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14. Kapitel

Worin viele viele suchen, aber die Falschen finden die Falschen

 

Als Doktor Georg Kimmknirsch diesen Abend zum zweitenmal auf die nächtliche Straße trat, in den »Erbherzog« zu gehen, rief ihm aus einem vorbeiklappernden Wagen eine Stimme zu: »Guten Abend, Herr Doktor!«

»Guten Abend«, antwortete Kimmknirsch ganz in Gedanken und merkte erst dann, daß es sein erster Patient, Herr Päule Schlieker aus Unsadel, gewesen war, der ihn so höflich gegrüßt hatte.

Der Arzt mochte über Schlieker denken – wie er dachte, er rief doch: »He, Herr Schlieker!«

Die Frau hielt die Pferde, Doktor Kimmknirsch ging langsam an den Wagen und fragte (wobei er sich ärgerte, daß er dies fragte, denn die Antwort war ihm doch ganz egal): »Nun, wie steht es mit den Schmerzen?«

»Danke« sagte Schlieker trocken, kniff den Mund zusammen und sah den Arzt prüfend an.

»Und so allein?« fragte der. »Nichts geworden mit der Haussuchung? Nicht getroffen den Herrn Amtsgerichtsrat?«

»Ja ...«, sagte Schlieker nach einer ganzen Weile gedehnt. Und nichts weiter.

Nun ärgerte sich Kimmknirsch schon gewaltig über seine eigene dämliche Fragerei, aber er konnte es doch nicht lassen. »Was gefunden ...?« fragte er und zeigte auf den hinteren Wagenkasten.

Immer mit der gleichen hinterhältigen Aufmerksamkeit sah Schlieker den Arzt an, aber diesmal antwortete er überhaupt nicht.

Der Doktor hätte schwören mögen, daß dies verbeulte, verbogene Rad da hinten im Wagen ihm erst vor einer Stunde gegen den Leib gesaust war. Er sagte eindringlich: »Ich meine das Rad, das kaputte Rad da hinten – ob Sie das gefunden haben?«

Die beiden sahen sich an.

Die hellen bösen Augen Schliekers sahen ohne Blinzeln in die des Arztes. Der hatte sonst keinen Blick zu scheuen, und er scheute auch keinen. Aber heute abend hatte er einen Fehler gemacht, nein, viele Fehler. Er hätte weder dieses Mädchen noch den Jungen in seiner Wohnung behalten dürfen. Er hatte sich in eine Sache eingelassen, deren Folgen nur ärgerlich sein konnten, und darum war er nicht zufrieden mit sich. Und nicht genug mit alldem, jetzt stand er auch noch als eine Art Privatdetektiv für die kleine Thürke hier – und es war ihm, als könne Schlieker das alles erraten.

Der Doktor wollte nicht, aber er blinzelte, er ärgerte sich wütend, aber er sah weg.

»Also guten Abend, Herr Doktor«, sagte Schlieker, plötzlich laut auflachend, als lachte er den Arzt aus. »Fahr zu, Mali!«

Und schon rasselte der Wagen klappernd und stoßend davon – in die Nacht hinein.

Der junge besonnene, so selbstsichere Arzt stand da und ärgerte sich immer weiter und immer mehr.

»Warum in aller Welt«, wütete er in Gedanken gegen sich, »habe ich nicht diesem schlechten Kerl, dem Schleicher, gesagt, daß die beiden bei mir sind?! Habe ich mich denn vor ihm zu verstecken –?! Habe ich denn Angst, er holt sie mir weg – gegen meinen Willen?! So etwas von alberner Heimlichtuerei ist mir nun wirklich in meinem ganzen Leben noch nicht passiert! Es ist doch wahrhaftig, als wäre ich von dem albernen Gör da oben mit seinen romantischen Faseleien angesteckt! – Jetzt gehe ich aber schnurstracks in den »Erbherzog« und spreche mit dem Kollegen Faulmann und dem Amtsgerichtsrat Schulz – der Deubel soll mich holen, wenn ich nicht fürderhin tue, was Rechtens und Gesetzes ist! Mich von diesem bösartigen Affen auslachen lassen, und mit allem Recht – es wird ja wirklich immer schöner!«

Und damit drehte sich Doktor Kimmknirsch so energisch auf seinen Hacken um, daß der Schmutz aufseufzte, und marschierte mit langen Schritten in den »Erbherzog«.

