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12. Kapitel

Worin von Jugend, Aufstieg und Mißgeschick der Schliekers berichtet wird

 

Nun ist es schon fast völlig dunkel, die Dorfstraße ist leer. Und wenn wirklich jemand beim eiligen Lauf vom Haus in den Stall schattenhaft den Heimgänger mit dem Rade torkeln sieht, so denkt er nur, daß einer aus dem Unterdorf, ein Maurer oder Maler, im Krug des Guten zuviel getan hat.

Die Eimer klappern. »Der hat aber tüchtig geladen«, denken sie und laufen weiter.

Jawohl, der torkelnde Heimgänger hatte zuviel geladen, aber nicht Alkohol, auch nicht Schläge, sondern Wut, düster lohende blind machende Wut. Zu Anfang des Weges war diese Wut noch nach hinten gerichtet, aber die Gaus liefen nicht fort, für sie war noch immer Zeit ... Die Straße senkte sich, der Mann dachte nun nach vorn, er ging heim zu seiner Frau, die ihm dies eingebrockt hatte, die Wut schlug um. Gaus konnten warten, ja, mit Gau mußte er sogar warten, aber dieses Weib, diese Frau ohne Nachdenken ...

Er blieb stehen, er wechselte das Rad von der rechten in die linke Hand, er probierte den freien rechten Arm – jawohl, es ging, er konnte zuschlagen. Und er würde zuschlagen.

Weiter, weiter den Dornenweg der Wut, verbissenen Ingrimms, stillen Hasses.

Es kann keine Rede davon sein, Paul Schlieker, daß dies dir nicht schon an der Wiege gesungen worden sei: dies Lied ward dir, leider, schon an der Wiege gesungen. So war es von deinem ersten Lebenstag an, wenn es auch nicht grade eine Wiege war, sondern das Strohende eines Mägdebettes auf einem Hof zu Biestow. Geduldeter Bankert der Erna Schlieker, geborene Schlieker, ewig unverehelichten Schlieker. Vater unbekannt.

Unbekannt –? Der schmerzgepeinigte Heimkehrer erinnert sich noch gut an den Mann, der mit festen Schritten über den Hof in Biestow ging und so gerne mit der Spitze seiner Stiefel nach dem umherkriechenden Gewächs stieß: »Weg du, Bankert!«

Er ist ein schlauer Fuchs, der Robert Tode, er erkennt Bankerte nicht an, und wenn er seinen Hof dem Schwiegersohn, dem Mann der einzigen Tochter, übergibt, so gibt er sich damit nicht in die Hände der Kinder, sondern verpachtet den Hof bloß. Denn als Herr wünscht Robert Tode zu sterben, verhätschelt von allen Erben nah und fern, ein angesehener Mann, mit Sitz im Gemeinderat.

Sein Sohn, der Bankert, der Recht- und Erblose, hat die Schläue vom Vater geerbt, das Fuchsige, aber er ist nie ein Herr gewesen und wird nie einer werden. Als kleines Kind hatte er schon gelernt, daß es zwecklos war, gegen die Stiefelspitzen anzubrüllen, daß dann nur die Mutter kam und es noch Schläge dazu gab. Er hatte gelernt, dem Schritt der Gefahr zu lauschen und sich vor ihm zu verstecken. Er, der Bankert, wuchs auf der andern Seite des Zauns auf, an seiner Außenseite, der Gefahrenseite, aber aus seinen Verstecken heraus hatte er die Menschen belauert.

Er wurde nicht demütig-feige, nicht wortlos-ertragend wie die Mutter, die Erna, unverehelichte Schlieker, die sich ein paar Jahre gebrauchen und dann wegjagen ließ, um irgendwo zu verderben. Etwas von der zähen, festhaltenden Kraft des Vaters steckte in ihm. Verstecken – ja! Listig – ja! Aber auch die Zähne blecken, beharren, einschüchtern, schamlos sein, lügen und betrügen. Was weiß ein Bankert von Scham? Schon in der Dorfschule will keines auf der gleichen Bank mit ihm sitzen.

