bedenklich, »beinahe wäre es wohl Pflicht, wieder nach Unsadel zu fahren. Da nun die Schwestern zu Schliekers gehen ...«

»I wo, Herr Professor«, sagte Maxe leichthin und war schon wieder oben. »Was hat denn das mit dem zu tun? Ich sage es Ihnen doch, Amt ist Amt und Vormundschaft ist Vormundschaft. Auf Wiedersehen, Herr Professor, und gute Reise. Ich werde die Eltern auch schön grüßen.«

Damit aber stand der Professor Kittguß allein auf dem Vizinalwege von Unsadel nach Kriwitz und sah dem Stuhlwagen, den Braunen und dem Maxe nach, die sich eilig entfernten. Etwas war nicht recht, und was das Unrechte war, das wußte er auch, aber er wollte es nicht wissen.

So nahm er denn seine Tasche und ging langsam in das große Amts- und Pfarrdorf Kriwitz hinein, am Bahnhof vorüber durch die lange Häuserzeile mit ihren nicht städtischen und nicht ländlichen Häusern und mit ihren fünf gewaltigen Kaufläden. Denn Kriwitz ist ein rechter Landhandelsort, in dem der Bauer ein- und verkauft, was alles er braucht und erübrigen kann.

Der Professor aber wäre wohl in all seinen Gedanken immer weitergegangen durch den Ort, aus dem Ort in das herbstliche Land hinein, wenn er nicht plötzlich von einer stattlichen Torfahrt her angerufen wäre: »He, Sie! Ja, Sie mit der Tasche!«

Der Professor sah unschlüssig auf den Mann, der da mit listig und vergnügt funkelnden Augen und dem unglaublichsten blauroten Zinken von der Welt unter dem Tore stand.

»Meinen Sie etwa mich, lieber Herr?« fragte er behutsam.

Der andere sah suchend die Straße auf und ab. »Sehen Sie noch eine Tasche?« fragte er. »Ich jedenfalls nicht! – Nein, Sie sind der Mann, Sie hängen an der Tasche. Also sind Sie ein Reisender. Aber wenn«, sprach der Mann und rieb sich nachdenklich den Kolben, »ein Reisender in unsern schönen Ort kommt, so geht er nicht am ›Erbherzog‹ vorbei, sondern hilft dem armen Stillfritz, das Bier laufend zu halten. Das ist im Interesse aller.«

»Soso«, sagte der Professor vorsichtig. »Sie sind also ein Gastwirt?«

»Oh, lieber Herr«, rief der andere, »alles, was wir sind, waren und sein werden, das können wir uns drinnen bei einem Topp Bier viel besser erzählen!«

»Ich trinke nie Bier«, sagte der Professor, nicht ganz auf der Höhe eines Erklärers der Offenbarung. »Und am Vormittag schon gar nicht.«

»Aber einen lütten Köm?« fragte der Wirt und kniff die Augen ein. »Einen schönen, klaren Köm?«

»Nie!«

»Und doch so alt geworden«, meinte der Wirt bedauernd. »Aber Scherz beiseite, kommen Sie rein, und leisten Sie mir ein bißchen Gesellschaft. Ihre Zigarren oder was Sie da in der Tasche tragen, kriegen Sie immer noch in einer halben Stunde verkauft. Ach, lieber Herr«, bat er nun wirklich, »Sie ahnen ja nicht, was das für einen Gastwirt heißt, der sich Morgen für Morgen seine toten Bierhähne und die leere Gaststube anschaut – wie kümmerlich einem da zumute ist.«

Dem Professor war auch kümmerlich zumute, und die fünf oder sechs Stunden bis zum nächsten Zug abzulaufen ging über seine Kraft. Zweifelnd betrachtete er sich seinen seltsamen Partner. »Aber Bier oder Schnaps trinke ich nicht«, erklärte er dann.

»Müssen Sie ja gar nicht«, antwortete der Wirt. »Jetzt kommen Sie erst mal rein. Meine Frau hat eine schöne Hühnerbrühe auf dem Feuer, und wer sanft ist, will auch sanft essen – Sie sind doch sanft?«

»Ich hoffe es«, sagte der Professor und setzte sich aufatmend auf die Ofenbank.

