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Der Weltkrieg

Zu der Zeit, als ich jene Reise nach dem fernen Osten plante, durfte man wie von einer glücklich erreichten Höhe ausschauen: so viel das deutsche Leben auch an Problemen enthielt, ein weiterer Aufstieg schien in Aussicht. Wir durften hoffen, daß die gemeinsamen Probleme der Menschheit stark genug sein würden, um die Gegensätze der Völker zu überwinden; und zugleich war zu hoffen, daß keine Regierung sich mit der Verantwortung belasten würde, einen furchtbaren Weltkrieg zu entzünden, dessen unermeßliche Folgen außer allem Zweifel waren, gerade zu Beginn des Jahres 1914 schienen sich im besonderen die Beziehungen zwischen Deutschland und England zu bessern. Auch fehlte es in jenen Jahren nicht an Erweisungen gegenseitiger Schätzung, ja Freundschaft zwischen den beiden Hauptvölkern, verschiedene Adressen wurden unterschrieben, welche die Bedeutung eines freundschaftlichen Zusammengehens betonten; die Ehrlichkeit dieses Strebens stand außer Zweifel. Ich selbst aber durfte hoffen, an den gemeinsamen Problemen der Menschheit weiter zu arbeiten und zugleich mein Land zu fördern; von allen Seiten kam man dabei mir freundlich entgegen; ich erwähnte Japan und China, aber auch aus indischen Kreisen kam an mich eine freundliche Einladung, selbst australische Freunde an den dortigen Universitäten hofften mich dort zu sehen.

Daß ich, der ich mit unermüdlichem Eifer für die Verständigung der Völker und für das Zusammengehen bei den großen Lebensfragen wirkte, durch den Ausbruch des Weltkrieges besonders schmerzlich betroffen wurde, das bedarf keiner Erörterung.

Aber es konnte mir in keiner Weise zweifelhaft sein, daß ich meine Stellung bei meinem eignen Volke zu nehmen hatte; das englische Right or Wrong freilich wurde von mir nicht gebilligt, aber ich war und bin fest davon überzeugt, daß das deutsche Volk ein gutes Recht hatte, in den Kampf zu gehen und sich gegen alle Angriffe zu verteidigen. Gewiß war unsere Politik sehr angreifbar, ja ungeschickt, es fehlte unseren Staatsmännern das rechte Augenmaß für das Notwendige und das Mögliche, unsere Politik schwankte zwischen großsprechenden, ja verletzenden Worten und kleinen Taten, auch waren über die besondere Lage hinaus große Verwicklungen in unseren Verhältnissen nicht zu verkennen. Der Hauptzug des Lebens ging bei uns nach der wirtschaftlichen Dichtung; schon das zeigt jedem unbefangenen Beobachter, daß unser Volk nicht kriegslustig war; wer die wirtschaftlichen Interessen voranstellt, der kann keine Freude am Kriege mit seinem zerstörenden Wirken haben. Aber Deutschland mußte schon wegen seiner zentralen und allen Angriffen ausgesetzten Lage stark gerüstet sein; die Frage konnte nur sein, ob die militärische Leistung nicht zu sehr in das innere Staatsgefüge eingriff, auch mußten unerfreuliche Vorgänge wie die in Zabern über Deutschland hinaus einen schlechten Eindruck machen und den Schein einer Militärherrschaft erwecken; ferner war es eine offene Frage, ob eine so starke Vermehrung unserer Flotte zu unserer Selbstverteidigung notwendig war, und ob sie nicht das Mißtrauen Englands erregen mußte; aber dies alles kann nicht die Tatsache verdecken, daß Deutschland und auch die deutsche Regierung den Frieden ehrlich wollte und nur notgedrungen zu den Waffen griff.

Wie aber stand es bei unseren Gegnern?

