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3. Kapitel

Worin Professor Kittguß einen Besuch macht, der im Kohlenstall endet

 

Der zottige Hofhund Bello hatte wirklich dem Professor nichts getan, sondern sich freundlich winselnd an Rosemarie gedrückt. Dann leitete den Paten die feste Hand seines Mädchens durch einen lichtlosen Raum, in dem es dumpf nach fauligen Kartoffeln und lau nach dem Spülstein roch, und nun stand er, plötzlich losgelassen, in einer häßlichen grünen, kleinen Küche, und der Rücken Rosemaries verschwand rasch durch eine Tür, hinter der Kindergeschrei laut wurde.

»Rosemarie!« rief er ihr nach.

»Marie, du Stromerin!« schalt eine herbe, böse Stimme vom Herdwinkel – und verstummte.

Die Frau drehte sich scharf nach dem Besucher um. Der Schein der Küchenlampe fiel ihr ins Gesicht. Es war blaß, mit großen braunen Augen, vorspringenden Backenknochen; es war noch jung, aber der Mund, wie ein scharfer, schmaler Strich, war alt und böse, fast ohne Lippen, und das Kinn vorgebogen und stark.

»He?!« fuhr die Frau mit ihrer harten Stimme den späten Besucher an und betrachtete ihn, ohne sich vom Fleck zu rühren.

»Gott zum Gruß!« antwortete der Professor und ging einen Schritt näher. »Ich bin der Professor Kittguß und ...«

»Und«, setzte die Frau fort und überstürzte den armen Professor mit einem ganzen Schwall von bösen, schreienden Worten, »... und wenn Sie vom Amt kommen, so ist das keine Art, derart am späten Abend, und die Kinder zeige ich Ihnen heute nicht! Die Leute im Dorf mögen euch Briefe schreiben, soviel sie wollen, wegen Mißhandlung und schlechter Nahrung und keine Pflege, und ihr mögt mir jede Woche und jeden Tag und jede Stunde solch hochnäsige Gemeindeschwester auf den Hals schicken, oder ihr mögt auch selber kommen, ihr großer Professor, ihr – ihr verdient euer Geld im Sitzen, wo ich mir um dreißig Mark im Monat für solch uneheliches Balg das Fleisch von den Händen mit den eingedreckten Windeln wasche! Aber heute zeige ich Ihnen die Kinder doch nicht, und wenn Sie da stehenbleiben bis Mitternacht, wo mir mein Mädchen auch noch weggelaufen ist und sich rumgetrieben hat. Der werde ich wieder einmal zeigen, wo das rechte Ende am Besen sitzt! Schlecht sind die Menschen alle, und darum möchten sie einen auch schlecht machen, und wenn Sie was wollen, so kommen Sie morgen früh um zehn, und da können Sie sich die ganze fünffache Sündenherrlichkeit frisch gewaschen und sauber angezogen betrachten dürfen – wenn sich nicht gerade wieder eines im letzten Augenblick vollmacht –!«

Zuerst hatte der Professor noch versucht, die Frau Schlieker zu unterbrechen, dann aber hatte er still und geduldig unter diesem Wortschwall gestanden, und ein ganz ähnliches Gefühl von Trauer und Bestürzung war in ihm aufgestiegen wie vorhin bei dem Ausbruch Rosemaries am Zaun. Als sie aber geendet hatte, ging er auf die Frau zu, streckte ihr die Hand hin und sagte: »Gott zum Gruß, Frau Schlieker!«

Sie sah die Hand verblüfft an, als habe sie einen Schlag bekommen, aber sie faßte sich und murmelte nur mürrisch: »Ja, ja, schon gut. Guten Abend also, und machen Sie, daß Sie jetzt weiterkommen.«

»Nein«, beharrte er und bot ihr weiter die Hand. »Gott zum Gruß, habe ich gesagt. Das bedeutet etwas anderes.«

Eine Weile war es still. Die weiße Männerhand zeigte immer weiter auf die Frau. Schließlich lachte die böse und doch verlegen auf: »Also, meinethalben: Gott zum Gruß.«

Und sie berührte für eine Sekunde mit ihrer kühlen, feuchten Hand die des Professors.