Da kann er es nur mit List und Schamlosigkeit weiter bringen, er verachtet alle, alles und sich dazu. Er borgt sich schließlich auch mal die Trillerpfeife vom alten Fellhändler Lau und triumphiert im Ruhmesglanz seiner Schande pfeifend durch das Mittag essende Dorf!

Bis er soweit ist, bis sie ihn für so wichtig halten, daß sie sogar eine Redensart auf ihn erdenken, hat er einen weiten Weg. Er muß sich drehen und wenden, er muß tüchtiger sein als alle andern. Sie haben ihn nichts lernen lassen, sondern, als er vierzehn war, aus dem Armenkaten zu einem Bauern gesteckt und: »Nun sieh, was du mit dir anfängst. Lange genug hast du uns auf der Tasche gelegen!«

Jawohl, doch, doch, er fängt etwas mit sich an, denn er hat nicht nur Schläue, sondern Verstand. Zudem weiß er nichts von Besitz, der Sicherheit und Rückhalt gibt, er steht für sich allein. Nicht lange, so kann er mit Pferden umgehen und mit Kühen, er kennt jede Ackerarbeit, trotz des ältesten Bauern. Er doktert mit dem Vieh, schon haben die Leute Angst vor dem langen, listigen Burschen, aber sie holen ihn. Er tut alles, er arbeitet in der Forst, er ist Regimenter gewesen beim Schwellenhauen, er kann ein Rohrdach legen, Steine sprengen, er wurde auch Handlanger bei den Maurern. Aber wenn einmal kein Maurer zur Hand ist, so mauert er auch allein eine Wand hoch, schön mit Wasserwaage und Lot, kein Pfusch – und er bewirft sie auch!

Ein tüchtiger Mann, ein fleißiger Mann, ein brauchbarer Mann, für jeden Taler schindet er sich das Horn neu von den Händen – und als Frau von Wanzka ihn fragen läßt, ob er bei ihr Gutsgärtner werden will, ob er das kann, sagt er ohne Besinnen: »Ja«. Wieder eine Sprosse höher auf der Leiter, Gutsgärtner, ein festangestellter Mann, Rittergut Tischendorf, er, der Bankert aus dem Mägdebett in Biestow.

Läßt Erfolg vergessen? Macht er versöhnlicher? Nein, dafür sorgen schon die andern! Da ist die hübsche Geflügelmamsell – als er die umfassen will, erinnert sie ihn gleich, wer er ist und wer sie. Da sind Jungen, die er beim Apfelstehlen im Rittergutsgarten ertappt – als er ihnen nachläuft, höhnen sie frech: »Biestower Bankert! Armenhäusler!«

Seine Schulgefährten in Biestow sind alle weiter nichts geworden, die Bauernsöhne wurden wieder Bauern oder auch bloß Knechte, die Häuslersöhne wurden Tagelöhner oder nicht einmal das, er aber hat etwas geschafft, er ist Gutsgärtner geworden! Er besitzt schon fast tausend Mark. Aber der Bankert hängt an ihm, am Gutsgärtner wie am Magdsohn, in Tischendorf wie in Biestow.

Nein, wir blecken weiter die Zähne, wir lassen nicht nach, tausend Mark –? Jetzt haben wir schon viertausend!

Da ist die Bäckertochter, die fünfte von den sechs Töchtern des reichen Bäckermeisters Saß in Kriwitz, die kriegen wir! Sicher ist sie mit dem scharfen, vogelartigen Gesicht keine Schönheit, aber deswegen bekäme sie solch Biestower Bankert noch lange nicht ... aber sie hat einen Flecken, einen Makel, ein Gebrechen!

Die Leute sagen, der dicke Bäcker Saß trinke zuviel – aber die fünf andern Mädchen sind doch gesund? Gott muß es doch nicht gut gemeint haben mit ihr, da er von den sechsen allein sie die Fallsucht bekommen ließ, Epilepsie nennt das der alte Geheimrat Faulmann.

Zeitweilig ging es ihr schlimm, zeitweilig fiel sie am Tag sechsmal, achtmal und bekam Schaum vor den Mund. Die Eltern mochten es nicht mehr, die Schwestern mochten es nicht mehr – also fort mit ihr!

Makel zu Makel, Schande zu Schande – Paul Schlieker aus Biestow ist der rechte Mann dafür.

