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20. Kapitel

Worin Rosemarie all ihre Freunde verliert

 

Wir müssen unsere Uhr zurückstellen: in Unsadel ist es an diesem Tage erst früher Nachmittag. Aber die Zeit ist Doktor Kimmknirsch doch sehr lang geworden, seit das feige Ding, die Rosemarie Thürke, entlaufen ist.

»Es ist seltsam«, denkt der junge Arzt, »wie rasch man an einen Menschen glauben lernt und wie schwer und langsam man diesen Glauben wieder aufgibt.« Aber nun hat er es getan, jetzt ist es vorbei. Es hilft nichts, da gibt es keine Entschuldigungen, es ist schmählich, von solcher Kranken fortzulaufen, es ist schmachvoll und feige, das wäscht ihr kein Regen wieder ab. Sie ist erledigt für ihn, er ist durch mit ihr, nun und immer, Schluß.

Die Kranke rührt sich wieder, sie flüstert etwas, er faßt nach ihrem Puls, aber er weiß schon, der Puls ist in Ordnung, es ist etwas anderes. Es ist der Kopf, es ist das Hirn, es ist Angst. Ihr Geist ist abwesend, er wandert, flieht vor diesem Leben, das ihm untragbar schwer erscheint. Es braucht gar nicht verständlich zu sein, was sie flüstert, man hört auch so, um was es geht, und es war auch oft genug verständlich. Kimmknirsch hat dem Mann, wenn er zurückkommt, einiges zu sagen. Brom und Luminal, gewiß, aber vor allem ein Leben ohne Erregungen, ein stilles, vorsichtiges Leben im Windschutz ... Und dabei dieser Mann, diese muffige Höhle –!

Doktor Kimmknirsch – am Anfang seiner Laufbahn – sitzt am Bett der ersten Patientin und kann schon Betrachtungen anstellen, wie weit die Kraft eines Arztes reicht. Luminal und Brom, ein bißchen Beruhigung und Vergessen, aber ein Wort des Mannes wiegt schwerer als der ganze Doktor Kimmknirsch mit all seinem Wissen, all seiner jugendlichen Begeisterung ...

Eine Tür hat geklappt, ein rascher Schritt ist erklungen, Rosemarie steht, rasch atmend, mit geröteten Wangen im Zimmer.

Er sieht zu ihr auf, dann bezwingt er sich und blickt auf die Uhr. »So, sind Sie doch wieder da? Haben Sie es sich noch einmal überlegt? Wollen Sie mich etwa ablösen?«

Unter seinen bösen Worten verändert sich ihr Gesicht wie von einem Schlag, es wird blaß, ihre Lippen öffnen sich, ihre Augen weiten sich. »Ich ...«, flüstert sie.

»Es muß stets einer bei der Kranken bleiben; wenn sie wach wird, ist sie vielleicht nicht ganz bei Bewußtsein. Man weiß nicht, was sie tun wird, jedenfalls darf sie nicht aus dem Bett. Wird sie sehr unruhig, geben Sie ihr gegen Abend noch diese Tabletten. Nicht eher.« Er ist aufgestanden und sieht sie kühl an.

»Herr Doktor«, bittet sie. »Ich hatte solche Angst um den Professor! Ich mußte nach ihm sehen.«

»Soviel ich verstanden habe, ist der Professor ein recht rüstiger Mann, dies hier ist eine Kranke«, antwortete der junge Arzt kühl. »Morgen früh sehe ich wieder nach.«

Er überlegt, aber die Bitterkeit seines Herzens will ihr nicht einmal den härtesten Schlag ersparen: »Kann ich damit rechnen, daß Sie dann noch hier sind, oder werden Sie wieder unterwegs sein?« Er sieht sie böse an.

Sie ist zusammengezuckt unter dem Schlag, aber jetzt ist sie wieder ruhig. Nein, sie ist nicht weichlich, sie wird nicht weich, sie wird hart, wenn man sie schlägt. »Ich kann es noch nicht bestimmt sagen, Herr Doktor«, antwortet sie leise, aber sehr deutlich. »Jedenfalls danke ich Ihnen für alle Freundlichkeit.«

Sie sieht ihn an, sieht ihn an – und wendet sich ab.

