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15. Kapitel

Worin Professor Kittguß sein Patenkind suchen geht, und was ihm dabei widerfährt

 

Es war schon Tag im alten Waldstall, als Professor Kittguß aus tiefem Schlaf erwachte. Wie noch im Traum sah er um sich und zu den grauen Fenstern hoch, hinter denen die Helle des sonnigen Morgens leuchtete. Halblaut rief er: »Rosemarie!« Nochmals: »Rosemarie!« Dann: »Philipp!« Schließlich: »Du! – Hund!« (Er konnte sich nicht entschließen, Tiere bei Namen zu rufen, und sei es ein so unbedenklicher wie »Bello«.) Aber alles blieb still.

Die Nacht war vorüber, doch die Kinder waren nicht zurückgekehrt, er war noch immer allein.

Der Professor stand auf, ging zur Tür und öffnete sie, aber draußen war weiter nichts als die Waldwiese mit reichlich Tau und mancherlei Gezwitscher. Sonst nichts.

Als er sich aus der Sonne wandte, schien das alte Waldhaus noch grauer und kälter, ohne Kinder und ohne Feuer; und es war doch noch gar nicht lange her, da war es solch behagliche, warme, freundliche Zuflucht gewesen!

Der Gedanke an Feuer kam ihm, Holz lag genug da, auch Streichhölzer fand er – und während er eifrig am Kamin wirtschaftete, dachte er sogar an Kaffee, an die selbständige Zubereitung von Kaffee – ein gradezu vermessener Plan! Wie würden die Kinder sich freuen, wenn er sie mit einem warmen Getränk begrüßte!

Doch die groben Holzscheite, die er ohne Vermittlung von Kien und Spänen nur mit einem Streichholz entflammen wollte, weigerten sich, ihm dienstbar zu sein – und als er vier-, fünfmal an seinen Fingerspitzen erfahren hatte, daß solch Streichholzflamme zwar für ein Scheit zu schwach, für menschliches Fleisch aber zu heiß ist, ließ er alles fallen und sah nachdenklich in den Raum, ohne etwas zu sehen.

Er hätte sonst bemerken müssen, daß auf dem Tischchen dort mit Butter, Brot und Wurst genug für ein einfaches Frühstück lag, viel mehr, als das sehr deutliche Hungergefühl in seinem Magen verlangte. Aber da es mit dem Feuer und also mit dem Kaffee nichts geworden war, konnte es überhaupt nichts mit Frühstücken werden, schloß er und verfiel mit diesem Schluß einem weitverbreiteten Irrtum der Menschen, die da, weil sie nicht alles haben können, das Vielerlei, das ihnen bleibt, nicht sehen wollen ...

Jetzt hatte der Professor sich entschlossen, den Kindern entgegenzugehen, und sei es selbst bis Unsadel. Außer Wärme und Frühstück vermißte er noch etwas. Es war seltsam, hätte er hier jetzt behaglich und bei guter Ernährung an seiner Offenbarung arbeiten können – es wäre ihm zu still gewesen, er wäre den Kindern doch entgegengegangen!

Also! Der Professor säuberte sich gründlich, setzte seinen weichen, großen Pastorenhut auf, zog den faltenreichen, weiten schwarzen Mantel an und betrachtete einen Augenblick unschlüssig die schwarze Reisetasche – aber er ging den Kindern ja nur ein Stück entgegen! Seine Bibel steckte er freilich doch in den Mantel, von ihr sich zu trennen schien unmöglich. Nun noch einen letzten Blick durch den Raum – und fort ging er.

Die Waldblöße empfing ihn mit mehr Sonne und mehr Vogelgetön, die bunten Buchen sahen freundlich auf ihn hinab; wo der Weg nach Unsadel in den Wald ging, das wußte der Professor ganz genau – und so konnte er denn rüstig ausschreiten.

Der hohe Buchenwald umgab ihn mit viel Unterholz von Himbeeren, Brombeeren, Dornbüschen. Der schmale Fußpfad schlängelte sich leicht und freundlich, mit elastischem Boden, hügelan, hügelab.