Die Einkreisungspolitik des Königs Edward wirkte fort, immer von neuem wurde die volle Übereinstimmung von Frankreich und Rußland sowie die gegenseitige Hilfsbereitschaft betont; der Ausbau des russischen Eisenbahnnetzes stand durchaus unter strategischen Gesichtspunkten, selbst die Angriffspläne gegen Deutschland wurden ungeniert erörtert, auch wurde alles Streben Deutschlands, seine Seestellung zu verbessern, mit großer Gehässigkeit gedeutet. Für die Führung des Krieges aber gab es unseren Gegnern ein Übergewicht, daß wir als Volk uns bei aller subjektiven Wärme der Gesinnung geistig nicht genügend mobilisieren konnten. Die Gegner haben geschickt den demokratischen Freiheitsgedanken zu ihren Gunsten aufgerufen; sie hatten daran eine gewisse Idee, die freilich recht flach war und kaum leidlich die selbstischen und materiellen Zwecke verdeckte, aber immerhin hatten sie einen gewissen Richtpunkt, der die Kräfte sammelte. Wie anders hätte sich die Sache gestalten können, wenn wir aus der Tiefe unseres Wesens den deutschen Begriff der echten Freiheit tatkräftig hätten entwickeln und ihn in den Kampf führen können! Einzelne waren in dieser Richtung bemüht, aber eine gemeinsame Bewegung zur Erhöhung war nicht sichtbar, alles Heldentum der Einzelnen konnte dafür keinen vollen Ersatz bieten. Durch den ganzen Verlauf des Krieges ist das seelische Element bei uns nicht genügend gewürdigt, die Wirkung auf den Seelenstand zu wenig beachtet worden. Um so wärmer ist anzuerkennen, was das deutsche Volk trotz jener Hemmungen geleistet hat; es hat Heldentaten verrichtet, die ohne ein Seitenstück in der Geschichte sind.

Der Krieg begann. Auch unsere beiden Söhne zogen willig und freudig in den Krieg. Die Sache der geistigen Führer, der sogenannten Intellektuellen, war es, den Mut zu stärken und für das gute Recht Deutschlands einzutreten. Wir wissen, wie viel Staub die bekannte Adresse aufgewirbelt hat; sie war in der Form wenig glücklich, sie war viel zu dogmatisch und summarisch gehalten. Aber sie hatte im Kern für jeden Unbefangenen ein gutes Recht: war der Krieg von den Gegnern ausgegangen – und darüber ließ schon das Verhalten Rußlands nicht den mindesten Zweifel –, so befand sich Deutschland gegenüber der weit überlegenen Macht der Gegner im Stande der Notwehr; mag der Begriff der Notwehr schon im privaten Leben und mehr noch im Völkerleben voller Probleme sein: darüber kann kein Zweifel bestehen, daß Selbstverteidigung und Notwehr grundverschieden von einer bloßen Eroberungslust sind.

Wie immer es aber mit dieser Frage stehen mag, die Pflicht der Intellektuellen war es, die weiteren Kreise des Volkes ermutigend zu stärken und zu beleben. So habe auch ich es vornehmlich in den ersten Monaten, dann aber durch das ganze Jahr hindurch getan; im ersten Kriegsjahre habe ich etwa 36 Vorträge an verschiedenen Orten gehalten Auch in Pest habe ich 1915 einen schönen, von allgemeiner Begeisterung getragenen Abend erlebt; die ersten Staatsmänner des Landes nahmen an einer mir gegebenen Festtafel teil.; es galt dabei die Bedeutung des deutschen Wesens zu zeigen, bestehende Gefahren aufzudecken, ungezügelte Stimmungen wie wilden Hast einzudämmen. Bei diesen Reden habe ich manche unvergeßliche Eindrücke empfangen, es gab anfänglich keinen Unterschied der Parteien, es galt die Selbsterhaltung des ganzen Volkes. Ich erinnere mich besonders eines Vortrages im großen Rathaussaal von Nürnberg; ich hatte dort vor mehreren Tausenden zu sprechen; da aber auch eine weitere Zahl keinen Platz fand, so habe ich nach einer kurzen Pause eine ähnliche Rede gehalten, die sich bis gegen Mitternacht ausdehnte.

