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16. Kapitel

Worin Rosemarie nicht wie Amtsgerichtsrat Schulz will, aber Doktor Kimmknirsch hilft

 

Die Vorhänge hingen gelblichwarm vor den Fenstern, Frau Postdirektor Bimm »cremte« sie, wie es jede brave Hausfrau Anno 1912 tat. Das Mädchen sah schläfrig vom Sofa zu ihnen hin, es dehnte und streckte sich. Nun lag sie still auf dem Rücken und sah mit offenen Augen zur Decke, auf der ein heller Sonnenfleck zitternd spielte. Das Haus war still, Rosemarie mochte noch so sehr lauschen: kein Laut von nebenan, kein Laut vom Flur. Wie spät mochte es sein? Wann stand man hier auf? Mußte sie schon aufstehen?

Es war herrlich, so zu liegen, während draußen schon die Sonne schien, und keine böse Stimme trieb zur Arbeit, aber ...

Aber nun kam auf einmal alles zurück, was der tiefe, traumlose Schlaf in ihr ausgelöscht hatte ... Mit einem Ruck saß sie und lauschte, jetzt ganz wach. Wiederum nichts, kein Laut, kein Schritt ... keine Klage ...

Doch es litt sie nicht mehr, schon war sie hoch, ging zögernd an die Zwischentür, klopfte leise: nichts. Sie lauschte, klopfte wieder: nichts. Vorsichtig drückte sie auf die Klinke, leise öffnete sie die Tür Zentimeter um Zentimeter, schob den Kopf spähend in den Spalt ...

Und hier war das Arztzimmer in aller Weiße und Sauberkeit, erfüllt vom Licht des sonnigen Oktobermorgens; aber – das Sofa, wo Philipp gelegen hatte, war leer!

Es war so und es blieb so, soviel sie auch schauen mochte: Philipp war fort! »Doch ins Krankenhaus!« dachte sie, und anklagende Trauer erfüllte ihr Herz. »Ins Krankenhaus, während ich schlief ...«

Ein Geräusch ließ sie zusammenfahren. Ihr grade gegenüber war eine zweite Tür, eine Tür genau wie ihre, und genau wie eben bei ihr senkte sich dort leise und vorsichtig die Klinke. Gespannt starrte Rosemarie. Jetzt bewegte sich die Tür, knarrte, hielt an, ging weiter auf, knarrte stärker ... Und es war so spannend zu sehen und abzuwarten, was da wohl zum Vorschein kommen würde, daß Rosemarie gar nicht daran dachte, den eigenen Kopf zurückzuziehen.

Drüben erschien erst etwas Schwarzes, Gekräuseltes, mit Jettperlen und schwarzem Flitter. Dann ein wenig weißlichgraues, sauber gescheiteltes Haar. Dann Stirn, Wange, Nase, Mund – und nun spähte der ganze Kopf von Frau Postdirektor Bimm, genau wie auf Rosemaries Seite Rosemaries Kopf, in das Ordinationszimmer.

Dunkle, kalte Augen sahen nach dem Fenster. Dann nach dem Schreibtisch, nun nach dem Sofa, nun rückten sie, den Instrumentenschrank passierend, und jetzt trafen die kleinen, schwarzen Augen Rosemaries Blick!

Kein Zusammenfahren. Kein Erschrecken. »Damenbesuch?« flötete die Stimme drüben. »Junge Mädchen in Herrn Doktors Schlafzimmer?! Ich muß mich wohl wegen der Störung entschuldigen, Fräulein?!«

Ihr ganzes Gesicht ist ein süßes Lächeln, und die kleine, schwarze Witwenflitterhaube blinkert und glänzt wie ein böser Basiliskenblick. Rosemarie starrt wie gebannt, und der Sinn der Worte kommt ihr nur ganz vage zu Bewußtsein.

»Aber nicht in meinem Hause, Fräulein, nein. Ich liebe so etwas nämlich nicht, nein, wenn ich auch keine Pastorentochter bin wie Sie, Fräulein ... oje ...«

Jetzt sieht sie nur noch böse aus, bösartig und giftig. »Mit dem alten Herrn ist es wohl schon wieder vorbei? Der Steckbrief soll ja heute mittag in die Zeitung kommen, nicht –?«

»Na, was denn?« fragt eine kräftige Männerstimme von der dritten Tür her, von der Tür zum Flur, und die beiden Frauen fahren zusammen.