 

Der Wagen klapperte und ratterte über das Kopfsteinpflaster von Kriwitz, jedes Eisenteil an ihm stöhnte, klirrte und klang, und jedes Holzstück ächzte und knirschte. In den spärlichen stillen Häusern brannte da und dort noch Licht, einesteils weißlich bei den Umstürzlern vom neu bescherten elektrischen Strom, andernteils gelblichmild bei den beharrenden Elementen in der althergebrachten Petroleumlampe.

Dann lief der Wagen mit einem letzten ohrenbetäubenden Lärm am Ausgang des Städtchens über die Kleinbahngleise, und nun ging es – plötzlich fast lautlos – im Kriwitzer Sandweg weiter; nur das Lederzeug am Pferdegeschirr knarrte noch ein wenig.

»Komisch«, sagte Päule in die Stille hinein.

»Ja, komisch war er«, bestätigte Frau Mali.

»Oben kurz angebunden und beinahe grob, und unten koddert er, als hätte er Sabbelwasser getrunken.«

»Was er nur mit dem Rad hatte?« fragte Mali.

»Ja, mit dem Rad hatte er was. Er wußte was davon.«

»Aber er kann doch Tamms Rad nicht kennen!«

»Ja, es ist das Rad, auf dem Hütefritz meistens fährt.«

»Der ließe es aber nicht so liegen auf der Straße.«

»Nein, das täte er nicht. Es ist wer anders drauf gefahren.«

»Bestimmt. Aber wer? Und wozu?«

»Ja, wozu fährt einer noch in der Nacht von Unsadel nach Kriwitz?«

Die Pferde trabten, dann gingen sie wieder eine Weile Schritt im tiefen Sand.

»Ganz egal!« sagte Päule plötzlich wütend. »Ob nun bei Tamm Licht ist oder nicht, ich gehe heute noch zu ihm und horche, wie das zusammenhängt!«

»Laß es doch für morgen, Päule«, sagte sie bittend. »Morgen ist dann auch der Gendarm da ...«

»Der? Der findet auch nichts, weil er nichts finden will. Da muß ich schon selber Posten stehen ...«

»Laß uns nur diese Nacht ruhig schlafen, Päule«, bat sie wieder. »Laß das mit dem Rad bis morgen!«

»Du hast wohl Angst?! Plötzlich?!«

»Ach, Päule, ich bin so müde und kaputt. Und nun das mit den Anfällen ...«

»Anfälle –? Ein Anfall! Du hast doch gesagt, es kommt nicht wieder!«

»Ja, natürlich ...« Sie besann sich. »Aber mir ist so komisch, Päule, seit mich der Doktor so angesehen hat, ich bin so mutlos ...«

»Da bekommst du also noch mehr Anfälle, meinst du das?! Du hast also heute nachmittag gelogen?!«

»Ich habe es doch gedacht, Päule! Aber nun, wo er mich so angesehen hat! – Päule, vielleicht wird es mir doch zuviel, vielleicht ist es doch besser, wir geben es auf. Wir haben jetzt ein schönes Stück Geld zusammen, wir können uns etwas pachten ... Nur einmal etwas mehr Ruhe, kurze Zeit nur ...«

»Gib die Zügel her!« schrie er. »Gottserbärmliches Weiberwinseln!«

Er riß ihr die Zügel aus der Hand, die Peitsche, schlug auf die Pferde ein, daß sie losstürmten ...

»Immer, wenn man sich auf einen verläßt, ist man verlassen! Du bist auch nichts – Angst und Gewinsel ... Stille bist du!« schrie er. »Kein Wort mehr! Hättest du den Jungen nicht laufengelassen, wie ständen wir da!«

Er schwieg und sah finster vor sich in die Dunkelheit, in die sie immer ohne Ende hineinfuhren, Dunkelheit vor ihnen, um sie, hinter ihnen. –

Sie fahren dahin, fahren dahin – und wir haben jetzt endlich einen Augenblick Zeit, nach unserm alten Professor Gotthold Kittguß zu sehen.