»Habe ich gleich gesehen«, antwortete der Wirt zufrieden. »Also Hühnerbrühe? Ja? Wirklich –? Na, – denn schön und prost!«

Er zapfte sich am Bierhahn ein halbes Glas, betrachtete es kummervoll, murmelte: »Trübe, trübe« – kippte es und sprach lebhafter: »In diesem Sommer, so zur Heuernte, wir haben manchmal sogar Autofahrer als Gäste, wegen der schönen Natur, ich verstehe nichts davon, aber meinetwegen, soll sie schön sein! Aber essen Sie was, jetzt bestelle ich Ihnen erst mal die Brühe! Sie sehen so bleich um die Nase aus. Nehmen Sie da meinen Kolben!« (Und der war wirklich erstaunlich blaurot.) »Ich werde meinem Feldwebel sagen, er soll Ihnen ein Ei reinschlagen.«

Er stand tiefsinnig vor dem Gast und schlug sich die Serviette gegen die Hosen.

»Sie wollten mir eine Tasse Hühnerbrühe bestellen«, mahnte der Professor, als nichts mehr kam.

»Ja, richtig«, besann sich der Wirt, ging aus der Tür und war schon wieder da. »Daß einen heutzutage keiner mehr zu Worte kommen läßt, man vergißt seine eigene Rederei. Stehe ich also im Frühjahr hier unterm Torweg, und das tollste Gewitter geht herunter mit einem Gepladder wie aus Mollen, da spritzt ein Auto vor, so ein richtiger feiner Berliner Wagen ... Und halten und Schlag auf und raus schießen zwei Damen und wollen hier rein ... Ich aber stelle mich so recht breit hin und kriege die eine zu fassen und kriege die andere zu fassen und halte sie und sage ganz gemütlich: ›Nur nicht drängeln, meine Damen, es kommt jede rein. Wer ist denn nun die Feinste und hat den Vortritt?‹ Und der Regen pladderte runter auf sie und lief ihnen in den Nacken, und geschrien haben sie und gezappelt ...« Er sah den Gast gespannt an und rieb sich wieder einmal den Kolben, den Zinken, die Leuchtblüte. »Denken Sie, die haben den Spaß verstanden?! Nicht die Bohne! Geschimpft haben sie wie die Spatzen, und weggefahren sind sie ohne Einkehren. Was aber der Mann war, der dazu gehörte, der hat mich noch Pflaumenaujust geheißen – bin ich Pflaumenaujust –?«

»Ja«, sprach der Professor mit fester Stimme. »Und wenn Sie mir jetzt nicht sofort die Hühnerbrühe bringen, gehe auch ich!«

Vor diesen starken Worten war der Wirt Stillfritz bis ans Ende des Lokals gewichen. »Sehen Sie«, sagte er bitter und sah den Professor vorwurfsvoll an, »gibt man sich Mühe und erheitert die Gäste, gleich heißt man Pflaumenaujust. Scherz wird heute nicht mehr verstanden. Aber wie unsereinem dabei zumute ist, danach fragt keiner. Es ist ja nicht nur das Bier in den Hähnen, wenn Not am Mann ist, halte ich das auch allein laufend, es ist ...«, er sah schielend zur Decke – »es ist noch ganz was andres. Es rieselt. Es fällt. Ich wünsche Ihnen ein Landhotel und jeden Sonntagmorgen pünktlich grauen Himmel und Regen, da wissen Sie, was Pflaumenaujust heißt ... Die Hühnersuppe kommt sofort, Herr!« schnarrte er plötzlich und war aus dem Lokal, und der Professor saß allein.

Ja, allein, und nun war es ruhig um ihn. Eine Fliege burrte noch einmal schläfrig, ab und an fuhr ein Ackerwagen vorüber, aus der Küche rummelte ein Topf, und jetzt schalt eine Frau, und weinerlich antwortete die Stimme vom Wirt Stillfritz. Eine Uhr schlug, und das Eheduett in der Küche ging weiter, des Professors Kinn sank tiefer auf die Brust und der Kopf ganz vornüber. Ach, was ist der Ofen schön gelinde warm! – Und so war denn Professor Gotthold Kittguß nach den Strapazen des gestrigen Tages ein bißchen eingeschlafen und hätte sich über alle Gewissensbisse weg bis zum nächsten Zug hingeschlafen ...