Doktor Kimmknirsch kommt, frisch und braun, mit hellen Augen in die Mitte des Zimmers. »Guten Morgen, Frau Direktor. Guten Morgen, Fräulein Thürke. Frau Direktor, in zwanzig Minuten etwa wird Herr Amtsgerichtsrat Schulz hier mit Fräulein Thürke und mir frühstücken. Also, Ihr bewährter Kaffee, in verbesserter Gestalt, und sonst – eben alles, was Sie können. – Fräulein Thürke, ich habe Ihnen auch was mitgebracht! (Der Philipp fühlt sich bei Frau Stillfritz wie im siebten Himmel und wird wieder ganz heil. Soweit ich sein Gestammel verstehen konnte, läßt er Sie grüßen.) Also hier eine nagelneue Zahnbürste! Alles andere ist drüben. Ein frisch gesäuberter Mensch vermag viel zu ertragen, und einiges steht Ihnen ja wohl heute noch bevor. Wie gesagt, Amtsgerichtsrat Schulz ist in zwanzig, jetzt noch achtzehn Minuten hier, ganz freundschaftlich und privat, aber ... Sie verstehen!«

Er drückte Rosemarie die Bürste in die Hand und sie mit der zugehenden Tür aus dem Zimmer. Da stand sie und sah mit Tränen in den Augen auf die nagelneue Zahnbürste, und was eben noch völlig trost- und aussichtslos gewesen war, das strahlte nun mit einem wahren Freudenglanz. Der Philipp bei der Frau Stillfritz – und ihr hatte er eine Zahnbürste mitgebracht! Sie sah selig auf das weiße Borstengeschöpf.

Nebenan redeten die Stimmen, schwollen an, sanken, flötensüß die Direktorin, kräftig schimpfend der Arzt. »Quatsch!« rief er grade. »Sie haben eine zuchtlose Phantasie!«

Frau Bimm tat einen hohen Aufschrei, sagte schnell etwas und: »Giftzähne ziehe ich auch!« rief der Arzt. »Aber garantiert nicht schmerzlos!«

Rosemarie riß sich zusammen, ein Lachen schütterte sie. Dann stürzte sie an den Waschtisch. Ach, wie schön schien die Sonne und wie herrlich hart war die Zahnbürste!

»Na also!« sagte Doktor Kimmknirsch. »Nun sehen Sie ja schon wieder etwas menschlich aus.«

Sie streckte ihm mit etwas ängstlichem Lächeln die Hand hin: »Guten Morgen, Herr Doktor, und schönen Dank für die Zahnbürste!«

»Ach so! Richtig, natürlich, aber das mußte sein. Zahnpflege ist unerläßlich. Sie bürsten doch regelmäßig zweimal täglich? Machen Sie mal den Mund auf!«

Sie tat es, als sei es ein großes Glück.

»Na also«, sagte er zufrieden. »Sie können wieder zumachen. In Ordnung. Und, wie gesagt, der Münzer ist einigermaßen munter, wie man es eben nach einer kleinen Narkose sein kann. Der Fuß kommt bestimmt in Ordnung. Übrigens nicht Ihr Verdienst, nein, gar nicht ...«

»Nein«, sagte sie, ihn so ansehend, daß er beinahe verlegen geworden wäre. »Ich weiß schon, wessen Verdienst es ist ...«

»Mich meinen Sie? Quatsch. Geheimrat Faulmann war diese Nacht hier. Alles verschlafen, was –? Herein!«

Ein trat, den schwarzen Vollbart streichelnd, Amtsgerichtsrat Schulz. »Nochmals guten Morgen, Kimmknirsch. Guten Morgen, Rosemarie! – Biest! Dein Verdienst ist es nicht, daß ich dich hier treffe statt in Zelle Numero Sicher ...«

»Nein«, sagte Rosemarie. »Ich weiß schon, wessen Verdienst ...«

»Halt!« rief Kimmknirsch. »Hören Sie auf damit, Fräulein Thürke. – Sie bildet sich nämlich ein, ich habe alles gemacht, einschließlich heutigem Sonnenschein, Schulz. Herrn Amtsgerichtsrat hast du zu danken, verstehst du ... Schon wieder neue Verwirrung: Ich meine natürlich: Sie. Ihm haben Sie zu danken, verstehen Sie: ihm!«