Er sitzt noch immer in Dunkel und Kälte, an dem erloschenen Kaminfeuer, das er nicht hat in Gang halten, unter der Hängelampe, die er nicht hat anzünden können – und schläft und träumt. Aber es ist kein guter Traum, der unsern alten Deuter der Offenbarung Johannis heimsucht: er rührt sich im Traum, seine Lippen zittern, seine Hände bewegen sich, als wollten sie etwas wegstoßen, abwehren ...

Es ist keine gute Nacht, diese neblige Oktobernacht: sie hat Zwietracht und Mißtrauen zwischen dem Ehepaar Schlieker gesät; einem jungen Mann wehte sie ein Mädchen ins Zimmer, und er weiß nun gar nicht, was mit sich und ihr anfangen; und den alten Professor hat sie in seine jüngste, kleinste, längst vergessene Kindheit zurückgebracht, und er sieht mit der gleichen Angst wie vor fast sechzig Jahren Louise auf sich zukommen, die schöne Böttcherstochter aus der Berggasse, drei Häuser weiter ...

»Bitte, bitte, liebe Louise, laß es mir heute ... Heute, einmal nimm es mir nicht fort ...«

Er ist erst sieben oder acht Jahre, aber grade darum hat ihn die Mutter geschickt, daß er beim Kaufmann noch Butter und Käse, beim Fleischer Wurst zum Abendessen holt: Er soll doch mit Geld umgehen lernen ...

Aber die große Vierzehnjährige, die Dunkle mit den schönen, langen, schwarzblauen Zöpfen hört gar nicht auf sein klägliches Betteln, sie stellt sich nur vor ihn hin, ohne ihn anzurühren, und sagt leise mit ihrer dunklen, sanften Stimme: »Schenk es mir, Holdchen, schenk es mir, bitte, dieses eine Mal noch ...«

Der Junge tritt einen Schritt zurück, sieht sie verzweifelt an und flüstert: »Ich habe schon gestern und vorgestern anschreiben lassen, Louise. Wenn es rauskommt! Wenn die Eltern es erfahren ..., bitte, bitte, nur heute einmal nicht ...«

Aber es ist, als hörte ihn das Mädchen nicht, und er spricht doch so deutlich, wie er nur kann – es sieht ihn schmeichelnd an und sagt sanft: »Holdchen, Goldchen, bitte tu es!«

Und der siebenjährige Professor kann sich der Stimme und dem Blick, er kann sich dem schönen Mädchen nicht entziehen. Ganz langsam und ganz gegen seinen Willen streckt er das weiße Händchen aus, und als er damit über ihrem bräunlichen ist, öffnet er es, und sie hat den silbernen Taler!

»Danke schön, Holdchen, dummes, gutes Goldchen, danke schön!« ruft das Mädchen. »Morgen komme ich wieder!«

Und ist fort.

Der Junge aber steht zitternd auf demselben Fleck und sieht sie verschwinden, über seinem Kopf rauschen die Berggärten auf, immer noch einmal vor dem zur Nacht wehenden Wind. Ihm ist selbst jetzt im Traum, als röche er diese Gärten, die Vögel zwitschern ein weniges, schon schläfrig, der Himmel wird immer blasser und sanfter ...

Und das Kind überlegt, ob es nach Haus gehen und der Mutter alles erzählen soll, ob es lügen soll, daß das Geld verlorenging – und steht schon vor Kaufmann und Fleischer und bittet ängstlich um das Aufgetragene und bittet, es anzuschreiben. Und sie sehen ihn so komisch an und schneiden so zögernd das Stück Käse ab, heben so zögernd die Butter aus dem Eisschrank und die Wurst von der Stange ...