»Nun aber sehen Sie, daß Sie weiterkommen. Ich habe nicht so viel Zeit wie Sie. Ich habe fünf Gören zu versorgen.«

»Und das sechste ist Rosemarie«, sprach der Professor sanft. »Haben Sie Rosemarie gemeint, als Sie von Ihrem Mädchen sprachen, das sich rumgetrieben hat?«

»Ach nee«, antwortete die Frau gedehnt; der Zwischenfall eben war schon ganz vergessen und die alte, böse, streitlustige Stimmung erwacht. »Sie fragen also um die Marie –? Und warum tun Sie so, als kämen Sie vom Amt, und dabei kommen Sie von der Vormundschaft?! – Wir haben vor keinem Richter und vor keinem Gendarm Angst, daß Sie es nur wissen!! Und wenn Ihnen das Gör jetzt seine Lügen geschrieben hat, so wird ihr mein Mann schon zeigen, was er für eine Hand schreibt! Denn den alten Spruch kennen Sie ja wohl auch: Pastors Kinder und Müllers Vieh gedeihen selten oder nie ...«

Sie schoß zum Küchenfenster: »Päule! Päule! Sollst einmal kommen, wir haben feinen Besuch.«

Und ohne Atemholen schalt sie weiter: »Aber wenn ich sie unser Mädchen nenne, so stehe ich auch dazu, denn was gehört ihr schon weiter von dem ganzen Betrieb hier als die Schulden?! Mein Mann und ich, wir dürfen uns ja wohl totschuften, bloß damit das feine Fräulein was vor den Schnabel kriegt, und mit fünf Unehelichen plagt man sich, nur damit sie im Winter was Warmes im Leibe und auf dem Leibe hat – aber danken tut es einem keiner! – Päule, da ist einer vom Vormundschaftsgericht und fragt nach der Marie.«

Ein langer, rotblonder, noch junger Mann war in die Küche getreten, einen Eimer mit Milch in der Hand. Er lächelte den Besucher friedlich und freundlich an und sagte: »Na, Mali, dann wirst du heute mal die Milch durchdrehen müssen.«

»Ich!« rief die Frau. »Ich – bei all meiner Arbeit, wo das Gör sich den ganzen Nachmittag rumgetrieben hat, und du liegst auch am liebsten auf dem Sofa! Ach, Päule, wenn der Gendarm wenigstens den Philipp zu fassen kriegte – ich wollte ihm schon eine Heimkehr besorgen!«

»Ssssssst!« machte der Päule so scharf, daß der Professor zusammenfuhr. »Willst du mal deinen Mund halten! Marsch, los mit der Milch, eh sie kalt wird.«

Selbst der Professor merkte es, daß der große, lange, freundliche Mann jetzt gar nicht mehr freundlich, sondern sehr finster aussah. Und die Frau hatte auch schon den Eimer genommen und war aus der Küche fort, wortlos, wie eine, die Angst hat.

Aber gleich war der Herr Schlieker wieder nett: »Hier lang, bitte. Unsere gute Stube ist zwar kalt, aber Sie müssen's nehmen, wie Sie's finden. Wir sind arme Leute, aber ehrlich, wir stehlen kein Holz aus dem Wald wie die andern im Dorf. Lieber frieren wir und heizen bloß das Kinderzimmer, damit die junge Brut es warm hat ... Nun warten Sie einen Augenblick hier, ich hole gleich die Lampe. Bleiben Sie hier fein still stehen. Es ist ein bißchen sehr dunkel, und hinten ist die Kellerluke offen, wo wir die Runkeln rausholen ... Machen Sie bloß kein Schrittchen, daß Sie nicht ins Loch fallen, der Keller ist tief.«

Die Tür klappte, und der alte Professor blieb, die Reisetasche noch immer in der müden Hand, im Finstern. Eine lange, lange Weile stand er so und wagte nicht, den Fuß zu heben, aus Furcht vor der offenen Rübenluke. Ihm dünkte, als hätte man in der Zeit zwanzig Lampen füllen, zurechtmachen und anzünden können. Der freundliche Päule kam selbst seinem menschengläubigen Herzen gar nicht freundlich vor, sondern von Grund auf falsch und hinterlistig, und wenn man sich auch vor böser Nachrede hüten mußte, das Wort ging ihm doch im Kopf herum: »Ein Gau ist rauh, aber ein Schlieker ist ein Betrüger ...«