»Was!« rief der Amtsgerichtsrat. »Doktor! Kimmknirsch! Mensch! Sie werden doch dies Kind nicht siezen! Nach all dem Unsinn, den sie angestellt hat! Wollten wir sie als erwachsenen Menschen behandeln, müßte sie bestimmt ins Kittchen. – Aber wo bleibt der Kaffee, Doktor? Ich habe um zehn Termin, und was für einen!«

»Ich will gleich mal sehen«, murmelte der Doktor. »Frau Bimm ist vielleicht noch etwas außer Fassung. Zuviel Ereignisse, verstehen Sie, für Kriwitz ...«

Er war aus dem Zimmer – und gleich war es, als wehe eine kühlere Luft.

Der Amtsgerichtsrat saß, mit den Füßen, die den Boden nicht erreichten, baumelnd, in einem Sessel. Rosemarie stand unter der Tür, ihr Lächeln war fort.

»Rosemarie!« sagte der Amtsgerichtsrat streng. »Rosemarie, komm einmal her.«

Sie näherte sich zögernd.

»Sieh mich einmal an, Rosemarie.«

Sie tat es.

»Nein, bücke dich. Daß ich klein bin, ändert gar nichts, von oben lasse ich mich doch nicht ansehen.«

Rosemarie bückte sich.

»Rosemarie – hast du etwas Schlechtes getan –?«

Sie sah den kleinen, närrischen, jetzt so ernsten Richter an. »Etwas Schlechtes –?« fragte sie. Und besann sich. »Ich habe den Philipp weggeschickt nach Berlin und den Otsche Gau befreit. Und dann habe ich meine Wäsche heimlich aus dem Schrank geholt. Und ich habe den Jungens gesagt, sie sollen mir Eßsachen ...«

»Unsinn, Rosemarie!« rief er ungeduldig. »Ich frage dich nicht nach Dummheiten, ich frage dich nach Schlechtigkeiten!«

»Schlechtigkeiten –? Anderes weiß ich nicht!«

»Besinne dich, Rosemarie! Denke zum Beispiel an den alten Herrn aus Berlin ...«

»An den Professor –?« fragte sie verblüfft. Und plötzlich lachte sie. »Ach, Herr Amtsgerichtsrat, der Herr Professor Kittguß, der ist doch so, daß ich mir ganz erwachsen und erfahren vorkomme ..., er ist doch ganz wie ein Kind ...«

»Es gibt auch böse Kinder, Rosemarie!«

Sie schüttelte energisch den Kopf. »Der Herr Professor ist immer gut. Er ist überhaupt der beste Mensch von der Welt!«

»Na, na!«

»Er ist so gut, daß er gar nicht versteht, wie schlecht die Schliekers eigentlich sind, und immer meint, sie wollen Gutes, sie verstehen es nur nicht anders.«

Der Amtsgerichtsrat sah das Mädchen aufmerksam an. »Erzähl mal mehr von ihm, Rosemarie ...«

»Ja – als ich ihn zuerst sah, war ich ganz verzweifelt, denn ich wollte Schliekers doch reinlegen, aber er sagte, eine gute Sache ginge nur mit der Wahrheit ...«

»Und –«

»Und dann habe ich gesehen, er hat recht. Und darum bin ich auch einfach von Schliekers fortgelaufen und will ihnen auch nichts Übles mehr tun. Sie werden schon von allein zu Ende kommen, es wird schlecht mit ihnen ausgehen ...«

»Es geht Schliekers schon sehr schlecht«, sagte der Amtsgerichtsrat ernst. »Frau Schlieker bekommt wieder epileptische Anfälle, und ihn hat Bauer Gau böse zugerichtet ...«

»Ich habe es gesehen«, flüsterte sie und schloß angstvoll die Augen. Sie war still, dann legte der Amtsgerichtsrat ihr seine kleine dünne Hand auf die Schulter. »Wer wird nun das Vieh bei den beiden kranken Leuten versorgen, Rosemarie?«

Sie sah ihn zweifelnd an.

»Wer wird Essen kochen? Und die Betten machen? Wer wird sie pflegen?«

Ihr Blick wurde immer größer, immer angstvoller.

»Aus dem Dorf geht doch keiner zu ihnen, Rosemarie!?«

»Keiner«, flüsterte sie, aber es war nur wie ein Hauch.