Es ist vielleicht nur vier- oder fünfmal gewesen, daß er diese schreckliche Qual erfuhr, denn Rechtsanwalt und Notar Kittguß ließ nie etwas anschreiben, und darum dauerte es auch nicht lange, bis Frau Fleischermeister Schwarzloh der Frau Notar einen Wink gab ...

Aber noch jetzt im Traum scheint es ihm, als sei es durch viele hundertmal so gegangen, als habe die Qual, die für sein kleines Jungenherz viel zu schwer war, viele Jahre darauf gelastet ...

Und da war Mutter mit verweinten Augen, und Vater fragte streng: »Gotthold, wo bist du mit dem Besorgungsgeld geblieben?!«

Aber nur die Stimme klang streng, der Junge fühlte doch alle Güte, und Mutter hätte gar nicht erst zu flüstern brauchen: »Goldchen, Jungchen, bitte, sag alles ...«

Das kleine Herz wollte ja so gerne die schwere Last abwerfen, und unter ständigem Schluchzen kam die seltsame, ganz unglaubliche, gradezu märchenhafte Geschichte von der Böttcherstochter Louise Runge heraus ...

»Ist es auch wirklich wahr, Goldchen?« fragte Mutter, auch schluchzend. »Sieh, Jungchen, wenn du das Geld vernascht hast, sag es doch, es ist gar nicht so schlimm ...«

Der Vater räusperte sich, und Mutter sagte eiliger: »Wir wollen es vergessen und vergeben, aber Böttcher Runges sind achtbare Leute ...«

Doch er bestand auf seiner Geschichte, ach, aus der Kehle des Träumers kam noch heute, fast sechs Jahrzehnte später, eine Erinnerung an das hilflose Schluchzen von damals –. Und der alte Bürobote Heinsius wurde geschickt: Ob Herr oder Frau Runge vielleicht so freundlich sein wollten, für einen Augenblick rüberzukommen – aber mit der Louise?!

Die Tür tat sich auf, und mit der dicken kleinen Mutter kam das schöne, stille, dunkle Mädchen hinein – und in all seinem Jammer war dem kleinen Gotthold Kittguß doch, als freute es sich in ihm ...

Und dann redete Vater, und plötzlich sahen alle auf ihn, den Jungen ...

Aber da war schon das Mädchen vor ihm und schüttelte ihn an den Schultern und schrie ihn an: »Wie kannst du das von mir sagen, du alter, böser, verlogener Junge, du! Das Geld vernaschen und es mir dann in die Schuhe schieben! Pfui, pfui, pfui, Betrüger und Dieb!«

»Laß, Louise«, sagte der Vater. »Laß den Jungen.«

Und er schob das Mädchen fort, sah seinem Sohn in die Augen und sagte: »Gotthold, sieh mich an. Hat Louise recht oder hast du recht?«

Und der Junge wollte den Vater ansehen, wollte reden, aber da war die schöne, schöne Feindin ...

Und nun fühlte er den ersten und einzigen Schlag, den sein Vater ihm gegeben, und eine erzene Stimme wie die Stimme des Gerichts sprach: »Geh auf dein Zimmer, Gotthold!«

Aber nicht dieser Schlag war das Schlimmste, und nicht diese Verbannung war das Schlimmste, und nicht der kalte, ferne Ton der Eltern in den kommenden Monaten war das Schlimmste, und nicht Spott und Hohn der andern Kinder war das Schlimmste – sondern daß die Welt entzwei war, das war das Schlimmste! Daß die Vögel zu Unrecht im Einschlafen so schläfrig zwitscherten, daß das dunkle Mädchen zu Unrecht so schön war ...

Der Schläfer rührt sich im Traum und stöhnt.

Viele Jahre sind vergangen, Jahrzehnte, eine endlose Zeit – wo ist die schöne, stille, dunkle Louise? Längst gestorben und vergessen! Aber der alte Mann kann heute noch nicht mit Geld umgehen, er mag heute noch in keinen Laden treten, etwas zu kaufen, er vergißt heute noch das Bezahlen, und er ist heute noch immer allein ...