Wenn nicht plötzlich die Gaststubentür geräuschvoll aufgegangen und jemand sehr festen Tritts mit jemandem sehr müden und hinkenden Tritts einmarschiert wäre. Als aber der Professor aus seinem Nickerchen etwas verlegen hochfuhr, da stand der feste Jemand vor ihm, hatte die Hand an den Tschako gelegt und sagte militärisch: »Sie gestatten, daß ich den Burschen mit reinbringe. Denn wenn ich ihn draußen lasse, türmt er bloß. Er ist schon zweimal getürmt, und darum sieht er auch so aus. Denn wer nicht hören will, muß fühlen!«

Damit blickte der Landgendarm Peter Gneis auf seinen Delinquenten und sagte bärbeißig, aber gar nicht böse: »So, mein Jungchen, dich hängen wir wohl am besten mit dem Kettchen hier an den Kleiderständer. Und wenn du dann mit einem Kleiderständer unterm Arm ausritzen willst, versuch es! Dämlich genug bist du dazu, wenn du auch lange nicht so dämlich bist, wie du aussiehst, und fassen tu ich dich allemal wieder.«

Der Professor sah, sah – und rieb sich die Augen. Aber was er sah, ließ sich nicht fortreiben: es war und blieb sein heimlicher Bote: Philipp, der vor zwei Tagen mit Rosemaries Brief bei ihm im Studierzimmer gestanden, der ihn nach Unsadel berufen hatte, um den er sich fast mit der jahrelang erprobten Witwe Müller gestritten hätte, derselbe Philipp – aber wie sah der Junge aus!

Damals schon war er ein recht kummervolles Geschöpf gewesen, aber wie er jetzt dastand und höchst naturgetreu tat, als sähe er nicht den Professor und gar nichts auf der Welt, schlotternd, mit hohlen Wangen und einem blaugeschlagenen oder -gefallenen Auge – da fiel dem Professor doch so allerlei auf die liebe Seele, und ganz unwillkürlich rief er: »Aber es ist doch nicht die Möglichkeit! Ist er denn das?!«

»Jawohl, ein entlaufener Knecht ist das«, sagte der Gendarm Peter Gneis strenge. »Und die Dresche, die ihm seine Dienstherrschaft bei der heutigen fröhlichen Heimkunft verabreichen wird, die möchten wir beide, Sie und ich, nicht besehen. – Ein Helles und einen Korn, Stillfritz. Ja, da staunst du. Das ist der entlaufene Knecht vom Päule Schlieker in Unsadel, und per Schub haben wir ihn, Kollege auf Kollege, von Gransee bis hier gebracht. Was in aller Welt er da gesucht hat, das wissen wir nicht und werden's auch nicht erfahren. Denn der stirbt eher, als daß er den Mund auftut.«

»Junge, Junge«, sagte Stillfritz und rieb sich wieder einmal seinen blauroten Methusalem. »Ich will es dir ja glauben, daß der Dienst beim Päule Schlieker nicht gerade ein Rosendienst ist. Aber das hättest du doch wissen müssen, daß man nach der Mecklenburgischen Gesindeordnung sein Jahr auszuhalten hat, gut oder schlecht. Aber wenn du nun einmal solch bösen Empfang haben sollst, oller Döskopp, du – keiner soll sagen, daß dich der Stillfritz zu deiner Prügelsuppe ohne eine Hühnersuppe hätte gehen lassen. Kiek mich an, Junge! Willst was essen –? Happenpappen, Happenpappen, so ... soooo?«

Und er kaute gewaltig schmatzend die Luft.

In das unbewegte Narrengesicht kam ein Schein von Leben und Helligkeit wie von einem Lächeln. Was aller Jammer und alle Entbehrung und alle wunden Füße nicht hatten vollbringen können, das vollbrachte jetzt der Wirt Stillfritz mit seinem Kauen: zwei einzelne, blanke, große Tränen rollten über die verhungerten Backen.

»Na, weine bloß nicht, Sohn! Gleich kriegst du was zu essen. – Nanu, was soll nun wieder das?!«

Denn da stand hoch und feierlich mit der Tasse Hühnerbrühe in der Hand der Professor Kittguß neben dem Wirt und sprach: »Wenn einer dem Jungen Essen zu geben hat, bin ich es. Und wenn einer fragt, Herr Gendarm, warum und zu wem er entlaufen ist, antworten Sie ihm: zu mir! Zu mir, dem Professor Gotthold Kittguß in Berlin, denn mir hat er einen Brief von meinem Patchen gebracht. Und wenn Kosten entstanden sind, will ich sie tragen. Und wenn es Prügel geben soll, will ich mitgehen, und es wird keine Prügel geben!«

»Ich denke, Sie reisen in Zigarren«, wunderte sich der Wirt.