Doch auch hier zeigte sich wieder das Glück, das Schlieker bei allem hatte, was er anfaßte; kaum war Amalie Saß verheiratet, war die Fallsucht fort! Nun hatte er eine gesunde Frau, eine volle Aussteuer und dreitausend Mark Mitgift dazu – konnte ein Bengel aus dem Biestower Armenkaten mehr verlangen –?

Verlangen –?

Er bekam ja noch viel mehr! Er bekam ja die richtige Gefährtin, ihm auf den Leib geschneidert, Gift kam zu Gift und Haß zu Haß – siehe da, wie es paßte!

Jawohl, Amalie Saß, jetzt Mali Schlieker – man wird nicht umsonst von Eltern und Geschwistern ewig in ein Hinterzimmer gesperrt, darf sich vor den Menschen nicht sehen lassen, ist die Schande der Familie und hat dabei fünf gesunde Schwestern, die den ganzen Tag durch das Haus singen und lachen, die ihre Abenteuer haben mit Verehrern und die nur dann wortkarg und verdrossen werden, wenn sie einmal Schwester Mali sehen. Nicht umsonst wird man Jahre so gehalten!

Sie hatte nicht wie Päule arbeiten und schaffen können, sie hatte nicht wie er die Triumphe des Schlauerseins, des Vorwärtskommens gefeiert, sie hatte immer in einem blöden, öden Hinterzimmer hocken müssen – da kam er und machte sie frei!

Schurke und Schuft, erbarmungsloser Feind, schlauer Betrüger – aber recht so, aber viel mehr noch, man kann gar nicht erbarmungslos genug sein mit diesen Menschen! Bedingungsloses Einvernehmen, Kameradschaft durch dick und dünn, Päule und Mali – das ist ein Klang, ein Haß, das ist derselbe Mensch!

Da war dieses Mündel der Frau von Wanzka, diese Tochter vom verstorbenen Pastor Thürke – eine Zeitlang sah es aus, als sollte Frau von Wanzka vor diesem Kind nie Ruhe bekommen. Die Vormünder hatten es dem Bauern Gau in Pflege gegeben, aber da war es nun alle Woche zwei-, dreimal bei der Gnädigen mit Klagen, es werde schlecht behandelt, müsse über seine Kräfte arbeiten, bekäme nicht satt zu essen.

Aber das waren nur die geringsten Klagen, in der Hauptsache ging es ihr um den kleinen Hof, den ihr der Vater vererbt hatte.

Bauer Gau hatte Haus und Stallungen abgeschlossen, er bewirtschaftete das Land nur so nebenbei, er hatte eigen Land genug. Nun klagte das Mädchen, es verunkraute alles, die Obstbäume verkämen, der Zaun falle um, in den ungelüfteten Räumen stockten vor Nässe die Wände.

Ewige Klagerei, nicht abreißende Beschwerden – Frau von Wanzka war Witwe, sie hatte 8000 Morgen Land zu bewirtschaften, 38 machten ihr nun bald mehr Kummer.

Schliekers hatten dies gehört und jenes, sie hatten sich ihren Vers gemacht, sie trafen das Mädchen zufällig, bald er, bald sie, sie redeten ihm gut, heißt schlecht, zu. Sie war ja nur ein Kind damals, dreizehn, vierzehn, ein recht hilfloses und sehr gläubiges Kind – sie glaubte den freundlichen Schliekers.

Rosemarie selbst machte Frau von Wanzka den Vorschlag, Schlieker zum Verwalter des väterlichen Hofes einzusetzen und zu ihrem Pflegevater. Frau von Wanzka ließ ihren Gärtner kommen: ob ihm recht sei, was das Kind vorschlage.

Nein, es sei ihm nicht ganz recht. Hier auf Tischendorf habe er seine acht oder zehn Stunden Arbeit, je nach der Jahreszeit, dort in Unsadel würde er zwölf, auch vierzehn Stunden arbeiten müssen und des Sonntags dazu. Hier brauche ihm seine Frau nur die Hausarbeit zu machen, und wenn sie im Garten etwas tue, werde es ihr bezahlt, dort würde sie mitarbeiten müssen. Wenn er so etwas übernehme, schlechter dürfe er sich dann nicht stehen, sondern besser. Unter hundert Mark im Monat sei es nicht zu machen, ja, wenn er es richtig rechne, müßten es hundertfünfzig sein. Aber es liege ihm nichts daran ...