Der Doktor Kimmknirsch – sechsundzwanzig Jahre – steht noch einen Augenblick wortlos und geht dann rasch aus der Stube.

Sie bleibt in der Haltung, in der er sie verließ, das blaß gewordene Gesicht gesenkt, und wartet. Es vergeht eine lange, lange Zeit, schon will ihr Herz wieder Hoffnung fassen, schon denkt sie, er ist nicht endgültig gegangen, er wartet draußen auf ein Wort von ihr.

Da ertönt lauter und lauter werdend das Pochen des Motors, nun hört sie das Knirschen beim Einschalten des Getriebes, der Motor singt und stößt, schon ferner, schon leiser ... Sie ist allein. Sie nimmt ihren Mantel, geht in ihre Stube und hängt ihn in den Schrank. Die leeren Fächer sehen sie an, sie denkt flüchtig an das in der Sandgrube versteckte Wäschepaket – sie wird es heute noch holen und einräumen müssen, sie bleibt ja jetzt wieder hier. Zwar hat sie einen entscheidenden Trumpf in der Hand: endlich kann sie dem ungläubigen Amtsgerichtsrat beweisen, daß Schlieker gestohlen hat, diese Pflegschaft ist sie endgültig los – aber was kommt dann? Der Professor, nun gut, der Professor ... Er ist jetzt verschwunden, aber er wird wieder auftauchen, vielleicht wird er sogar bereit sein, hierher zu ziehen. Aber was gestern noch mit Geld und Glück überschimmert war, ist heute grau.

»Ja, und was dann?« fragt die Sechzehnjährige sich zum erstenmal. Es genügen nicht mehr Ruhe und Geborgenheit, nicht mehr freundliche Menschen zum Umgang und ein wieder aufblühender Hof – aber was genügt dann?

Sie schließt die Schranktür und geht in die Küche. Sie hat noch mindestens eine halbe Stunde Zeit, bis Schlieker kommen kann. Sie ist dem mühseligen Geher mit ihren raschen Beinen weit vorausgekommen, aber sie hat auch noch viel zu tun. Sie ist traurig und mutlos, aber ihren Plan führt sie durch.

Sie macht schnell Feuer im kalten Herd, sie setzt Schweinekartoffeln auf, aber sie schält auch Kartoffeln für die Menschen. Sie bereitet alles für eine Speckstippe vor, das genügt als Essen.

Dazwischen geht sie immer wieder zum Fenster und schaut nach Schlieker aus. Sie möchte, daß er ahnungslos in die Küche tritt, daß er, den vollen Bettbezug auf dem Rücken, sie vorfindet; sie hofft, sein schlechtes Gewissen wird dann die Entlarvung leichter machen. Eine kleine Waffe in ihrer Hand, herrenloses Gut, diese Lebensmittel, aber doch eine kleine Waffe!

Die große Waffe, das gestohlene Geld, die kann sie noch nicht anwenden. Sie hat sich alles genau überlegt. Spricht sie schon jetzt davon, wird er behaupten, er hat das Geld nur zur Aufbewahrung und Ablieferung an sich genommen, da es doch in einem offenen Stall lag. Aber in drei, vier Tagen wird er das nicht mehr behaupten können. Listig mußte sie sein, die Falle war gestellt, nun kam es darauf an, daß der Fuchs auch hineinging!

Bei dieser Fuchsfalle fiel ihr unwillkürlich das Schliekersche Eisen an der Hundehütte ein, in das Philipp geraten war. Sie sah wieder den blutigen Fuß, Fallen waren etwas Böses – aber in ihrem Entschluß machte sie das nicht wankend. Es kam darauf an, wer die Fallen stellte!