Nicht umsonst ist er einsam und allein geblieben, nun sitzt er hier im dunklen, kalten Stall, die Jugend ist fortgelaufen, sie hat ihn vergessen, wieder einmal.

Sein Kopf sinkt tiefer auf die Brust, im Schlaf greifen seine Hände nach der Decke und ziehen sie höher über die kalt werdenden Knie – schlafe weiter, alter Schläfer, morgen ist auch ein Tag: solange Leben da ist, ist Hoffnung. Schlafe!

 

Dorf Unsadel war dunkel und still, als der Schliekersche Wagen über die Dorfstraße klapperte, auch das Tammsche Haus war dunkel und still. Trotzdem hielt Päule.

»Da, nimm die Zügel!« sagte er zu Mali und gab sie ihr in die Hand. Es waren die ersten Worte, die er zu ihr sprach seit ihrem Streit. Er stieg langsam und steif vom Wagen, langsam und steif stieg er die Stufen zur Haustür hoch, dann schlug er mit der Faust dagegen.

»He, August, mach mir mal auf!«

Sofort setzte das wütende, spitze Gekläff eines Hündchens drinnen im Haus ein, ein anderer, größerer Hund bellte laut vom Hof her, und nun hörte Schlieker auch noch einen dritten Hund bellen, auf dem Giebel ... etwas undeutlich, aber ...

Er machte eine rasche, überraschte Bewegung zu seiner Frau: »Hörst du?« – und besann sich.

Wieder lauschte er, schlug von neuem gegen die Tür, rief, pochte – aber der kleine Kläffer im Erdgeschoß übertönte die andern beiden mit seinem spitzen, bösen Keifen. Trotzdem hätte er schwören mögen ...

»Wer ist denn da?!« fragte eine grämliche, ärgerliche Stimme, nahe an seiner linken Schulter. »Brennt's wo?«

»Das nicht«, lachte Päule sofort. »Du kannst gleich wieder schlafen, August. Ich will dir nur was mitbringen aus Kriwitz.«

»Ach, der Schlieker«, sagte die fette Stimme durch den Fensterspalt. »Das hätte schon noch bis morgen Zeit gehabt. Ist es was vom Kaufmann? Na, gib schon her. Ich hol mir sonst noch was, hier am offenen Fenster.«

»Wird schlecht gehen mit dem Hergeben durchs Fenster, August«, sagte Schlieker höhnisch. »Es ist nämlich nur dein Rad, was ich in Kriwitz auf der Straße gefunden habe.«

»Rad –? Was für 'n Rad –? Willst du jetzt mit mir stänkern, Päule?«

»Stänkern? Ich stänkere mit keinem, der mich nicht anstänkert, August. Und du bist gut, das weiß ich, August. Du tust keiner Fliege was, wenn sie sich nicht grade auf dein Essen setzt ...«

»Ich will schlafen«, sagte Tamm kläglich. »Komm endlich raus mit deinem Quatsch, was du wirklich willst.«

»Ich hab's dir doch schon gesagt, August. Ich habe dein Rad in Kriwitz auf der Straße gefunden, dein Fahrrad, verstehst du ...«

»Ich hab doch gar kein Fahrrad, Päule, was du bloß mit mir willst! Denkst du wirklich, ich setze mich mit meinen zweieinhalb Zentnern auf ein Rad –?!«

»Oder das vom Hütefritzen!« schrie Schlieker, dem auch die Geduld riß.

»Hütefritz? Der liegt oben im Giebel und schläft! Wie kann dem sein Rad in Kriwitz sein –?«

»Das frag ich dich, August! Was macht der Hütefritz in der Nacht, August ...?

»Schläft!« kam eine helle Stimme vom Giebelfenster her. Und zugleich blaffte oben ein Hund.

»Da siehst du ...«, fing August Tamm klagend an.

Aber Schlieker rief aufgeregt: »Da! Da war er wieder! Das war Bello! Was macht mein Bello in seiner Kammer?