Frau von Wanzka hörte sich das an, sie sprach auch mit dem Amtsgerichtsrat darüber und dem Mitvormund. Vielleicht kam noch dazu, daß sie ihren Gärtner nicht ungern gehen sah. Er war kein schlechter Gärtner, beileibe nicht, sie hatte nie einen tüchtigeren gehabt, aber die Leute haßten ihn. Sie behaupteten, sein Gemüse blähe, als sitze es voller Gift, und sein Obst sei immer madig. Seine Blumen machten Kopfschmerzen – und dazu arbeite er ein bißchen zu eifrig in die eigene Tasche!

»Gut denn, wir wollen einverstanden sein, Rosemarie. Aber komme uns dann auch nicht wieder mit Klagen!«

Da war Schliekers großes Glück da: Aussicht auf Besitz, Eigentum!

Sie hatten ihren Plan fertig: nie wieder würden sie vom Höfchen gehen! Natürlich konnte man so wirtschaften, daß bis zu Maries Mündigkeit der Hof nicht ihr, sondern ihnen gehörte!

Betrug, Hinterlist, schlechtes Wirtschaften, das dem Schlieker in eigener Seele weh tat, all das gehörte dazu. Aber das Ziel stand fest: der Thürkesche Hof wurde Schliekerscher Hof! Anders konnte es nicht kommen, die kleine Thürke war wehrlos! Sie hatte keinen Freund, niemanden, der für sie eintrat, keine Verwandtschaft, die wenigstens schandenhalber nach ihr sah.

Und nun war dieser alte, schwachköpfige, scheinheilige Frömmler in die Schliekersche Küche getreten, und alles ging verquer! Das unverrückbare Ziel wankte, fast schon Errungenes schien zu zerrinnen. Heute morgen noch hatte Schlieker geglaubt, es komme alles wieder zurecht; heute abend noch, als er zum Austausch zu Gaus ging, hatte er gemeint, endgültig Sieger zu sein ...

Und in dieser entscheidenden Stunde, da es um alles ging, hatte seine einzige Gefährtin, der einzige Mensch, dem er je vertraut ..., in dieser Stunde hatte Mali ihn im Stich gelassen, hatte den Jungen fortlaufen lassen!

Finstere Nacht, nur dunkel angeglüht vom Feuer des Hasses und der Wut! Könnten die beiden, die hinter dem Wankenden, Stolpernden schleichen, in seine Brust sehen – sie würden nie wieder vor sein Angesicht treten ...

Aber die Kinder schleichen ihm nach, und als er auf dem dunklen Hof verschwindet, setzen sie sich an den Weg und überlegen, was nun etwa zu tun wäre.

Der Mann sieht das Haus, den Stall an – überall ist es dunkel. Er stößt einen Fluch aus, lehnt das Rad gegen die Hofmauer und tritt in das Haus: dunkel gähnt der offenstehende Eingang. Er ruft, erst leise, dann lauter: »Mali!« – er ruft auch über den Hof –, aber sie antwortet nicht.

Ganz plötzlich ist die Wut fort, auch die brennenden Schmerzen vergißt er fast – er fühlt, hier ist etwas geschehen. Er fühlt: mehr geschah als die Flucht des Jungen.

Vorsichtig tritt er ein, tastet sich an den Herd, findet die Streichhölzer, brennt eines an, findet die Lampe, zündet sie an, ruft wieder: »Mali!«

Nichts. Todesstille. – Todesstille.

Er nimmt die Lampe, will in Maries Zimmer – und zaudert. Es ist, als wollte er eine Entscheidung hinausschieben, denn er geht zuerst in das eheliche Schlafzimmer.