»Wie gut!« dachte der Professor. »Es ist doch wirklich gut ...«

Er sah hierhin und dorthin, manchmal gab es einen Durchblick auf den See; einmal auch einen Eichkater, der die Bucheckernjagd um seinetwillen unterbrach und ihn von einem niedrigen Zweige mit seinen blanken schwarzen Augen neugierig ansah. Der Professor Kittguß war hochgemuter, freundlicher Stimmung, es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte gesungen! Das ausgebliebene Frühstück war vergessen, und nicht das leiseste Erinnern an den nächtlichen Traum quälte ihn ...

»Es sind alles recht gute und freundliche Kinder«, dachte er zufrieden. »Aber über Nacht hätten sie doch nicht fortbleiben sollen«, gab eine andere Stimme zu bedenken. »Nun, wer weiß, wie sie es gewöhnt sind«, tröstete die erste. »Auf dem Lande genießt man mehr Freiheit.«

So ging er und ging. Und nicht einmal das Gehen wurde ihm beschwerlich, denn hinter jeder Biegung oder jedem Busch konnten ja die beiden vor ihm auftauchen, mit ihrem Hunde – und er freute sich herzlich auf dieses Wiedersehen!

Freilich hatte der Professor über all seiner Freude und allem Hin- und Herschauen versäumt, sich den Fußpfad anzusehen, auf dem seine Füße gingen. Zu Anfang war das ein einigermaßen begangener, braunerdiger Waldsteig gewesen, aber seit einer bestimmten, aus vielen Stämmen zusammengewachsenen Riesenbuche, die er staunend betrachtet hatte, war es nur noch ein moosiger, von raschelnden Blättern bedeckter Pfad. Längst gab es keinen Ausblick mehr auf den See, eigenwillig, immer wieder die Richtung wechselnd, wand sich der Steig Hänge hinauf, über Hügelkuppen in dichte Fichtentäler, in denen es fast dunkel war ...

Aber – wie gesagt – der Professor war viel zu froher Stimmung, hierauf groß zu achten. Er wanderte dahin, wanderte langsam und gemächlich, aber unermüdlich dahin. Wenn der Wald in der Ferne heller wurde, freute er sich schon auf Unsadel und die Kinder. Und wenn es dann eben nicht Unsadel, sondern ein Stück lichter Hochwald war, freute er sich auch daran.

Das ging, so lange es ging. Dann aber stand vor seinem Weitermarsch ein Gatter auf, ein zwei Meter hoher Wildzaun, und der lief nun, so weit ihm das Auge zu folgen vermochte, talab, talauf, durch die bunte, leise sausende Einsamkeit. Zum ersten Male fragte der Professor sich zweifelnd: »Sollte ich mich vielleicht verlaufen haben –?«

Und als hätte er auf diesen ersten Zweifel nur gewartet, meldete sich auch sofort der Hunger wieder, es meldeten sich die müden Glieder, und die zweite Stimme in ihm sprach rechthaberisch: »Sie hätten eben doch nicht über Nacht aus dem Haus bleiben sollen! Dann müßtest du nicht hier im wilden Wald umherirren!«

Der Professor sah hin und her, her und hin, aber der Zaun stand wie eine Mauer, und wenn er nicht hier im tiefen Walde bleiben wollte, so mußte er sich für rechts oder links entscheiden.

Der Professor ging nach rechts, und da sah er denn schon nach hundert Schritten, daß eben doch über dies hohe Wildgatter fortzukommen war. Es gab da nämlich eine kleine Treppe, die ziemlich steil am Zaun hoch und drüben auf der andern Seite wieder hinab ging. Keine Stadttreppe natürlich, sondern so ein Waldüberstieg, wie ihn die Förster benutzen, gradezu gesagt: eine Hühnerleiter, aus rohen Fichtenstangen zusammengehauen.