»So – ho«, sagte der Gendarm amtlich und fingerte schon nach seinem Notizbuch. »Sie wollen also behaupten ...«

Und so wären sie denn wohl alle drei, nach Männerart, erst einmal in eine hübsche theoretische Verhandlung geraten, statt etwas Vernünftiges zu tun ..., wenn nicht der Duft der Hühnerbrühe dem verhungerten Philipp gar zu verlockend in die Nase gestiegen wäre. Fast riß er dem Professor die Tasse fort, setzte sie an, und leer war sie! Der Philipp aber blickte verblüfft in die Tasse und sah in diesem Augenblick genau wie jener berühmte Löwe aus, der meinte, ein Kalb zu verschlingen. Er erwischte aber die Erbse und fand, sein Maul blieb überraschend leer.

Da erkannten sie, was als erstes nottat, und keine fünf Minuten, so saß Philipp an einem Tisch, und die Kartoffelschüssel schien ihm keineswegs zu groß, und daß ein ausgewachsenes Suppenhuhn eigentlich ein Zweimännervogel ist, daran glaubte er auch nicht.

Er aß und aß, und die andern sahen ihm zu, und da ein tüchtiger Esser, der Gottes guter Gabe Ehre antut, stets Behaglichkeit verbreitet, so sagte auch der Landgendarm Peter Gneis jetzt ganz friedlich: »Ja, mein lieber Herr Professor aus Berlin, gutes Herz hin und schwacher Kopf her, aber Dienst ist Dienst und keine Hühnerbrühe, und eine Mecklenburgische Gesindeordnung steht nicht bloß auf dem Papier. Sie reden ja jetzt viel im Landtag, daß sie abgeschafft werden soll, weil sie menschenunwürdig ist, aber bis sie abgeschafft ist, muß ein entlaufener Dienstbote seiner Herrschaft wieder zugeführt werden. Auf der Herrschaft Kosten, versteht sich. Und da wird es wohl verdammt nach Prügeln riechen, denn den Schliekers tut jeder Pfennig weh, den sie hergeben müssen.«

»Aber man kann den Jungen diesen rohen Leuten doch nicht einfach ausliefern!« rief der Professor und dachte nicht nur an den Jungen, sondern auch an ein Mädchen.

»Doch kann man«, sprach der Gendarm. »Man muß sogar! Man muß viele Dinge, von denen so ein feiner Herr wie Sie gar nichts weiß! Dienst ist Dienst, damit muß man sich eben abfinden. Aber«, sagte er, »das blaue Auge von dem Philipp Münzer da, das dürfen Sie mir nicht anrechnen, das ist mir schon in Fürstenberg übergeben und kommt vielleicht von Gransee und noch weiter her.«

»Aber man kann doch nicht –!« rief der Professor noch einmal. »Man kann es doch nicht so weiter laufen lassen, wenn man weiß, wie bös es ist. Sie müssen mir doch helfen können, Herr Gendarm.«

»Ja, helfen ...«, sagte der Gendarm und hielt den Löffel auf dem Weg zum Mund an. Denn nun aßen sie alle schon, sachte war es Mittag geworden, und Frau Stillfritz aß mit. Bloß ihr Mann stand noch hinter der Theke und trank weiter sein Bier.

Eine Weile war es still, und nur der blöde Junge klapperte munter mit seinem Eßgeschirr weiter. Als aber die Stille anfing drückend zu werden, ließ sich Frau Stillfritz vernehmen. Und was sie zu sagen hatte, das sagte sie sehr energisch, ja, sie schalt beinahe: »Da sitzt ihr, als wenn es Hühner schneite, und keiner weiß was. Denn so klug ihr reden könnt, ihr Männer, wenn es nur ums Reden geht, so dumm seid ihr, wenn nun wirklich mal was geschehen soll. Und mein Stillfritz, der auch immer die höchsten Töne singt, weiß auch nichts Besseres, als sich ein Glas nach dem andern einzuschenken. Solltest lieber was essen, Stillfritz, aber natürlich hast du wieder mal keinen Appetit, weil du dir ständig den Magen mit all dem Bier verdirbst ...«

»Ach Auguste«, sagte Stillfritz jämmerlich und schüttelte sein Bierglas.