Er leuchtet – aber alles sieht aus wie vor einer Stunde, als er das Haus verließ. Fast ist es, als schrecke ihn dieser unveränderte Zustand mehr als jede Verwüstung ... Einen Augenblick wird er schwach, er setzt sich auf die Bettkante und starrt vor sich hin, den jämmerlichen Petroleumblaker in der Hand. Jetzt hat sein Gesicht nichts Füchsisches mehr, es ist grauenvoll finster. Die sonst so beweglichen, listig lächelnden Augen sind tot und fahl.

Es dauert nur einen Augenblick, dann besinnt er sich, er steht langsam auf, setzt die Lampe ab und geht an den Schrank, aus dem er eine Flasche Korn nimmt. Er trinkt einen großen Schluck aus der Flasche, schüttelt sich und stellt sie zurück.

Er steht nachsinnend, dann fängt der Alkohol an zu wirken, er macht ihn wärmer, entschlußfähiger. Schlieker faßt rasch die Lampe und geht in Maries Zimmer.

Weit offen, schwarz gähnt die Luke, er hockt daneben und nimmt den Strick, mit dem er die Krampe verschnürt hatte: der Strick ist zerschnitten!

Dies macht vieles klar, nie hätte Mali einen Kälberstrick zerschnitten, sie ist noch sparsamer als er, sie hätte ihn aufgeknotet – und dauerte es auch eine Viertelstunde ... Von andern ist der Gaubengel befreit worden, sie hat sich nicht beschwatzen lassen, vielleicht ist sie überwältigt worden? Wo ist sie?

Er hockt da, an der offenen Luke, die Lampe neben sich auf der Erde, er schaut auf den zerschnittenen Strick mit solch angespannter Aufmerksamkeit, als bedeute er ihm mehr als ein verdorbener Kälberstrick. Er bedeutete ihm ja auch mehr, er ist sogar mehr noch als Zeichen für eine verspielte Karte, mit ihm wurden seine Pläne, seine Hoffnungen zerschnitten!

Und Mali –?

Von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, nimmt er die Lampe, beugt sich über die Lukenöffnung, leuchtet in den Keller – aber im Keller liegt keine Mali, nur die Runkeln und Wruken sind darin.

Er steht zögernd im Zimmer, er ist sonst nie um Einfälle verlegen gewesen, aber jetzt ist alles tot in seinem Hirn, nur ein schmerzendes, dröhnendes Brausen seit dem Aufprall auf die Dorfstraße. Die Schmerzen werden wieder stärker, der Alkohol hat sie für einen Augenblick zur Ruhe gebracht, jetzt erwachen sie mit doppelter Gewalt. Er müßte sich hinlegen – aber kann er das? Wo ist Mali? Ihr ist Gewalt angetan? Und wo hat er sie dann zu suchen?

Unentschlossenheit, quälende, marternde Unentschlossenheit – er steht immer noch unter der Tür und weiß nicht wohin. Er sieht ratlos um sich – und da sieht er wirklich etwas: den offenstehenden Schrank!

Er macht einen raschen Schritt – siehe! – der Schrank ist leer, säuberlich ausgeräumt. Die haben ihre Wäsche also doch bekommen!

Jetzt ist zu den Schmerzen auch die Wut wieder da, die grimmige Wut auf Gau, der ihm die Marie gestohlen hat, die Wäsche, die Kleider, alles ... und ihn dann noch auf die Straße warf!

Hat er einen Augenblick zweifeln können, angesichts der Haltung von Wilhelm Gau, ob er es auch wirklich war, jetzt zweifelt er nicht mehr!

Er ist schon wieder wild, er vergißt Verletzungen und Frau, er möchte hinaus, auf sein Rad, nach Kriwitz ...!

Rasch geht er aus der Stube in die Küche und bleibt wieder stehen. Vorhin roch er schon etwas, und jetzt riecht er es noch stärker: die Kartoffeln auf dem Feuer, die Schweinekartoffeln, sind angebrannt und stinken.

Er rückt sie mechanisch zur Seite, will weiter, als ihm plötzlich einfällt, daß diese angebrannten Kartoffeln ja ungefütterte Schweine bedeuten. So sind die Schweine nicht gefüttert! Sind die Kühe gemolken? Nein, es steht hier noch keine Magermilch, aber die Melkeimer sind fort.