Der Professor sah die Leiter zweifelnd an, daß sie da war, war ihm schon recht, aber daß sie so da war, paßte ihm wieder nicht ...

Was war zu tun? Der Weg am Gatter entlang schien ihm so unsympathisch, er war überzeugt, daß es ein Irrweg war. Also mußte er klettern ...

Der Professor kletterte hoch ...

Es ist schon ein Entschluß für einen alten Mann, der sich sein Lebtag auf der platten Erde bewegt hat, wenn er sich ganz körperlich dem Himmel näher bringt, und der nahe, bekannte Boden wird weltenfern und fremd. Der Professor hatte noch keine vier Sprossen erstiegen, da kam ihn der Schwindel an. Und dazu ächzte und knackte die Leiter, und der Zaun, dessen Pfosten wohl angefault waren, schwankte leise knarrend ...

»Ich fliege, ich falle«, dachte Professor Kittguß bei geschlossenen Augen. Und kletterte doch, vorsichtig mit den Füßen tastend, weiter.

Jetzt aber half es nichts mehr, er mußte die Augen öffnen, denn hier, ganz oben, war es mit allem Halt vorbei, jetzt mußten die Beine über den Zaun gehoben werden, auf die erste Leitersprosse drüben ...

Er tat es, langsam und unendlich vorsichtig, dicht um ihn waren die bunten Buchenzweige, und die Vögel flogen so nah, und der durchsonnte blaue Himmel schaukelte sich so nah ... Ein Bein auf der einen, ein Bein auf der andern Seite stand der Professor Gotthold Kittguß da ... Der Zaun wiegte und schwankte leise unter ihm, wie die bunten Zweige sich im Winde wiegten und schwankten ...

Und von seinem erhöhten Standort sah der Professor weit in das Land, über Wälder und Felder ...

Ihm war es plötzlich, als stehe er auf der Kanzel, und wenn ihm damals in seinen milchjungen Tagen der Predigttext manche Schwierigkeit gemacht hatte, hier fiel ihm gleich der sanfte heilige Franziskus ein – und er, der sein Leben in einer grauen Steinstadthöhle verbracht hatte, hörte nun mit rechten Ohren den freundlichen Lobgesang von meiner lieben Schwester, der Quelle, und vom Bruder Wind: von der Gemeinschaft alles Lebenden. Und er hätte in diesen Lobgesang mit einstimmen können, ohne textliche Vorbereitung, doch aus vollem Herzen ...

So stand er da und schaute, und daß er durch eine Waldschneise, gar nicht weitab, rote Dächer um eine Kirche geschart sah und also sein Ziel Unsadel recht sichtbar vor Augen zu haben meinte, berührte ihn in diesen Minuten nicht einmal sonderlich. Tief unter ihm schwankten die kleinen Gräser, nahe waren die schönfarbigen Blätter ...

»Ach, ihr guten Kinder«, fühlte er. »Die Rosemarie hat ja ganz recht. Ich muß euer Pflegevater werden, aber nicht in der Stadt Berlin, sondern hier auf dem friedlichen Lande. Und dieses freundliche Licht, von dem Wald und Himmel leuchten, das habt ihr ja auch, ihr beiden, selbst du, armer Philipp – und wenn ihr dann durch das Haus lacht und singt, so fällt vielleicht auch auf meine Arbeit ein ander Licht, dieses Licht ...«

Eben war es noch die Vikariatskanzel gewesen, und nun war der Zauntritt schon das Lehrpult am Königlichen Prinz-Joachim-Gymnasium zu Berlin-Schöneberg an der Grunewaldstraße. All die jungen Knabengesichter sahen erwartungsvoll zu ihm auf, und er versuchte, sie sanft und behutsam in den Geist der Schrift einzuführen, in ein werktätiges Christentum. Wie war er von diesem Wege doch so weit abgekommen?! Unter dem sachte schaukelnden Herbsthimmel wurde das gemütliche, stille Gelehrtenzimmer in der Akazienstraße zu dem, was es war, zu einer grauen, dunklen Höhle der Eigensucht und der Unfruchtbarkeit.