»Höre zu, Rosemarie«, sagte der Amtsgerichtsrat und zog sie näher zu sich. »Das sind zwei oder drei Jahre her, da warst du bei mir. Ich sollte dich von den Gaus befreien und zu den Schliekers geben – weißt du noch?«

»Ich wußte nicht, wie sie waren«, flüsterte sie.

»Also du weißt es noch. Die Schliekers gaben eine gute Stellung um deinetwillen auf ...«

»Für Geld«, flüsterte sie. »Nicht für mich.«

»Siehst du, wie du noch alles weißt! Du hast dich damals geirrt – und wie ist es nun: wer muß die Folgen deines Irrtums tragen: du oder die andern –?«

»Nein! Nein!« rief sie angstvoll, aber dieses Nein war keine Antwort auf die Frage des Richters, es galt etwas ganz anderm, und der Große Amtsgerichtsrat Schulz verstand das auch sehr richtig. »Da ist der alte Herr, von dem du erzählt hast, Rosemarie. Du hast verstanden was er mit der Wahrheit gemeint hat. Ist das Wahrheit, wenn man wegläuft und sich versteckt –?«

Sie schwieg, aber ihre Augen irrten umher, als suchten sie einen Ausweg vor seinen Worten.

»Rosemarie!« sagte er streng und schüttelte sie. »Was ich dir gesagt habe, das habe ich dir um deiner Ehre willen gesagt. Du willst also nicht – nun höre noch einmal. Es geht nicht, daß wir Schliekers in Schimpf und Schande fortjagen. Das haben sie nicht verdient. Sie mögen sein, wie sie wollen – und ich kenne sie recht gut –, aber das haben sie nicht verdient. Es sind harte, lieblose Menschen, aber bis zur Stunde haben sie dir nicht mehr aufgeladen, als du tragen kannst. Leben ist kein Zuckerschlecken, und es gibt zehntausend Kinder auf der Welt, die es zehntausendmal schlimmer haben als du. Nimm dich zusammen, Mädchen, sieh es ein!« Sie schüttelte, immer noch leise verneinend, mit einem jämmerlichen Lächeln den Kopf.

»Wir haben«, fuhr er geduldig fort, »mit ihnen einen Vertrag gemacht und ihnen die hundert Mark im Monat zugesichert – und du warst dabei, Rosemarie! Und es ist jetzt unsinnig zu schimpfen, wenn sie ihr Geld verlangen.«

»Sie stehlen«, sagte Rosemarie trotzig.

»Unsinn!« sagte der Amtsgerichtsrat böse. »Komm einem Richter nicht mit solch unbewiesenem Geschwätz! Was stehlen sie? Wohin bringen sie's? Sag!«

»Ich weiß keine Namen«, flüsterte sie.

»Siehst du, Rosemarie! Verleumdung – schäm dich was, Märchenprinzessin! Sich im Einschlafen Sachen ausdenken und dann daran glauben, was?!« Er lachte. »Nein, du, Rosemarie, du kennst Schliekers und weißt, wie sie sind! Was wird aus ihnen, wenn wir sie schimpflich aus dem Dorf jagen?! Wenn ich's tue – aber ich darf's gar nicht –, wenn ich's also tue: was wird aus ihnen?«

Schweigen.

»Du sagst es nicht, aber du weißt es. Dreck wird aus ihnen, und du und ich, wir haben sie reingestoßen. Willst du es verantworten?! Habe Mumm, Mädchen, reiß dich zusammen! Das ist wahrhaftig einfach, auszureißen und in Feldern und Wäldern herumzuvagabundieren und arme Idioten zu Krüppeln zu machen ...«

Sie fuhr zusammen. Er merkte es.

»Aber es ist doch so! Rosemarie. Nein, tu jetzt einmal deine verdammte Pflicht und Schuldigkeit, geh zu Schliekers zurück und halte aus, bis es ruhig geworden ist über all diesen Dingen. Dann wollen wir sehen, wie wir uns anständig und in allen Ehren von ihnen lösen, verstanden? Einverstanden, Rosemarie?!«

Aber sie konnte nicht. Sie hörte die böse, grelle Stimme der Frau, die hinterlistig-freundliche des Päule ... »Ich kann nicht ...«, flüsterte sie. »Ach, wenn mir doch einer glaubte, daß sie noch viel, viel schlechter sind ...«

Der Amtsgerichtsrat ließ sie so plötzlich los, daß sie beinahe gefallen wäre. Er war blaß vor Zorn. »Da haben Sie sie, Doktor!« rief er unmutig. »Sie will nicht! Sie hat einfach Angst, jämmerliche, feige, knochenklappernde Angst! Pfui Teufel!«

Sie war zusammengeschreckt, als sie erfahren hatte, daß der Doktor im Zimmer gewesen war, wer weiß, wie lange schon. Röte stieg in ihr eben noch blasses Gesicht. Sie senkte es.