Nun mußte er bald kommen. Sie spähte noch einmal aus dem Fenster, dann goß sie heißes Wasser in eine Wanne und begann abzuwaschen.

Zwischendurch ging sie einmal rasch zur Kranken. Malis Gesicht war verändert, die Nase stach spitz daraus hervor, das Fleisch um den Mund war eingefallen, die geschlossenen Augen lagen tief in schwärzlichen Höhlen. Ruhelos bewegte sie den Kopf von einer zur andern Seite, dabei flüsterte sie etwas. Rosemarie mußte sich tief niederbeugen, um es zu verstehen.

»Laß uns gehen, laß uns doch gehen, laß uns gehen«, flehte die Kranke.

Rosemarie nahm den ruhelosen Kopf zwischen ihre Hände, er lag still, die Lippen verstummten. Aber kaum zog sie die Hände wieder fort, begannen Ruhelosigkeit und Flüstern von neuem.

Sie kehrte in die Küche zum Abwasch zurück. Mochte es sein, wie es wollte, diese Verwandlung ihrer bösen Feindin, der scharfen, gehässigen Mali, in ein klägliches, hilfloses Geschöpf erschütterte sie.

Rosemarie hielt gerade einen Teller in der Hand, da stand Schlieker wortlos, grußlos in der Küche und sah sie an. Sie hielt den Teller so fest, daß ihre Finger zitterten – oder zitterten sie aus einem anderen Grunde? Er trug das Bündel nicht mehr über der Schulter!

Päule stand da und sah sie an, lange, er weidete sich an ihrem Schreck. »Hat der Doktor dir nicht gesagt, daß du bei der Mali bleiben sollst?! Willst du machen, daß du zu ihr kommst!« schalt er plötzlich. »Du, Marie«, sagte er leise und trat ganz nahe an sie heran. »Bild dir nicht ein, daß du mir jetzt, wo du so feine Freunde hast, auf der Nase tanzen kannst! Ich bin der alte und ich bleibe der alte, verstehst du?!«

Er stand ihr so nahe, das entstellte Gesicht war kaum eine Handbreit von ihr ab, das eine Auge sah sie drohend an, das andere, fast geschlossen, spähte aus seinem Spalt, als grinste es über sie. Sie mußte den Blick senken, er irrte über seine Brust – aus der Innentasche der Joppe sah die Ecke der Geldtasche. Er hatte das Geld noch bei sich! Sie senkte rasch den Blick, um sich nicht zu verraten.

Er sagte unzufrieden: »Der junge Kerl mag erzählen, was er will, ich weiß doch, du hast etwas, du willst etwas. Du bist nicht nur so zurückgekommen ... Sieh mich an ...«

Sie sah ihn an, das böse Auge lohte.

»Marie, merk dir eins: wenn ich hops gehe, gehst du mit hops. Dafür steht dir der Schlieker ...« Er hob die Hände gegen sie, bewegte die Finger wie Krallen, dann legte er ihr die Finger um den Hals. »So halte ich dich, das verstehst du doch, ja? Immer halte ich dich so, den Fingern entgehst du nicht, Marie!«

Die beiden Daumen drückten auf ihren Kehlkopf, leicht, stärker, Rosemarie starrte ihn an. »Nicht schreien«, dachte sie. »Nur nicht schreien«, dachte sie, »er droht ja nur.«

Draußen sang der Motor eines Autos näher und vorbei. »Der Doktor hat ihn abgefangen und ihm alles erzählt«, dachte sie. »Keinen Freund habe ich.« Der Druck wurde fast unerträglich, der Atem fing an, in der Kehle zu rasseln. »Ob er ihm auch gesagt hat, daß ich am Waldhaus war? Dann bin ich verloren!«

»So, nun weißt du Bescheid«, sagte Schlieker, zufrieden mit dem Schreckenausdruck ihres Gesichtes, und ließ sie plötzlich los. »Rein zur Mali! Essen? Heute gibt es kein Essen.«

Leise schlich sie an das Bett der Kranken, setzte sich auf den Stuhl neben sie. Mali lag jetzt still, sie schien zu schlafen. Rosemarie saß neben ihr, unendlich langsam verging die Zeit, unendlich dauerte es, bis die Sonne in die Ecke des Fensters gewandert war. Dann fing sie langsam an, ihr Strahlenbündel über den Fußboden zu breiten ...