Er rennt, so gut er kann, über den Hof, reißt den Stecker aus der Stalltür und ruft in den stockdunklen Stall: »Mali!«

Nichts. Stille. Totenstille ...

Dann rasselt eine Kuhkette, eine Kuh brüllt hungrig, es ist die Bleß ...

Wieder zurück ins Haus, die Stallaterne her, er brennt sie an, eilt zurück, tritt in den Stall ...

Die beiden Kühe wenden sich ihm leise muhend zu, die beiden Pferdchen wiehern, in einem Kuhstand liegt neben dem umgefallenen Melkschemel der umgefallene Melkeimer ...

Die Kuh steht halb auf dem Gang, sie ist zurückgetreten, soweit die Kette es zuließ. Er ruft sie an, aber sie will nicht in den Stand. Sie scheut vor etwas, und als er nach vorne leuchtet, liegt da, unter dem Fenster, halb in der Krippe, seine Frau ...

Er steht bewegungslos, nur seine Lippen zittern, er weiß, was dieser Schaum vor dem Mund, diese blaurote Farbe, dies Röcheln bedeuten ...

Er hat es zwei-, dreimal gesehen, ehe sie heirateten. Sie hat einen Anfall gehabt ... Epilepsie ...

Mit ihrer Heirat ging es fort, und nun ist es wieder da!

Stück für Stück, Schritt für Schritt, Sprosse um Sprosse abwärts, zurück in den Dreck ...

Nur ein Mädchen von kaum sechzehn Jahren und ein alter, halb schwachsinniger Mann ...

Stück für Stück, Schritt für Schritt ... Sprosse um Sprosse ... hinab ...

Fast jeder spürt einmal in seinem Leben, daß die Scholle, auf die er seine Füße gesetzt hat, sein Heimatboden, seine Welt, erzittert, wankt ...

So erging es Päule Schlieker in dieser Minute – er sah alles finster, nichts war sicher, alles Bisherige umsonst getan.

Nach einer Weile hat er die Bleß im Stallgang angebunden und die Frau von der Krippe ins Stroh gehoben. Fast ging es nicht, die Lunge keucht, die Brust schmerzt mit tausend Stichen. Sie müßte ins Haus, ins Bett – aber wen könnte er zur Hilfe rufen?

Im ganzen Dorf mit seinen dreihundert Seelen ist nicht eine, die ihm gern hülfe.

Er muß sie schon dort liegenlassen, auf dem Stroh im Kuhstand, bis sie zu sich gekommen ist.

Die Kühe brüllen herausfordernd, die Schweine trompeten – es hilft nichts, er muß das Vieh versorgen; er hat die Kräfte nicht, aber er muß. Er hockt unter der Kuh und melkt. Heute ist er kein guter Melker, er macht der Kuh Schmerzen, sie schlägt mit dem Bein nach dem Melkeimer und stürzt ihn um. Die Milch versickert im Stroh. Die Schwanzquaste schlägt ihm derb ins Gesicht. Wütend springt er auf und schlägt das Tier mit dem Eimer, es tritt hin und her ...

Bleich, schmerzgepeinigt hält er inne, hoffnungslos liegt vor ihm, was alles an diesem Abend noch zu bewältigen ist.

Plötzlich steht Mali da, eine veränderte, boshafte, halb unsinnige Mali, die ihn in seiner hilflosen Wut spöttisch betrachtet: »Hübsch siehst du aus, muß ich sagen. Hat er dir schön was gegeben, der Gau –?! Recht so! Das kommt davon, wenn man zu schlau ist – du hast ihn also auch totgeschlagen? Wärst du gleich zum Gendarmen gegangen, wie ich dir sagte! Zu nichts nütze – laß mich melken!«

Sie setzt sich unter die Kuh und strippt schon.

Er antwortet nicht, er weiß aus den Tagen vor der Ehe, daß sie nach ihren Anfällen gereizt und boshaft ist, dann muß man schweigen.

Er setzt sich auf die Futterkiste und möchte sich einen Augenblick ausruhen, aber über dem Melken höhnt sie weiter: »Er kam wohl grade zur rechten Zeit, der Bengel?! Was?!!! Oh, ich hätte dein Gesicht sehen mögen, du dünkst dich immer so schlau und fällst ewig rein ...«

Daß sie ihm dies vorhält, ausgerechnet von allen sie! »Wie ist er weggekommen?« fragt er und beherrscht sich nur mühsam.