»Und«, dachte der Professor, »so viel weiß ich doch noch von meinem alten Fritz Reuter, daß ein Schlieker ein Schleicher heißt.« »Gott schütze mich!« rief er ängstlich bei sich, »wohin gerate ich –?! Welche Welt – sofort müßte ich heim. Aber das Kind, das arme, verkommende Kind – das Haus anstecken – und sie spricht es mit ihren Kinderlippen aus! Nein, bleiben muß ich nun und es durchkämpfen ...«

Da wurde es hell, und der Wirt kam mit der Lampe.

»Es hat wohl ein bißchen gedauert? Ja, ja, hohe Herren warten nicht gern, und ein Armer muß zehnmal laufen, ehe ein Reicher auch nur aufsteht. Ich habe den Schweinen schnell Futter eingetan, wir sind bloß Bauern, Herr, bei uns kommt das Vieh vor dem Menschen. – Und so haben Sie hier denn in der Ecke gestanden und keinen Fuß vor den andern gesetzt, und ich Dösbartel denke nicht einen Augenblick daran, daß dies ja dem alten Pastor Thürke sein Arbeitszimmer ist, und kein Gedanke an eine offene Rübenluke im Fußboden. Nun, Sie als studierter Herr werden ja auch manchmal nicht alle Ihre Gedanken auf einem Haufen beisammen haben, und so dürfen Sie es einem einfältigen Menschen nicht für ungut nehmen, daß es ihm auch nicht anders geht ...«

Über all dem bösen, scheinheiligen Geschwätz hatte sich der Professor umgesehen, und ein richtiges pastörliches Studierzimmer war es, dem eigenen gar nicht unähnlich, in dem er da war, mit Stehpult und großem Schreibtisch, einem grünen Plüschsofa in der Ecke und einem Mahagonitisch davor. Auf das Sofa ließ er sich langsam nieder und warf dabei einen halb sehnsüchtigen, halb traurigen Blick auf die hohen Regale, die um die Wände herumliefen. Denn es jammerte sein Herz, wie da die Bücher, dick verstaubt, durcheinander lagen, mit großen Lücken dazwischen, und manche sogar aus den Einbänden gefallen.

Aber dies vertraute Zimmer gab ihm doch auch trotz aller Müdigkeit – eine freundliche Langmut, und so sagte er denn zu seinem Wirt: »So müssen Sie nicht mit mir reden, Herr Schlieker. Ich versteh auch so, daß ich Ihnen kein erwünschter Gast bin. Und sobald ich weiß, was es mit der Rosemarie für eine Bewandtnis hat und wie ihr zu helfen ist, will ich Ihnen nicht weiter zur Last fallen, sondern gehen.«

»Ja, ja«, sagte Päule, rieb sich bedachtsam das rotblonde Kinn und sah den Professor starr an. »So hat sich denn also die Marie mal wieder hingesetzt und eine Beschwerde über die bösen, betrügerischen Schliekers ans Vormundschaftsamt geschrieben. Aber die hohen Herren dort müssen ja rein gar nichts zu tun haben, daß sie ohne jede Anfrage an mich oder den Schulzen gleich losfahren auf die Anzeige von solch unmündigem Kind.«

»Nein«, antwortete der Professor hastig. »Das ist ein Mißverständnis von Ihrer Frau, Herr Schlieker, ich bin niemand vom Amt oder Gericht, ich bin der Professor Gotthold Kittguß aus Berlin.«

Der andere rieb sich weiter das Kinn, und es war so, als riebe er ein Lachen über das ganze, immer fuchsmäßiger werdende Gesicht breit. »Wer das gedacht hätte«, wunderte er sich. »Also nichts Amtliches, gar nichts.« Er beugte sich über den Tisch und sah dem Professor nahe in die Augen. »Aber etwas Verwandtes zur Marie sind Sie doch, nicht wahr? Verwandtschaft ist doch da –?«