Jeder hat einmal eine Stunde, da er in einer reineren, klareren Luft zu atmen meint, da die Welt kristallklar erscheint, alle Probleme und Sorgen versinken und ein erhöhtes Lebens- und Kraftgefühl die Brust weitet.

Der Professor stieg wieder vom Zaun hinunter, aber innerlich blieb er oben. Das leise Wiegen und Schaukeln saß ihm im Körper und ging mit ihm, als er die Schneise zum erschauten Dorf hinabschritt.

Es war doch noch ein ganzes Stück weg, bis er aus dem Walde kam und inmitten seiner Felder das Dorf liegen sah. Daß dieses Dorf weder Unsadel noch die Stadt Kriwitz war, das sah er nun doch, denn es gab hier keinen See und keinen Bahnhof. Aber in seiner jetzigen glücklichen Stimmung bekümmerte ihn das gar nicht.

Am Eingang des Dorfes stand eine Tafel: Dorf Lüttenhagen. Landratsamt Prenzlau. Wehrkreiskommando Prenzlau. Königreich Preußen.

Der Professor nickte mit dem Kopf, zufrieden und beifällig, und zufrieden und beifällig hielt er seinen Einzug. Alles freute ihn: Enten wie Hühner, ein Kettenhund, der ihn böse anblaffte, und ein kleines, dickes, strohköpfiges Kind, das ihn, einen Finger im Munde, zwischen Lachen und Weinen aus seinen braunen, kugelrunden Augen anstarrte.

Nun erweiterte sich die Dorfstraße zu einem kleinen, von Linden umstandenen Platz, und da war es nun wirklich nicht schwer zu sehen, daß das Haus gradezu mit der gelb und blau gestrichenen Veranda das Gasthaus war, das Haus rechts aber, mit Efeu und Geißblatt, das Pastorenhaus. Wieder aber das langgestreckte, graue Haus zur Linken, mit den im unteren Drittel weißgekalkten Fensterscheiben, das Schulhaus.

Da es jede Minute zu haben war, war es gar nicht mehr eilig mit dem Frühstück. Nein. Professor Kittguß ging nun erst einmal zum Schulhaus und stellte sich horchend unter die Fenster. Drinnen tönte und sang eine Geige, nun fielen die Kinderstimmen ein und es erklang: »O Täler weit, o Höhen, du schöner, grüner Wald ...«

Der alte Professor lächelte selig und trat eilig mit dem Fuß den Takt, und nun summte auch er: »Du meiner Lust und Wehen andächt'ger Aufenthalt. Da draußen, stets betrogen, saust die geschäft'ge Welt ...«

Und als er nun näher trat, die Geige suchend, kam er unter ein Fenster, dessen Scheiben nicht gekalkt waren, und siehe, da stand der Lehrer, ein alter, grauhaariger Mann, die Geige unter dem Kinn. Er sah den Horcher und Mitsinger und nickte lächelnd, eifrig mit dem Fuß den Takt tretend, und der Professor trat draußen auch eifrig mit dem Fuß den Takt und winkte mit der Hand den Gruß zurück.

Das Lied war verklungen mit den schönen, verheißungsvollen Worten: »So wird mein Herz nicht alt ...« – die Kinder, die Geige und der alte Mann unter dem Fenster hatten es gesungen. Und wie ein rechter Träumer, aber ein glücklicher, ging der Professor über den Platz zum Gasthof, fand dort auch gleich die Wirtin, eine rundliche junge Frau, und bestellte sich einen Kaffee und ein Ei. Ja, auch Brot und Butter. Gewiß, auch Marmelade würde nicht schlecht sein. Und bestimmt wollte er nicht drinnen sitzen in der dunklen Gaststube, sondern draußen auf der Veranda in der Sonne.