»Ja, wie ist er weggekommen, das möchtest du wissen! Spann nur gleich an, daß wir umziehen können – im Biestower Armenkaten nehmen sie uns ja wohl auf, was?!«

Mit einem Fluch springt er hoch, schlägt krachend den Deckel zur Futterkiste auf, mengt Hafer und Hackse, schüttet den Pferden Futter.

Aber sie läßt nicht ab, sie ist völlig des Teufels, noch nie hat sie so mit ihm zu sprechen gewagt: »Wo hast du denn das Geld für die trommelsüchtige Kuh hingelegt?! Gibst du mir auch was ab? Solch gutes Geschäft, wie du da gemacht hast!«

»Nicht antworten«, denkt er. »Nur nicht antworten.« Er geht wortlos, um die Futterkartoffeln für die Schweine zu holen. Der Hof liegt still und dunkel, aber ihm ist, als sei bei der Hundehütte ein Schatten zu Gange. Leise und vorsichtig geht er darauf zu, das Wesen drückt sich feige an die Erde, er greift – und hat Bello am Halsband!

Der Hund winselt, möchte fort, aber Schlieker macht ihn fest an der Kette. Siehe da, ein kleiner Anfang, ein Zeichen, daß der Wind anders weht. Schlecht nicht, nein, gar nicht schlecht. Man kann etwas daraus machen.

Er fühlt noch einmal, ob der Hund auch wirklich fest angekettet ist, dann geht er schnell ins Haus und sucht die beiden Mardereisen. Er spannt sie sorgfältig und stellt sie so auf, daß, wer vom Tore zum Hund will, in die Eisen gerät.

Nicht viel, aber etwas.

Dann erst bringt er die Futterkartoffeln in den Stall.

»Der Bello ist wieder da, ich habe ihn an die Kette gelegt«, verkündet er.

Sie saß mürrisch unter der zweiten Kuh: »Auch was Rechtes. Ein Fresser mehr.«

»Geh nicht an ihn ran«, warnte er. »Ich hab die Mardereisen bei ihm gestellt.«

Sie hielt beim Melken inne, sah ihn scharf mit ihren grellen, bösen Vogelaugen an, nickte zum erstenmal wieder befriedigt mit dem Kopf und sagte: »Möglich, daß die wirklich so dumm sind.« Eine Weile später ist die Milch durchgedreht, das Vieh gefüttert, der Stall abgeschlossen.

Er sitzt mit bloßem Oberkörper in der Stube und betastet seine Brust. Sie ist geschwollen, blutunterlaufen. »Da, faß einmal hin, Mali.« Sie fühlt, er führt ihr den Finger. »Da! Fühlst du es nicht?«

Sie sieht ihn an. »Gebrochen, ja?«

»Und da!« zeigt er. »Und eine auf dieser Seite – fühlst du es? Rechts zwei, links eine Rippe gebrochen.«

Jetzt brennt auch in ihr der Zorn: »Dieser Verbrecher – das soll er uns bezahlen!«

»Jawohl«, sagte Päule. »Bezahlen. Richtig bezahlen. Bar bezahlen, Schmerzensgeld und Doktorkosten.«

»Ja«, sagt sie. »Aber wir müssen eine Bescheinigung vom Arzt haben.«

»Und wir müssen heute nacht noch Haussuchung bei ihm machen lassen«, setzt er hinzu. »Marie ist bei ihm.«

»Ich glaube es nicht«, antwortet sie. »Sie ist mit dem Alten nach Berlin.«

»Und die Wäsche? Vergißt du denn die Wäsche? Der Schrank ist ganz ausgeräumt.«

»Was?« ruft sie, nimmt die Lampe und läuft in Maries Zimmer.