Der Professor hielt dem lauernden, lächelnden Gesicht mutig stand. »Nein, auch das bin ich nicht. Aber ich bin ein alter Studienfreund vom seligen Pastor Thürke und will ihm ...«

Er brach ab, denn der andere hatte mit einem Ruck den Tisch zwischen ihnen beiden fortgerissen und stand nun vor ihm, die Fäuste geballt und das Gesicht scharlachrot vor Wut. »Und da kommen Sie her«, schrie er, und seine Stimme kippte in die Fistel vor Wut, »kommen her ohne ein Recht und ein Gesetz und stänkern in meinem Haus und hetzen die kleine, widerborstige Hexe nur noch mehr gegen uns auf! Ich pfeif auf Ihre Professorenschaft, ich schmeiße Sie raus aus dem Haus, Sie alter Stänkerer, Sie! Ich schlage Ihnen alle Knochen im Leibe entzwei, wenn ich Sie hier noch einmal sehe, Sie ... Sie ...«

Er sah wirklich so aus, der Päule Schlieker, als wollte er sich sofort auf den alten Professor stürzen, und wenn er aufhörte mit Brüllen, so nur darum, weil er den Atem verloren hatte.

Aber der alte Professor Kittguß mochte sich vor Hunden, Ratten, Fröschen und mancherlei anderm harmlosen Getier graulen: vor Menschen hatte er keine Furcht. Langsam und bedächtig erhob er sich von dem Sofa und stand freundlich vor dem Zornigen. Sanft und fest legte er ihm eine Hand auf die Schulter, und mit der andern deutete er ihm auf die Brust und sprach: »Da tut es weh, Herr Schlieker? Nicht wahr? Das ist der böse Zorngeist, der in Ihnen sitzt, der tut weh. Ehe Sie den nicht ganz von sich abtun, werden Sie auch nicht glücklich sein. Und das möchten Sie doch, nicht wahr?«

Der andere zog und zerrte mit seiner Schulter unter dem Griff des alten Mannes, und einen Augenblick war es sogar, als wollte er ihn vor die Brust stoßen. Aber das vermochte er nun doch nicht über sich, und seine Schulter bekam er auch so aus der schwachen Greisenhand frei. Päule Schlieker tat einen Schritt zurück vor den großen braunen Augen, die ihn so durchdringend ansahen, rückte seine Jacke zurecht und sagte verdrossen: »Über Sie kann einer bloß lachen ...«

»Und, Herr Schlieker«, fuhr der Professor unbeirrt fort, »dieser böse Zorngeist ist's auch, der Ihnen lauter Dinge zu sagen eingibt, die Sie gar nicht meinen. Als da ist: den Hund auf mich hetzen, mir die Knochen im Leibe zerschlagen und so fort. Er sagt's aus Ihnen, aber Sie meinen's gar nicht. Und warum meinen Sie es nicht, Herr Schlieker?« fragte der Professor und sah seinen Gegner groß an – »weil Sie nämlich von Grund aus ein guter Mensch sind!«

»Da soll mich doch –!« sagte der Päule vollkommen erschlagen und tat schnell einen tiefen Atemzug. Denn wenn ihm in seinem Leben schon vielerlei gesagt worden war – und es war ihm vielerlei gesagt worden, und kein Schimpfwort, das nicht schon in Anwendung auf ihn gebracht worden wäre –, dies hatte ihm noch keiner gesagt.

»Ach was«, sagte er schließlich verdrossen. »Mit Ihnen kann ja kein vernünftiger Mensch reden. Sagen Sie also schnell, was Sie eigentlich wollen, sonst werde ich Sie doch nicht los, das sehe ich schon.«

»Ich will mich um mein Freundeskind, die Rosemarie, kümmern, Herr Schlieker«, sagte der Professor.