So saß er denn draußen, die Sonne wärmte, der Gesang der Kinder klang fern und unkenntlich wie leichtes Vogelgezwitscher. Ein leiser Windstoß wehte ein rotes Weinblatt auf seinen Tisch, da lag es einen Augenblick zitternd wie ein Schmetterling, der seine Flügel hebt. Und ein anderer Windstoß hob es hinaus, über das blaugelbe Balkongeländer, auf den Platz, zu den Gefährten, den andern Wein- und Lindenblättern, mit denen es über den Platz tanzte.

Die Wirtin brachte das buntgewürfelte Tischtuch, klammerte es fest, dann kamen Kaffee, Ei, Sahne und Zucker, Butter und Brot, Marmelade und Salz.

Der Professor sah zufrieden den nahrhaften Aufmarsch an und sagte freundlich zur Wirtin: »Ein schöner Tag. Ein rechtes Gotteswetter.«

»Es müßte regnen«, sagte die Wirtin unzufrieden. »Fürs Land ist es zu trocken. Aber Sie sind wohl nicht vom Lande!«

Der Professor klopfte sein Ei an, antwortete »Nein« und sagte, daß er »eigentlich« aus Berlin sei.

»Aus Berlin? Nein, so was! Sommer vor zwei Jahren waren hier in Lüttenhagen auch mal Berliner, die sahen jeden Tag den Kaiser von ihrer Wohnung. Kennen Sie den Kaiser auch?«

»Nein, nein«, lächelte der Professor, trank den ersten Schluck Kaffee und aß den ersten Happen Brot mit einer ganz unbegreiflichen Freude. »Ich habe den Kaiser noch nie gesehen.«

Aus Berlin und ihn nicht gesehen – das war ja wohl nicht möglich! Das Gesicht der Wirtin bekam etwas ganz Abschätziges. »Dann sind Sie wohl gar nicht richtig aus Berlin –?!«

»Doch! Doch!« sagte der Professor beruhigend. »Aber Berlin ist viel größer, als Sie sich vielleicht vorstellen können.«

Doch die Wirtin war nicht zu belehren, die vor zwei Jahren hätten ihn alle Tage gesehen, und gar so was Feines seien sie auch nicht gewesen. Sie sah ihren Gast prüfend an, und der freundliche alte Herr gefiel ihr nicht mehr so wie im Anfang. Sie entdeckte etwas Falsches in seinem Blick.

Der Professor freilich merkte nicht, daß die Wirtin ihm wegen seiner Unbekanntschaft mit dem Kaiser böse war. Er fragte freundlich weiter, wie lange man denn von hier bis Unsadel gehe?

»Nach Unsadel?! Was wollen Sie denn da? Da gibt's doch nur Bauern!«

»Ich will mein Patkind besuchen«, erklärte der Professor.

»So? Und da reisen Sie von Berlin über Lüttenhagen nach Unsadel? Komische Leute gibt es!«

Sie schnaufte ungläubig und verächtlich durch die Nase, gab aber schließlich doch Auskunft, daß es drei Stunden seien, wenn er den Waldweg finde, aber fünf auf der Landstraße über Kriwitz. Damit zog sie sich in ihre Gaststube zurück und ließ den Professor allein bei seinem Frühstück.

Dem war es nur recht. Er aß langsam mit einem ganz ungewohnt frischen Hunger, sah dabei immer wieder einmal über den kleinen Dorfplatz, und der weite Weg, den er noch zu gehen hatte, bedrückte ihn keinen Augenblick.

Dann war er fertig und saß noch ein Weilchen zögernd vor seinem abgegessenen Frühstücksgeschirr. Es war ihm so, als habe er noch etwas zu tun, aber welchen Weg er einschlagen müßte, das würde ja im Dorf zu erfahren sein, von einem Menschen oder einem Wegweiser. So stieg er denn langsam und bedächtig die beiden Stufen von der blaugelben Veranda hinunter, überquerte den Dorfplatz und wollte grade in die nächste Häuserzeile einbiegen, als ihn ein grelles, durchdringendes Geschrei erschreckte.