»Ich denke, erst frühstücken wir einmal«, sagte der Arzt ungerührt. »Das wird allen Beteiligten nur guttun. Und danach werde ich mit Fräulein Thürke einen Krankenbesuch bei Schliekers machen. Was sich dabei ergibt, werden wir ja sehen. Wenn Sie nicht bleiben wollen, das verspreche ich Ihnen, Fräulein Thürke, rede ich Ihnen mit keinem Wort zu ... Und nun seien Sie so gut und schenken uns den Kaffee ein. Ich für mein Teil freu mich auf ihn ...«

Der Amtsgerichtsrat freute sich auch, er war nicht mehr und noch nicht wieder in dem Alter, wo einem Ärger den Appetit verdirbt.

Freilich Rosemarie saß nur kümmerlich über ihrem Frühstück, und es wollte ihr nicht annähernd so schmecken, wie es sich für solch ungewohntes Frühstück mit sauren Fischchen und kaltem Fleisch geschickt hätte. Sie hörte auch nur halb auf das Gespräch der beiden Herren, trotzdem sie von einem wunderlichen Narren auf den andern gerieten, nämlich von Stillfritz auf Philipp und von Philipp auf den alten Professor.

Der Amtsgerichtsrat Schulz hatte vielerlei von ihm gehört, durch den Gendarmen Gneis und durch Päule Schlieker, durch Stillfritzens und den Gemeindevorsteher Gottschalk und auch durch Rosemarie – aber ein Bild von dem Wesen des alten Mannes konnte er sich darum doch nicht machen – das hörte Rosemarie gleich.

So mußte sie schließlich einspringen und einmal alles recht ordentlich vom ersten Anfang an erzählen, von dem durch Philipp unter Mißachtung der Mecklenburgischen Gemeindeordnung nach Berlin getragenen Notschrei, über den im Kohlenstall endenden Besuch, bis zur Einkehr im Vogelschen Waldhaus.

»Und da sitzt er also noch, Rosemarie?«

»Ja«, sagte sie schuldbewußt. »Über all dem, was heute nacht geschehen ist, habe ich ihn ganz vergessen. Und sicher friert er und hat keinen warmen Kaffee wie wir und ängstet sich um mich und Philipp ...«

»Du siehst, Rosemarie«, sagte der Amtsgerichtsrat noch einmal streng, »was bei deinen Abenteuern herauskommt! Klarer Weg, Mädchen!«

Sie senkte den Kopf noch tiefer, sie fühlte den hellen, ernsten Blick des jungen Arztes und schämte sich. Aber in ihr sagte es noch immer: »Ich kann nicht. Und ich will nicht.«

»Ich mache Ihnen das«, sagte jetzt Doktor Kimmknirsch. »Bierverleger Tengelmann hat ein Auto. Das leihe ich mir, und damit fahre ich zuerst Fräulein Thürke zu Schliekers, und dann hole ich Ihnen den alten Herrn. Recht so?«

Rosemarie hätte nicht sechzehn Jahre alt und ein rechtes Landmädchen aus dem Jahre 1912 sein müssen, um nicht plötzlich vor Glück zu strahlen, daß sie in einem richtigen Automobil fahren sollte, und mit dem jungen Arzt dazu.

Der Amtsgerichtsrat wiegte den Kopf hin und her: »Sehr liebenswürdig, Herr Doktor. Aber kann ich es Ihnen auch zumuten? Eigentlich geht Sie doch der ganze Kram nichts an.«

»Doch! Doch!« sagte der Doktor tiefernst und lächelte nur mit den Augenwinkeln. »Es sind doch eigentlich alles meine Patienten!«

Und dabei sah er Rosemarie so von der Seite an, daß sie rasch unter dem Tisch nach ihrer Serviette suchen mußte.


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