»Kümmern, ja kümmern!« höhnte der Schlieker. »Aber wie wollen Sie sich kümmern? Um ihr bißchen Eigentum – und das ist bloß der Katen hier mit seinen fünfunddreißig Morgen Land – kümmern wir uns schon, und wir kümmern uns gut darum, das glauben Sie man! Jedes Jahr reiche ich der Vormundschaft die Abrechnung ein, und nicht einmal, daß die Herren was zu meckern gehabt haben.«

»Wenn Sie sich um Rosemaries irdisches Erbe kümmern«, sagte der Professor, »so will ich Ihnen nicht dareinreden, und es soll mir recht sein. Aber wie steht es mit ihrem himmlischen Erbteil?«

»Nun, Herr Professor«, lachte der Päule Schlieker merklich erleichtert. »Wenn meine Mali und ich auch bloß einfache Leute sind, Heiden sind wir darum doch nicht, und unser ›Komm, Herr Jesu‹ beten wir Mittag und Abend vor jeder Mahlzeit. Aber für die Marie ist das alles nichts, und im ganzen Dorf gibt es kein vertrotzteres und verstockteres Mädchen als sie.«

»Das mag ich doch nicht auf ein bloßes Wort hin glauben«, sagte der Professor. »Ich habe meinen lieben Freund Thürke, der Rosemarie Vater, gekannt, und ein sanfterer, friedfertigerer Mensch hat nicht oft gelebt.

Und seine Frau Elise habe ich auch gekannt, und von ihr darf man wohl sagen, daß sie in einer wahren Märchen- und Wunderwelt zu Hause war und von diesem Leben nicht mehr wußte als ein Kind. Wenn wir aber sagen, daß der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, so muß das auch hier seine Geltung haben, und darum bitte ich Sie, Herr Schlieker, holen Sie mir das Kind einmal. Ich habe es nur erst im Dunkeln gesehen, und ich möchte meines Freundes Tochter einmal im Licht anschauen und in Ihrer Gegenwart einmal mit ihr reden und sie befragen.«

»Sie hat jetzt keine Zeit«, sagte der Schlieker mürrisch. »Sie hat sich den ganzen Nachmittag herumgetrieben, jetzt soll sie erst einmal ihre Arbeit tun.«

»Nun«, antwortete der Professor sanft, »sie wird ja nicht die ganze Nacht zu arbeiten haben. Ich warte dann hier. Ich bin zwar sehr müde und sehr hungrig, aber ich warte dann hier, Herr Schlieker.«

Und der Professor setzte sich langsam und bedächtig wieder in seine Sofaecke.

Der Mann der List, Schlieker, sah halb wild, halb verzweifelt auf diesen Mann der sanften Geduld. »Und werden Sie gleich weggehen, Herr Professor«, fragte er, »sobald Sie mit ihr gesprochen haben?«

»Natürlich«, sagte der Professor milde. »Was sollte ich dann noch hier?«

»Und es wird nicht lange dauern?«

»Nein, nein«, beruhigte ihn der Professor. »Ich denke schon daran, daß die Rosemarie hier auch Pflichten hat.«

»Also meinethalben«, sagte Schlieker und ging aus der Tür. »Aber nicht länger als fünf Minuten.«

Nun war der Professor Kittguß allein im kalten Studierzimmer des toten Freundes und, wie er da in seiner Sofaecke saß, war ihm, halb verhungert, wie er war, recht erbärmlich zumute. Dann aber fiel sein Blick wieder auf die schmutzigen, verliederten Bücherregale, und sein Herz tat ihm wieder weh. Er stand, trotz der schmerzenden Glieder, noch einmal auf und trat an solch Regal und hob einen Band heraus. Er blätterte und las den Titel – und nun blätterte er noch hastiger, und jetzt stieg ihm das Blut zu Kopfe ...

Als aber der Päule Schlieker mit der Rosemarie hinter sich eintrat, und die Frau Mali bildete den Nachtrab, da dachte der Professor nicht an Freundestochter und Auftrag und Erbteil, sondern nur an das Buch in seiner Hand, und flammend trat er dem Mann entgegen und fragte: »Und was ist dieses hier, Herr Schlieker?!«

»Ein Buch«, sagte der ganz verblüfft.