Er drehte sich um, und da kam zeternd aus dem eben verlassenen Gasthaus die Wirtin gestürzt ... und eine alte grauhaarige Frau ... und ein schnauzbärtiger Mann mit einem Reiserbesen ..., und um die drei rufenden, schreienden, hastenden Gestalten tanzte aufgeregt kläffend ein weißer Spitz.

Der Professor sah sich um, sah sich um, aber Platz und Gasthaus sahen so friedlich aus wie nur je ... Doch da war auch die wilde Jagd schon bei ihm, und zu seinem äußersten Erstaunen merkte er, daß er, der Professor Gotthold Kittguß, mit all diesem Lärm gemeint war.

»Sie –! Sie –!!!« schrie atemlos die Wirtin und packte ihn fest am Mantelärmel, als könne er, der doch keinen Schritt zur Flucht gemacht hatte, ihr jetzt entlaufen. »Sie –!« keuchte sie. »Und wo ist das Geld –?!!«

»Geld –? Welches Geld –?!«

»Seht doch –!« schrie sie fast dramatisch und gar nicht ohne Erfolg, denn schon zeigten sich da und dort, sachte näher tretend, Menschen. »Nach dem Geld fragt er! Das Geld für das Frühstück –! Oder kriegt man Frühstück in Berlin geschenkt?!«

»Hören Sie, Herr«, sagte der schnauzbärtige Mann und schwang drohend seinen Reiserbesen. »Wir hier in Lüttenhagen lassen uns nicht wippen!!«

Aber nun, da der Professor wußte, um was es ging und daß der ganze Aufstand gewissermaßen natürlich war, überkam ihn wieder die neue heitere Lebensfreude. »Richtig!« sagte er friedlich. »Das Geld für das Frühstück! Das habe ich doch wirklich wieder einmal vergessen! Sie müssen entschuldigen«, lächelte er dem schon größer werdenden Kreis zu. »Ich bin manchmal etwas zerstreut ...«

»Zerstreut?« höhnte die Wirtin.

Wie kampfführende Mächte mit dem Gegner nicht direkt verhandeln, sprach sie vom Professor immer nur mit »Er«.

Ob er wohl auch mal so zerstreut ist, daß er Frühstück bezahlt, aber nicht ißt?

Die Leute im Kreis – nun schon eine ganze Menge – murmelten beifällig und drohend.

»Also wieviel macht es?« fragte der Professor sanft wie ein Lamm.

»Wie groß er tut!« rief die junge Frau, die solche Szenen zu lieben schien. »Fünfundsiebzig Pfennig. – Aber weil er mir solchen Schreck eingejagt hat, müßte er eigentlich eine Mark zahlen, was?!«

Das Volk war gegen den Professor und für die Mark.

»Wenn Sie aber Geld wollen, liebe Frau«, sagte der Professor, immer mit der gleichen Geduld, »müssen Sie meinen Ärmel loslassen.«

»Liebe Frau – er soll noch sehen, wie lieb ich zu ihm bin!« Und die Wirtin schleuderte seine Hand von sich, als habe sie eine Kröte zu fassen gehabt. Sie war zweifelsohne ein Fall echter Hysterie und großstädtischen Erregungen nicht abgeneigt.

Bis hier hatte der Professor in himmlischer Ruhe und Gelassenheit an ein kleines, rasch aufzuklärendes Mißverständnis geglaubt. Aber nun griff seine Hand in die eine Tasche und kam leer zurück, in die nächste – leer, in die dritte – leer, die fünfte, sechste – leer; ja, hier stand der Professor auf dem Dorfplatz in Lüttenhagen vor einer sich ständig vergrößernden, feindselig schweigenden Menge und suchte stets aufgeregter sämtliche sechzehn dem mit Anzug und Mantel bekleideten Mann verordneten Taschen ab und fand nichts!

»Aber das ist doch nicht möglich –!« sagte er und sah verwirrt in die Runde.