»Jawohl, ach Auguste, ach Auguste, das ist alles, was du mit deinem klugen Männerverstand weißt. Aber, Herr Professor, Sie mögen ein sehr gelehrter Herr sein – davon, daß man aufsteht und ruft ›Man kann doch nicht!‹, wird die Welt nicht anders. Und nun noch dem Peter Gneis die Last zuzuschieben, das ist nicht hübsch von Ihnen! Der Peter Gneis ist Gendarm und für den Bengel verantwortlich. Ihnen zu Gefallen, Herr Professor, kann er den Jungen doch nun wirklich nicht laufen lassen.«

»Aber das verlange ich ja gar nicht«, sagte der Professor sehr kläglich. »Ich meine nur, man müßte ...«

»Aha!« unterbrach ihn Frau Stillfritz triumphierend. »Da hören wir es ja wieder: man! Man ist gar nichts, Herr Professor, entschuldigen Sie bloß, sondern Sie – Sie – Sie sind der Mann an der Spitze! Sie finden es bös, und also müssen Sie auch hingehen zum Päule Schlieker und es mit ihm zurechtbringen. Andere schicken, aber selbst hinter dem warmen Ofen hocken – ja, das glaube ich wohl!«

Und sie sah die Männer, einen nach dem anderen, funkelnd an, und dem Professor war unter ihrem Blick so schuldbewußt, viel schuldbewußter noch, als sie sich träumen ließ.

»Ich will ja auch gerne gehen!!« bat er.

»Na also«, antwortete sie, rasch versöhnt. »Man muß euch Männer nur immer wieder darauf stoßen, aber kräftig, daß ihr es auch begreift! Und meinen Stillfritz bringe ich auch noch mal in die Trinkerheilanstalt, wenn er gar nicht kapieren will, was ihm und unserm Hotel gut ist ...«

»Ach Auguste ...«

»Jawohl: ach Auguste ... Grade, ach Auguste! Aber wenn Sie mitgehen, Herr Professor, bleibt es nicht beim Bösesein, sondern kann gut werden. Es wird Sie was kosten, daß der Schlieker den Jungen aus dem Dienst läßt, aber der Peter Gneis soll Ihnen helfen, dafür hat er die Amtsgewalt, und auch darauf sehen, daß es nicht zu teuer wird ...«

»Tu ich, mach ich«, sagte der Gendarm. »Recht haben Sie, Frau Stillfritz!«

»Natürlich habe ich recht«, sagte Frau Stillfritz. »Wenn ich eine Suppe abschmecke, so schmeckt sie auch! Aber wenn der Junge losgekauft ist aus dem Dienst, Herr Professor, ist noch lange nicht alles zurecht. Denn wohin mit dem Jungen?«

»Ja, wohin?« fragte der Professor ganz hilflos.

»Wenn ich Sie mir so ansehe, Herr Professor, so kann ich mir Ihre Berliner Wohnung recht deutlich vorstellen, kein Stäubchen, und jeden Tag wird in allen Ecken gefegt. Und dazu der Junge, der Philipp Münzer, und vielleicht haben Sie auch noch so einen richtigen Hausdrachen ...«

»Nein, nein«, protestierte der Professor. »Eine sehr ordentliche, genaue Witfrau ...«

»Ich sage es ja«, sagte die Stillfritzen hochbefriedigt – »also doch einen Hausdrachen! Lehren Sie mich die Weiber kennen, die alte Junggesellen betreuen! – Zu Ihnen kann er also nicht. Aber bei uns ist der Hausdiener fort, und zur Bahn findet er schließlich doch hin in all seiner Düsigkeit und holt einen Koffer und bringt einen Koffer, und unsern Garten kann er uns auch umgraben, aber nicht so obenhin gekratzt, Junge, sondern ordentlich tief ...«

»Jau, Meestern!« ließ sich der Junge zum erstenmal vernehmen.

»Na also, sehen Sie, Herr Professor. – Er fühlt schon wo er hingehört. Und nun läßt du endlich mal deinen dämlichen Bierhahn los, Stillfritz, und sagst dem Nachbar, er hat 'ne Fuhre nach Unsadel. Denn jetzt nach dem Essen den ganzen Weg laufen, das ist für den alten Herrn zu weit, und das Geld für die Fuhre bezahlt er gerne. Hinten ist noch Platz für den Jungen und Herrn Gneis, und so hat jeder seinen Vorteil, und nur die ollen Pferde müssen sehen, wo sie bleiben in dem Sand!«


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