»Ja, ein Buch! Und warum ist es zerrissen, und warum fehlen Seiten?«

»Ach, die ollen Scharteken!« ließ sich Frau Mali wegwerfend vernehmen, »zu nichts sind sie nutze, und keiner mag einen Blick in das langweilige Zeug werfen. Wir haben versucht, den Kram zu verkaufen, aber keiner will ihn, nicht einmal der Herr Pastor in Kriwitz.«

»Und wissen Sie auch, was das für ein Buch ist!« rief der Professor Kittguß, und nun hatte einmal ihn der Zorngeist fest in der Hand. »Das sind des Schuhmachers Jakob Böhme ›hohe und tiefste Gründe von dem dreifachen Leben des Menschen‹!«

Er sah die beiden flammend an. »O weh!« rief er dann klagend. »Und es ist die Ausgabe von 1682, zu Amsterdam gedruckt mit einem Kupfer. Und der Kupfer fehlt, und Seiten fehlen auch, gut die Hälfte der Seiten fehlt!«

»Natürlich fehlt sie«, sagte Frau Mali frech. »Und es fehlt noch viel mehr. Was kümmern wir uns um den alten Dreck! Uns geht an, daß unsere Stube schnell warm wird, und wenn wir dazu Papier brauchen, so nehmen wir es, wo wir es finden. Und hier finden wir es ja«, schloß sie zufrieden, mit einem Blick über die Bücherbretter. »Und wir werden's auch weiter finden.«

»Verbrannt! Der Jakob Böhme zum Feueranmachen verbrannt!« klagte der Professor. »Nicht, daß ich alles von ihm billigte, denn offenbar kommt er mit der Heiligen Schrift oft nicht überein, aber er hat doch auch wieder über die Maßen schöne Sachen!« Ein neuer Gedanke kam ihm. »Sie haben mir gesagt, Herr Schlieker, daß Sie gut nach dem weltlichen Erbteil unserer Rosemarie geschaut haben, und ich habe Ihnen darum versprochen, nicht dareinzureden. Aber Sie haben nicht die Wahrheit gesagt, Schätze haben Sie vertan und verbrannt – wissen Sie, daß Ihnen für dies Büchlein, wäre es noch heil, jeder Buchhändler in Berlin zwanzig, ja dreißig Mark bezahlt hätte!«

Jetzt aber hatte er sie! »Herr Professor«, sagte der Schlieker ganz betreten, »es kann nicht möglich sein ...«

»Für solch verstaubten, brüchigen Dreck!« ließ sich Frau Mali ungläubig vernehmen.

Aber da hörte man eine spröde, helle, mutige Stimme: »Ja, Pate, und wie sie's hier in diesem Zimmer getan haben, haben sie's auch draußen gemacht. Kein Obstbaum, der nicht verliedert ist, kein Acker, der nicht verqueckt, kein Pferd, das nicht zum Verbrecher geprügelt ist. Oh, mein lieber Pate, und die armen, unehelichen Kinder, die sie in Pflege genommen haben ...«

»Willst du stille sein, du Biest!« schrie Schlieker und faßte sie grob am Handgelenk.

»Du magst mir ruhig die Hand umdrehen, Päule«, sagte sie mutig und sah ihn groß an, »deswegen gibt deine Frau den Kindern doch bloß Magermilch ...«

»Stille biste!« schrie nun auch die Mali und griff über den Mund des Kindes.

»Sie lassen das Mädchen los!« rief der Professor mit starker Stimme und stand groß, das Gesicht von einem gesunden Zorn gerötet, vor den beiden. »Nehmen auch Sie die Hand fort, Sie, Frau! Schämt ihr euch denn nicht, ihr beiden?! Wißt ihr denn nicht mehr, daß unser Herr Jesus gesagt hat: ›und was ihr diesen Kindlein tut, das tut ihr mir‹?! – Oh, mein Mädchen, mein Mädchen« rief er jammervoll. »Da stehst du vor mir, und ich sehe zum erstenmal im Licht dein liebes Gesicht, das du von deiner seligen Mutter hast. Ja, es ist wahr: wunderbare Zeiten habe ich deinem Vater geweissagt, die da kommen würden für dich. Als sei ich ein Prophet. Aber es ist gewesen wie eben, über dem Buch von Jakob Böhme habe ich dich vergessen, die du doch hier unter der Tür standest. So habe ich viele, viele Jahre vergessen, und nun bin ich ein alter Mann, der leicht müde wird, und ich weiß nichts von der Welt und kann dir wohl gar nichts mehr helfen. Ach, meine Rosemarie: wirst du mich überhaupt noch gebrauchen können –!«