Schlieker spukte im Haus, in ihrer Stube, an ihren Stubenfenstern. Leise, leise, auf Strümpfen schlich sich Rosemarie von Zeit zu Zeit an die Tür, spähte und lauschte. Es würde gut sein zu wissen, wo er mit dem Geld blieb, es würde die Haussuchung vereinfachen. Aber er hatte die Joppe schon abgelegt, wirtschaftete in Hemdsärmeln, wer konnte ahnen, wo er das Geld gelassen hatte?

Aber was er jetzt tat, war schon eher zu begreifen. Es war ihm vielleicht sogar recht, daß sie es begriff: ein Riegel außen an ihrer Zimmertür. Jetzt nagelte er derbe Latten vor ihr Fenster. Ein Gefängnis, eine Zelle also ... Nun gut, es würde zwei, drei Tage dauern. Dann war die Zeit herum. Dann würde er sie doch nicht mehr halten können, mit keiner Drohung, keinem Griff. Dann konnte sie dem Amtsgerichtsrat von dem Gelde erzählen.

Als sie von einem dieser Spähgänge zum Bett der Kranken zurückkehrte, sah die ihr mit offenen Augen entgegen. »Was macht er?« fragte sie leise.

»Er vernagelt mein Fenster«, antwortete Rosemarie.

Die Kranke schloß einen Augenblick die Augen. Dann sah sie Rosemarie wieder haßerfüllt an. »Du sollst machen, daß du wegkommst! Du bringst uns nur Unglück.«

Rosemarie antwortete nicht.

»Ruf ihn rein zu mir«, befahl Mali. »Ich will mit ihm sprechen. Unterdes läufst du fort.«

Rosemarie schüttelte den Kopf.

»Doch! Doch! Du mußt! Wenn du gehst, wird alles wieder gut.« Sie brach ab und sah Rosemarie mit bösem Blick an. »Nur Unglück«, flüsterte sie. »Ruf ihn jetzt!«

Rosemarie ging.

»Na, wie gefällt dir das?« höhnte Schlieker. »Glaube nicht, daß du noch mal wegkommst. He –? Was will sie denn? Sie soll warten. Ewiger Weiberquatsch ...«

Aber Mali schrie jetzt so schrill, daß er doch kam.

»Was ist denn? Du hast wohl nicht warten gelernt? Allein? Ich soll sie unterdes melken schicken? – So dumm, daß sie uns wieder wegläuft. Krank, krank? Eure Anstellerei kenne ich. Und den Hanswurst von Doktor dazu!« Er strich sich wütend das Kinn, sah wütend auf Frau und Mädchen. »Was glotzt du, Dumme?!« schrie er plötzlich. »Hast du nicht gehört, daß du melken sollst –? Marsch, los mit dir in den Stall!«

Er ließ sie vorausgehen, einen Augenblick, als sie die Stallpantinen im Vorraum anzog, war sie allein. Dort am Riegel, neben ihrer Melkschürze, hing seine Joppe – sie konnte nicht anders, sie griff hastig danach: die Tasche war leer!

Im gleichen Augenblick kam Schlieker: »Na, wird's bald?« Und er sah nach ihrer Hand, der baumelnden Joppe. »So«, sagte er nur gedehnt, aber sie begriff, daß sie sich schon verraten hatte. Und ganz kurz: »Also komm melken!«

Sie gingen über den Hof, er wie ein Gefangenenwärter hinter ihr drein. Sie trat in den Stall, er blieb auf der Schwelle stehen. Als sie nach dem Melkschemel faßte, hörte sie ihn sagen: »Du brauchst dich nicht zu melden, Marie, wenn du mit Melken fertig bist. Wir haben es mit der Milch nicht so eilig – ich hol dich schon.« Er wandte sich zum Gehen. »Daß du's weißt und dich wüten kannst: Jetzt verbrenne ich die Brieftasche und das Portemonnaie. Dem Geld sieht keiner an, woher es kommt. Gans!«