Ich kenne doch die Schnauze von meinem Hund! Was macht mein Hund in deinem Haus, Tamm?!«

»Nun wird's mir zu dumm, Paula«, schalt Tamm. »Stänkern. Ewig stänkern. Und jetzt noch mitten in der Nacht! Was geht mich dein lausiger Köter an?! Und das mit dem Rad – alles Hirnverbranntheit und Quatsch und ewige Stänkerei! Das kannst du in Biestow tun, da sind sie es wohl so gewöhnt, aber hier bei uns in Unsadel ...«

»Wahr und wahrhaftig, August, es ist dein Rad! ...«

Zu spät, schon schrammt das Fenster zu, und er hat gut gegen die Scheiben trommeln und schreien, nichts rührt sich im Haus mehr. Er muß es aufgeben, steif klettert er wieder die Treppen hinunter, und jetzt klingt ihm von oben, vom Giebelfenster her die helle, freche Jungenstimme nach: »Gute Nacht, Päule! Schlaf auch schön, Päule!«

Und als sei dem Hund plötzlich das zugehaltene Maul freigegeben, bellt der von oben rasend los, sein eigener Hund, das dämliche Vieh, bellt hinter ihm her, als sei er ein Dieb oder Handwerksbursche!

Was ist los? Warum haben sie keine Angst mehr vor ihm? Er steht gut da, besser als je, morgen wird Haussuchung bei dem Erzfeind-Gau gehalten, Strafanzeige wegen Körperverletzung ist erstattet, die Marie muß zurück, nichts liegt gegen ihn vor – und es ist doch vorbei?! Wieso?

Er hat längst die Pferde ausgespannt, längst hat die Frau vom Bett her gerufen: »Komm doch, Päule, leg dich, das kann dir nicht gut sein!«

Er rennt auf und ab, er grübelt. Manchmal schießt es flammend in ihm hoch, die Wut ist da! Dann möchte er los, anbrennen, zerschlagen. Aber die Flammen sinken wieder, eine Stimme flüstert: »Sachte und leise, Päule! Mit Sachte und Leise bist du immer am weitesten gekommen!«

So grübelt er, auf und ab. Die Frau hat ihn gerufen, jetzt scheint sie ruhig zu sein. Schläft sie? Ja, sie schläft wohl, sie hat die Augen geschlossen – sachte und leise, Päule, kein Wort mehr, auch zu ihr nicht!

»Das haben Sie großartig gemacht, Kollege«, sagte der alte Geheimrat Faulmann. »Es war wahrhaftig ein Genuß, Ihnen zu assistieren. Ja, die Jugend, die Jugend –! Wir Alten denken immer, es geht nicht voran. Aber es geht doch voran. Wir sehen es bloß meistens nicht.«

Der junge Doktor Kimmknirsch lächelte dem älteren Kollegen zu. Dann sah er zufrieden auf den Jungen, der, jetzt noch bewußtlos, aber säuberlich verbunden, genäht und ohne alle Knochensplitter in der Wunde wieder auf dem Sofa lag.

»Ja«, sagte er. »Ich denke, so wird es. Er wird nichts davon zurückbehalten. Er braucht wahrhaftig nicht noch zu hinken – er ist schon so genug im Nachteil.«

»Sicher, ganz richtig!« sagte der Ältere bereitwillig. »Und nun?« fragte er dann vorsichtig. »Was werden Sie nun tun? Sie wollen doch aus Ihrer Wohnung kein Lazarett machen? Wie ich Frau Postdirektor Bimm kenne, wäre sie nicht ohne weiteres einverstanden ...«

Und er hüstelte ein wenig spöttisch.

»Ich habe vor«, sagte der junge Arzt, »ihn morgen früh zu Frau Stillfritz zu schaffen. Die hat Betten genug frei.«

»Aber die Kosten!« gab der Geheimrat zu bedenken. »Wer soll denn das alles bezahlen?«

»Das wird sich schon finden«, sagte der junge Arzt kurz. »Ich glaube«, lächelte der andere, »Sie werden schließlich die Kosten nur in der eigenen Tasche finden, lieber Kollege.«

Kimmknirsch zuckte mit der Schulter.