Sie stand da, und seltsam war sie anzuschauen in ihrer verschmuddelten, mißfarbigen Magdtracht mit den Holzpantoffeln an den Füßen. Aber auf den schmalen Schultern saß ein schöner, zierlicher Kopf mit einem sehr kleinen, blaßroten Mund. Das Haar war hellblond, und leise Strähnen davon hingen wie hineingeweht in die hohe weiße Stirn. Die Augenbrauen waren auch hoch und schmal, schöne, nachdenkliche Bögen.

Aber das alles war es nicht. Es waren auch nicht die zartfarbenen, sanft gerundeten Wangen, sondern es war der ferne, wie wesenlose, wie unirdische Blick der Augen, die blaugrau waren, ein Blick, der durch die Dinge hindurch zu gehen schien, bis weit, weit hinter diese.

Dieser Blick war es, der den alten Mann ergriffen hatte; von der Mutter, die in einer Märchen- und Wunderwelt gelebt hatte, war er auf die Tochter gekommen, die mit schlimmen Leuten hausen mußte. Vor diesem Blick war das Böse, das ihm von ihr erzählt worden war, lügenhaft geworden, denn die Kinder des andern Reichs, das nicht auf dieser Erde ist, erkennen einander wohl. Und flüchtig dachte der alte Mann an den Sendboten der Rosemarie, den armen, blonden Jungen, den Philipp: »Wenn der ihr freundlich und zu Diensten ist, so kann kein Falsch an ihr sein.«

Er stand vor ihr und hatte die Hände wie um Verzeihung bittend an die Brust gehoben, und sie sagte nun mit ihrer spröden, hellen Stimme: »Es ist schon alles gut, Pate. Denn ich weiß, die wunderbaren Zeiten, die du mir versprochen hast und von denen ich immer geträumt habe, kommen nun. Und du hast recht: sie sollen nicht mit Lügen kommen.«

So standen sie einen Augenblick einander gegenüber und es war still, denn auch die Schliekers rührten sich nicht, bis ein, zwei Stuben ab ein Kind jämmerlich zu weinen anfing. Da war die Stille zu Ende, und die Schliekern sagte mit ihrer harten, bösen Stimme: »Genug Theater, Marie; daß du die Leute behexen kannst, wenn du willst, das wissen wir, aber bei uns verfängt es nicht, und so scher dich an deine Arbeit, das Gör brüllt sich ja wohl rein zu Tode.«

Die Rosemarie glitt ohne einen Laut aus dem Zimmer, und die Schliekern ging ihr nach.

Nun waren die beiden wieder allein, der Häusler und der Professor Kittguß, und Schlieker sah nachdenklich auf den alten Mann, der plötzlich nur noch müde und sehr elend war.

»Hören Sie, Professor«, sagte Schlieker mit einem Lachen, »ich sehe ja doch, so werde ich Sie nicht los. Da will ich Ihnen einen Raum zeigen, wo Sie sich ein bißchen hinlegen können, zum Erholen, und Sie werden sehen, daß, für wen ich sorge, ich gut sorge.«

Und damit nahm er ohne weiteres die Lampe, gab dem Professor die Reisetasche in die Hand und dirigierte ihn mit »Rechts« und »Links«, hinter ihm drein leuchtend, durch einen Flur aus dem Haus, über einen Hof, zu einer kleinen Bude.

Der Professor aber ging ganz gedankenlos und gleichgültig vor ihm her, und erst, als sein Wirt eine Tür in der Bude aufmachte und den Professor hineinnötigte, sagte er wie erwachend: »Aber wohin bringen Sie mich denn, Herr Schlieker?!«

Doch da schlug schon die Tür hinter ihm zu, und ein Schloß rasselte, und Kittguß hörte rufen: »In den Kohlenstall!« Und hörte seinen Wirt lachen und lachen.

Das Lachen entfernte sich, und Professor Kittguß stand allein im Kalten und Dunkeln.


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