Er lachte höhnisch und schlug die Tür zu. Sie hörte den Vorstecker klirren, nun war sie gefangen. Sie stand gegen die Futterkiste gelehnt, regungslos, ohne eine Träne. – Vergeblich, alles vergeblich. Sie entrann ihm nicht. Er hatte so recht, sie hatte keine Waffe mehr gegen ihn in Händen, er, der zu allem entschlossen war, war tausendmal stärker als sie. Sie war gefangen, und sie würde immer seine Gefangene bleiben. Vielleicht, in einer endlosen Zeit, die nicht abzusehen war, würden die Herren doch einmal einsehen, daß Schliekers nicht die rechten Pfleger für sie waren – aber dann war es zu spät. Es war jetzt schon zu spät. Es war alles verdorben.

Aus den Gestalten, die um sie gewesen waren in diesen vier Tagen, hob sich am deutlichsten die Figur des alten Professors ab – am deutlichsten und am bedeutendsten. Er hatte recht gehabt, er, der weltunkundige, unbeholfene, lächerliche alte Mann, er von allen allein hatte recht gehabt. Es ging auf dieser Erde doch nur mit der »Wahrheit«! Hätte sie nicht die alberne Idee gehabt, Schlieker zu überlisten, den Fuchs in der Falle des gestohlenen Geldes zu fangen – sie wäre nicht in dieses Haus zurückgekehrt, sie wäre noch frei. Nun war die Falle zugeschnappt, aber sie war die Gefangene!

Lange, lange stand sie so an der Futterkiste, leise kam die Dämmerung. Sie hatte es nicht eilig mit dem Melken, sie wußte ja, er würde sie nicht so bald holen. Die eine Kuh, die andere Kuh, sie drehten den Kopf nach ihr und brummten. »Ich komme, Olsch«, sagte sie, aber sie kam nicht. Morgen vormittag würde der junge Arzt wieder hiersein, doch sie würde ihn nicht sehen dürfen, dafür würde Schlieker schon sorgen. Der Professor würde nach ihr fragen und würde weitergeschickt werden, auf falscher Spur. Blieben noch die Kinder – aber sie schüttelte den Kopf. An einem verletzten Philipp war es genug, insoweit hatte Herr Amtsgerichtsrat Schulz bestimmt recht.

Die Pferde wieherten und kratzten. Sie schlug gedankenlos die Futterkiste auf, tat Häcksel in die Schwinge, dann Hafer und schüttete Futter. Ebenso gedankenlos setzte sie sich unter eine Kuh und fing an zu melken. Endlos lange Zeit verging, die Milch stand in zwei Eimern auf dem Futtergang, aber niemand kam. Nein, sie wollte nicht rufen, trotzdem es jetzt schon ganz dunkel war.

Sie trat unter das Fenster, aus diesem Fenster hatte Frau Mali auf den See hinausgeschrien, dann waren die Anfälle wieder gekommen. In gewissem Sinn war sie, Rosemarie, daran schuld. In dieser verzagten Stunde war sie geneigt, sich selbst alle Schuld an allem zuzuerkennen. Alles war dumm, schlecht, töricht, was sie getan hatte.

Drunten, unter dem Fenster, raschelte es, dann jaulte es leise. Sie wußte sofort, was es war. »Bello«, rief sie halblaut und: »Hütefritz!«

»Bist du da, Rosemarie?« flüsterte er. »Hat er dich eingesperrt?«

»Ja«, flüsterte sie.

»Warum bist du wieder zu ihm gelaufen?« schalt der Junge grimmig. »Hat der feine Affe im Auto dich beredet? Nun sitzt du da – und er ist nobel zurückgetöfft.«

»Ach, Fritze ...«, sagte sie schwach.