Alle Gesichter blickten lautlos böse auf ihn, und die Wirtin schnaufte wie eine zu stark geheizte Lokomotive. Noch aufgeregter fing der Professor mit der Suche von vorn an.

»Männchen!« sagte der schnauzbärtige Mann mit dem Reiserbesen drohend. »Wir hier in Lüttenhagen lassen uns nicht wippen!«

Doch da überkam den Professor die Erleuchtung!

Glücklich ließ er die Hände sinken, glücklich gab er die Suche auf, und glücklich sah er der Wirtin ins schnaufende Gesicht.

»Aber natürlich habe ich kein Geld bei mir! Das habe ich ja meinem Patchen in Unsadel gegeben! Ich kann also gar kein Geld bei mir haben!«

»Wa'!« schrie die Wirtin, und ein Ruck ging durch alle Gesichter ringsum. »Er hat's seinem Patchen in Unsadel gegeben«, schrie sie noch viel lauter, »und keine zehn Minuten sind's, da fragt er mich, wo eigentlich Unsadel ist. Ein Betrüger ist er, ein Hochstapler, ein Gauner ...«

»Liebe Leute!« bat der Professor.

Aber er kam gegen den Sturm nicht an. Sie hatten ihm seine Chance gegeben, nun wollten sie die ihre. »Ins Spritzenhaus!« kreischte die Wirtin. Und: »Ins Spritzenhaus!« schrien die Leute. Der Mann mit dem Reiserbesen gab ihm den ersten Stoß. »Wir hier in Lüttenhagen ...«

Schon schoben, stießen, griffen, zerrten viele ...

Dem Professor wurde es bunt, dann schwarz vor den Augen ...

»Ins Spritzenhaus!« gellte es unerträglich.

»Betrüger!« kreischte die böse Stimme.

»Was ist hier denn los?« fragte eine tiefe Baßstimme hoch von oben.

Totenstille wurde es, die Hände ließen vom Professor. Er öffnete die Augen.

Auf einem braunen, großen Pferd hielt eine Reiterin vor der Gruppe. Eine Dame, in schwarzem Reitkleid, mit einem roten, vollen, strengen Gesicht, buschigen eisgrauen Augenbrauen und einer dicken schwarzen Zigarre in dem energischen Mund.

»Die gnädige Frau«, flüsterten die Leute.

»Frau von Wanzka«, tuschelten sie.

Die Wirtin knickste. »Gnädige Frau«, sagte sie, und jetzt klang ihre Stimme kein bißchen scharf, sondern honigsüß. »Der ist ein Zechpreller. Er hat bei mir gefrühstückt und ist, ohne zu zahlen, weggegangen. Und wie wir ihm nach sind, hat er kein Geld, sondern erzählt, er hat's seinem Patkinde in Unsadel gegeben. Und ...«

»Ssssst, Buschhofen!« zischte die Dame auf dem Pferd durchdringend. »Und Sie –?«

Alle Augen richteten sich auf den Professor.

Der stand noch ganz verwirrt da.

»Es ist, wie die Frau sagt«, berichtete er dann. »Aber natürlich hole ich sofort das Geld. Ich bin nämlich der Professor Gotthold Kittguß aus Berlin und ...«

»Ssssst!« zischte die Dame und stieß eine dicke Rauchwolke aus. Sie nahm die Zigarre aus dem Munde und sah den Professor durchbohrend an. Sie beugte sich vor: »Und wo haben Sie das Kind gelassen, Sie Wüstling, Sie?!«

Der Professor stand angedonnert da, ein verlorenes, ungläubiges Lächeln auf dem Gesicht.

»Ergreift und haltet ihn, Leute!« befahl Frau von Wanzka. »Dieser Mensch ist ein gesuchter Verbrecher und ins Gerichtsgefängnis Kriwitz abzuliefern. Unter meiner Bedeckung natürlich.«

Der Professor lächelte groß und mild von ferne her.


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