»Nun ja«, sagte der Geheimrat eilig. »Das ist vielleicht für Sie nicht entscheidend. Aber das andere, die Hauptsache: was wird Schulz sagen? Unser lieber Großer Amtsgerichtsrat Schulz? Ich habe Ihnen Verschwiegenheit zugesichert, lieber Kollege, aber glauben Sie doch nur nicht, daß unserm Kriwitz die Stillfritzsche Einquartierung auch nur einen Tag verborgen bleibt.«

»Ich mache natürlich morgen früh sofort Meldung«, sagte der junge Arzt entschlossen. »Aber was auch geschehen ist, jedenfalls ist es eine bodenlose Gemeinheit, Fangeisen gegen Kinder zu stellen.«

»Gewiß, gewiß!« nickte der alte Landarzt. »Sie haben ja so recht. Immerhin sollen da ja richtige Diebstähle und Überfälle vorgekommen sein –?«

»Ich habe dies Mädchen nur einen Augenblick gesehen«, sagte Doktor Kimmknirsch, »aber schon danach halte ich all dies Gerede nur für Gerede.«

»Richtig, vollkommen recht haben Sie!« rief der alte Geheimrat. »Gerede! Bloßes Geschwätz! Aber dieser alte Herr, der so seltsam aufgetaucht und so spurlos wieder verschwunden ist ... Ich würde sehen, daß ich dies Mädchen« – geflüstert mit einem Blick zur Seitentür – »möglichst rasch wieder los würde.«

»Ich werde«, sagte der junge Arzt entschlossener, als er war (denn in diesem Augenblick stand ihm sehr deutlich das Bild des jungen Mädchens vor Augen, mit den zur Brust erhobenen Händen, dem blassen Gesicht und den angstvollen Augen), »... ich werde natürlich morgen früh auch mit ihr reden. Entweder geht sie freiwillig zu ihren Pflegeeltern zurück oder mit mir zu Herrn Schulz.«

»Ausgezeichnet!« rief Geheimrat Faulmann begeistert. »Vollkommen richtig! Dann tragen Sie nicht die geringste Verantwortung! Sehr vorsichtig, sehr besonnen, sehr richtig! – Und nun entschuldigen Sie mich, lieber Kollege, meine Frau wird schon an einen gar zu ausgedehnten Abendschoppen denken. Jedenfalls: tausend Dank und gute Nacht. Bitte, bemühen Sie sich nicht selbst. Ich weiß hier Bescheid. Also auf Wiedersehen, danke, ja ...«

Der junge Arzt war wieder allein in seinem Zimmer. Ein verdrossener Ausdruck lag auf seinem Gesicht, als sei er nicht zufrieden mit sich ...

Er rückte einen Stuhl neben den Patienten, prüfte mechanisch den Puls, griff ein Buch aus dem Regal und setzte sich für eine Nacht- und Krankenwache zurecht.

Aber er schlug das Buch nicht auf, er lauschte, aber er lauschte nicht nach dem Patienten ... Der verdrossene Ausdruck verstärkte sich noch ...

Schließlich stand er auf, öffnete leise die Tür zum Schlafzimmer und trat ein. Horchend stand er im Dunkeln, sacht und regelmäßig gingen die Atemzüge des Mädchens. Er machte ein paar Schritte und schaltete die kleine Nachttischlampe ein.

Da lag sie, fest schlafend, unter der Decke zusammengekrochen wie ein Kind. Sie sah sehr blaß, sehr klein und jämmerlich aus ... »Dann tragen Sie nicht die geringste Verantwortung«, klang es in seinem Ohr. Es mochte hundertmal als Lob gedacht sein – es war kein Lob!

Er bückte sich tiefer über das Gesicht der Schläferin, als wollte er genauer die Spuren der Missetaten entdecken, die ihr nachgesagt wurden.

Aber der Schlaf hatte ihr die hellen, schönen Augen geschlossen, diese untrüglichen Spiegel der Seele, und was er sah, war nur ein blasses, unterernährtes, wahrscheinlich blutarmes Kind.

»Man müßte es mit Lebertran versuchen«, dachte er flüchtig.


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