Er bleibt im Dunkeln sitzen, jetzt ist Mali wieder zurecht, durch dick und dünn. Ja, sie ist wieder in Ordnung, zornentbrannt kommt sie zurück: »Ja, sie muß noch hier sein. – Und doch war sie nicht dabei, es hingen zwei Kleider von mir im Schrank, die hätte sie nicht genommen.«

»Kommt also Diebstahl noch dazu«, grinst Päule. »Das gibt eine feine Anzeige. – Wie ist der Bengel rausgekommen?«

»Ich weiß es nicht«, sagt sie, plötzlich wieder verdrossen. »Ich war grade zum Melken gegangen, da schlug die Stalltür zu. Erst dachte ich, es sei der Wind, aber als dann der Vorstecker rasselte, wußte ich Bescheid.«

»Und du hast nichts gesehen, nichts gehört?«

»Nichts.«

»Es kann nur die Marie gewesen sein ...«

»Nein«, widersprach Frau Schlieker, »die hätte meine Kleider nicht genommen.«

»Vielleicht ist es sehr schnell gegangen ... Und was hast du getan im Stall?«

»Ich habe aus dem Fenster geschrien nach dir, was ich konnte. Aber das Fenster geht ja auf den See, und wenn es wirklich einer gehört hat, hat er wohl nur über Schliekers gelacht. – Dann merkte ich, wie der Anfall kam. Ich wollte noch auf den Gang, aber er kam zu schnell ...«

»Ja«, sagte er finster. »Deine Krankheit ist nun auch wieder da ...«

»Päule!« sagte sie flehend. »Es war das erstemal! Und es kommt nicht wieder, es kommt bestimmt nicht wieder, wenn wir nur die Marie zurück ins Haus kriegen. Nur über die Marie habe ich mich so aufgeregt.«

»Wirst du fahren können?« fragte er. »Ich kann die Pferde nicht halten, meine Arme sind wie abgeschlagen.«

»Natürlich kann ich fahren«, rief sie. »Wollen wir gleich los?«

»Es ist schon nach sieben. Und wir müssen zum Doktor, daß er mir die Verletzungen bescheinigt, und zum Gendarmen und vielleicht noch zum Amtsgerichtsrat. Wir müssen gleich los.«

»Ich spanne an«, sagte sie. »Bleib du hier ruhig sitzen und trink noch ein Glas Schnaps. Du sollst dich um nichts kümmern. – Was ...!«

»Halt!« schrie Schlieker, der den Schrei auch gehört hatte, und sprang auf. »Es ist jemand im Eisen, lauf!«

Beide rannten sie. Der Hund jaulte und bellte wie rasend, eine Stimme jammerte.

Mali schrie: »Nimm einen Knüppel, Päule, es sind mehr ...«

Der Hund sprang mit einem Satz über die Mauer. Zwei Schatten schleppten einen dritten durchs Hoftor ...

»Halt!« schrie Schlieker, den Knüppel in der Hand. »Halt – oder ich schieße!«

Die Schatten verschwanden in der Nacht.

»Renne doch, Mali!« rief er verzweifelt. »Ich kann nicht laufen. Faß sie. Es sind bloß Kinder. Die Marie war auch dabei ...«

Aber Frau Mali lief umsonst. Untergetaucht in die Nacht waren sie, blieben sie. Kein Laut mehr zu hören, kein Jammern mehr.

»Nichts?« fragte er, als sie atemlos zurückkam.

»Nichts!«

»Ein Eisen ist weg, dem Schreien nach war es Philipp, der drin saß.«

»Ja«, sagte sie wütend. »Und mit dem Philipp hätten wir Marie gehabt, die hätte ihn nicht sitzenlassen.«

»Hätten ...«, schrie er wütend. »Plötzlich geht alles schief! Da – da sind deine beiden Kleider, sie lagen auf dem Hof. Sie haben sie zurückgebracht, haben es schon gemerkt, und dabei haben sie den Hund losgemacht ... Aber das eine weiß ich, laufen kann der die nächsten Wochen nicht, das Eisen hat ihm sicher die Knochen durchgeschlagen.

»Ach, wären wir doch nur eine Minute eher ...«

»Rede nicht davon! Rede nicht mehr davon!« schrie er wütend. »Ich kann es nicht hören! Spann an, daß wir nicht auch das noch versäumen.«

Zehn Minuten später fuhren sie in die Nacht hinein.


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