»Und der andere, dein alter Professor, ist auch nicht besser«, schalt der Junge weiter. »Maxe hat es eben von der Bahn mitgebracht: Abgefahren nach Berlin ...«

»Der Professor, Fritze –?«

»Wer denn sonst?! Schreischulze hat ihn selbst in den Zug gesetzt. Und nicht mal Geld für die Fahrkarte hat der feine Herr gehabt – großartige Freunde sind das!«

»Lieber Fritz«, bat sie. »Ich bin schon so traurig, und nun ist auch noch der Professor fort ...«

Jetzt war es doch zuviel geworden, das Tränenkrüglein rann über, sie weinte.

»Na ja, ich mußte es dir doch sagen, Rosemarie«, entschuldigte er sich. »Heule man nicht mehr. Ich hol dich schon wieder raus. Ich schleiche jetzt gleich rum auf den Hof ...«

»Höre, Fritz«, sagte sie hastig und verschluckte die Tränen. »Tu es nicht. Bitte nicht. Laß mich drin.«

»Ich soll dich«, fragte er verblüfft, »sitzenlassen?«

»Fritz«, sagte sie flehend, »tu es nicht, ich bitte dich. Er stellt wieder Fallen auf. Oder er schießt, er hat doch eine Flinte.«

»Das soll er mal wagen!« drohte Hütefritz. »Dafür gibt es Kittchen.«

»Dem ist jetzt alles egal, Fritz. Aber es ist nicht nur das. Ich will auch nicht raus. Ich will nicht wieder fortlaufen. Ich will hierbleiben ...«

»Du willst hierbleiben – bei Schliekers?«

»Ja, ja, Fritz, es ist das beste, glaube mir doch.« Sie suchte krampfhaft in ihrem Kopf nach einer Lüge, die ihn überzeugen konnte, denn die Wahrheit würde er nie begreifen. »Es ist ein Plan von Herrn Amtsgerichtsrat, grade dadurch, daß ich hierbleibe, fällt Schlieker rein ...«

»Der Amtsgerichtsrat war hier«, sagte Hütefritz bedenklich. »Er ist eben wieder weggefahren.«

»Siehst du!« rief Rosemarie und verzweifelte dabei vollkommen in ihrem Herzen. Der Amtsgerichtsrat hatte nicht einmal verlangt, sie zu sprechen.

»Das ist sicher wieder so ein studierter Plan«, sagte der Junge mißmutig. »Du fällst bestimmt dabei rein. Jetzt kann ich dich doch rausholen, Rosemarie. Aber dein Zimmer, du solltest mal dein Zimmer sehen, das reine Gefängnis. Ich habe es mir eben von außen besehen ...«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Rosemarie flehend. »Das gehört ja auch zu unserem Plan. – Fritz, lieber Fritz, kannst du denn nicht einmal tun, um was ich dich bitte?! Bleib drei, vier Tage ganz fort – es ist am allerbesten. Vielleicht steht er schon hinter dir, denk an Philipp ...«

Es war, als hätte ihre Warnung ihn gerufen, der Junge schrie auf, der Hund bellte, Schliekers Stimme rief: »Steh oder ich schieße!«

Brechen von Zweigen, eilige, huschende Schritte, Totenstille ...

Atemlos stand Rosemarie unter dem Fenster. Nein, er schoß nicht. Diesmal hatte er wohl sein Gewehr noch nicht mit, er hatte bloß gedroht. Zwei Minuten später klirrte der Vorstecker, und Schlieker stand in der Tür. »Los! Komm!«

Sie nahm schweigend die Milcheimer, ging schweigend über den Hof, er schweigend ihr nach. Kein Wort über den verscheuchten Besuch.

In der Küche hantierte Frau Mali, völlig angezogen, aber bleich, mit gesenkten Augen, wortlos. Es gab sogar ein Abendessen: das Mittagessen, Kartoffeln mit Speckstippe, das Rosemarie vorbereitet hatte, war zum Abendessen geworden. Sie stocherten alle, um den schmutzigen Küchentisch sitzend, in den breiig zergangenen, wässerig schmeckenden Kartoffeln. Die Frau schoß manchmal unter der gesenkten Stirn heimliche, böse Blicke auf den Mann.

Der legte die Gabel hin. »Ein Saufraß«, sagte er. »Natürlich die Marie! Immer die Marie!« Er höhnte schon wieder, ihr bedrücktes Aussehen freute ihn. »Übrigens wollte dich der Amtsgerichtsrat besuchen. Er läßt dich schön grüßen.«

Sie antwortete nicht.

»Was sagst du?!« schrie er, plötzlich wieder zornig. »Er läßt dich grüßen, habe ich gesagt!«

»Danke«, flüsterte Rosemarie.

Schlieker grinste. »Siehst du, Marie, es hat keinen Zweck, bei mir bockbeinig zu sein. Übrigens läßt er dich gar nicht grüßen, er hat eine Sauwut auf dich. Ich habe ihm erzählt, du bist mir wieder fortgelaufen.«

Rosemarie hob den Blick und sah den Mann an.

»Jaha!« lachte Schlieker. »Ich hab ihm erzählt, du bist schon wieder am Vormittag weg zum Waldhaus, zu deinem geliebten alten Schwachkopf – da habe ich doch nicht gelogen, Marie, was?! Immer der alte ehrliche Päule, he –?« Er grinste sie herausfordernd an. »Bist nicht wiedergekommen, habe ich ihm erzählt«, fuhr er prahlerisch fort. »Was er sich gewundert hat, der kleine Schreier, der sich immer so schlau vorkommt. ›Der Professor ist doch nach Berlin gefahren ‹, hat er gesagt. ›Bei dem kann sie doch nicht sein.‹

›Wird sich wohl wieder rumtreiben‹, habe ich gesagt. ›Die Marie ist eine richtige geborene Stromerin, Sie wissen doch, Herr Amtsgerichtsrat, Pastors Kinder und Müllers Vieh gedeihen selten oder nie ...‹

›Aber das Geld!‹ schreit er. ›Sie hat doch das Geld von Herrn Professor in Aufbewahrung!‹ War er aufgeregt! ›Geld?‹ frage ich. ›Geld hat sie, Herr Amtsgerichtsrat? Das paßt ihr grade, dann sehen wir sie die nächste Zeit nicht wieder ...‹

Hat's geglaubt, der Mann, Marie, hat's sofort geglaubt.

›Nichts als Ärger mit der‹, hat er geknurrt, und weg war er.«

Er sah sie höhnisch an. Ihr war es jetzt gleichgültig, ob er sich freute, sie war todestraurig, zwei große Tränen liefen über ihre Wangen, sie bezwang sich nicht.

»Bist traurig, Marie?« höhnte er. »Ist's schade um das schöne Geld, das der Päule hat, und du wirst darum gesucht?? Soll ich's dir noch mal zeigen, daß du daran riechen kannst? Ja? – Gott verdamm mich –!«

Er fuhr zurück, doch zu spät. Die mit aller Kraft geschleuderte Gabel traf noch seine Schulter und blieb zitternd in ihr stecken.

»Was –?« sagte er leise, und die Betroffenheit war so stark, daß sein Zorn noch nicht aufkam. »Was tust du –? Mali –? Du wirfst nach mir? – Du –?!«

Er sah seine Frau fassungslos an, dann mit schrägem Blick hinunter auf die Gabel in der linken Schulter. Die Frau stand weiß, vor Wut zitternd, hinter dem Tisch. »Mach es noch einmal«, flüsterte sie. »Ich tu's wieder. Mach dich noch einmal wild an ihr – jetzt verstehe ich dich, du!«

Er lachte, aber es war ein anderes Lachen als sonst, kein hämisches Schliekerlachen, es klang fast verlegen. »Mich wirfst du, Mali? Mich –?!«

»Und ich tu dir noch ganz anderes!« rief sie plötzlich. »Denkst du, ich seh mir alles so an?!« Plötzlich flehend: »Schick sie weg, Päule, schick sie weg! Gib ihr das Geld – und laß sie noch diese Stunde gehen. Sie bringt uns Unglück ...«

Sie stand rasch atmend, starrte auf Mann und Mädchen.

»Mali ...«, wollte er anfangen.

»Nein, nein!« schrie sie. »Laß uns weggehen! Jetzt, jetzt, noch diese Stunde! Auch das Haus bringt uns Unglück – fühlst du nicht, wie das Dach uns zerdrückt?! Die Balken knirschen, hinter den Wänden raschelt es, Päule! Päule! Laß uns laufen ...«

Er riß mit einem Ruck die Gabel aus der Schulter und trat rasch neben die Frau. »Ein Anfall«, flüsterte er. »Paß auf, Marie, daß sie nicht hinschlägt.«

Aber er brauchte nicht zu flüstern. Sie hörte nicht mehr, wußte nicht mehr, wo sie war. »Er geht nicht«, klagte sie. »Er will es nicht – er kommt nicht los von ihr ...«

Brennende Röte überzog Rosemaries Gesicht, ihr war, als sei sie schwitzig, ihr ganzer Leib brannte ...

»Und das Dach kommt näher, es wird so dunkel, Licht ... Ach ...«, schrie Mali plötzlich mit greller, freudiger Stimme. »Jetzt brennt es! Die Flammen, wie sie spielen, sie laufen durch das Haus ... Päule!« Mit äußerster Kraft: »Päule, es brennt! Unser Unglück verbrennt ...« Sie schrie ganz hoch, im gleichen Augenblick wankte sie ...

»Faß zu!« schrie Schlieker.

Sie fingen sie auf, der Körper war ganz steif, die Hände verkrampft ...

»Laß sie auf die Erde, nein, nichts unter den Kopf, aber ein Handtuch auf die Brust. – Na, nun ist es richtig, jetzt hat sie wieder einen Anfall, den zweiten heute schon ...«

Er starrte. Er war ein ganz anderer Schlieker. »Und was für ein Theater! Wie sie angeben kann – ich hätte es nie gedacht!« Er sah sich scheu um. »Dachte ich doch wahrhaftig einen Augenblick, es brennte. Es brennt doch nicht, Marie?«

»Nein«, sagte sie mühsam, mit leiser Stimme. »Es brennt nicht.«

»Es ist«, sagte er und sah über die Liegende zu dem Mädchen hin, »wahrhaftig so, als ob sie eifersüchtig wäre. Diese alberne Gans – aber es ist nur ihre Krankheit. Lieber würde ich dich totschlagen, als dich einmal anfassen.«

Er sah sie an, in diesem Blick war schon wieder der alte Schlieker, das Grauen war vorbei.

»Wenn du denkst, Marie«, sagte er, »ich geb wegen so ein bißchen Theater klein bei, dann bist du dumm. Ich bin hier und ich bleibe hier, die Mali mag schreien, soviel sie will ... Und du bleibst auch hier ... So, jetzt ist es wohl vorbei. Faß an, wir legen sie auf ihr Bett. Ausziehen tu ich sie später. Stell auch die Tabletten hin, die der Doktor hiergelassen hat. Es hilft zwar nichts, das Dreckzeug, aber Rechnungen können sie schreiben, die Affen! So – und nun gehst du am besten schlafen. Du sollst sehen, wie nett ich es dir gemacht habe. Ja, dein alter Pflegevater scheut keine Arbeit, dich holt mir niemand weg.«

Das Mädchen ging wortlos an ihm vorbei in ihr Zimmer.

»Licht brauchst du wohl nicht? Na schön, ich hätte dir auch keins gegeben ...«

Er stieß den Riegel vor die Tür, daß es klirrte, und entfernte sich schlürfend, hüstelnd und kichernd. Rosemarie stand allein im Dunkeln.


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