Nun kamen die großen Siege, zunächst in Flandern und bei Tannenberg. Die dadurch gehobene Stimmung erhielt aber bald einen unliebsamen Dämpfer durch den Rückzug an der Marne; er bedeutete einen Schicksalstag, einen dies ater, für das deutsche Volk. Im Grunde war der ganze Krieg schon damals entschieden, denn gelang es nicht, rasch bis nach Paris vorzudringen, so konnten wir auf die Dauer dem ungeheuren Druck der Gegner nicht standhalten. Ich dachte oft an ein Wort, daß mir ein amerikanischer Geschäftsmann sagte: »Wir Amerikaner pflegen, wenn eine Sache nicht gut geht, sie lieber ganz aufzugeben, als stückweise dieses oder jenes zu verbessern, die Deutschen dagegen suchen möglichst das Verlorene zu retten«. Der ganze Verlauf des Krieges brachte uns in eine schwere seelische Lage: einerseits die Sorgen und Aufregungen, andererseits die Hoffnungen und Erwartungen; es war ein vielfacher Wechsel von Glück und Unglück, der die Seelen zermürben mußte. Zugleich die unablässig wachsende Schädigung durch die Blockade mit ihrer Entziehung der notwendigen Lebensmittel; was immer wir den Gegnern antaten, das steht weit zurück hinter der Wirkung jener Aushungerung; die grausamen waren nicht wir, sondern die Gegner. Dazu kamen die fortwährenden Opfer an Menschenleben und an menschlichem Glück, auch die Schmälerung des wirtschaftlichen Wohlstandes. Besonders bedauerlich war die Schädigung und Herabdrückung des Mittelstandes. Im Mittelstand hat sich von jeher die Ausgleichung der verschiedenen Bevölkerungsschichten vollzogen, im besonderen war die Blüte eines aufstrebenden Mittelstandes ein großer Vorzug des deutschen Lebens, Goethe meinte, es gäbe »kein anmutigeres Bild, als den deutschen Mittelstand«. Wie aber steht es damit jetzt?!

Allen solchen Hemmungen und Verlusten hat das deutsche Volk lange Zeit hindurch eine große Tüchtigkeit, Tapferkeit und Ausdauer entgegengesetzt, es hat alle Opfer und Entbehrungen willig ertragen. Einen gewissen Umschlag der Stimmung empfand ich selbst zuerst im Oktober 1916. Wie öfters wurde ich auch damals von der Berliner Urania zu einem öffentlichen Vortrag über die nationalen Fragen eingeladen. Bis dahin waren meine dortigen Vorlesungen übervoll, Manche konnten keinen Platz erhalten. In jenem Oktober aber war das Haus nur halbvoll; das war ein deutliches Zeichen, daß die nationale Begeisterung im Sinken war.

Unabhängig von den Stimmungen habe ich selbst den ganzen Krieg hindurch viele Vorträge gehalten; nach und nach mußten diese ihren Ton etwas verändern, man konnte nicht mehr eine freudige Seelenlage voraussetzen, sondern man hatte frischen Mut einzuflößen, die wankende Stimmung zu befestigen, die Unmöglichkeit einer Verständigung mit den haßerfüllten Gegnern samt ihren schweren Folgen eindringlich vorzuhalten. –

Zugleich habe ich auch literarisch alle Kraft und Mühe daran gesetzt, unser Volk in der Kriegszeit zu fördern. So erschien gleich nach Kriegsausbruch die Abhandlung »Die weltgeschichtliche Bedeutung des deutschen Geistes«, ferner zu Weihnachten 1915 die Schrift »Die Träger des deutschen Idealismus«, die einen großen Erfolg hatte und durch einen geschickten Vertrieb rasch in die Hände vieler Krieger kam (es wurden im Kriege nicht weniger als 30 000 Exemplare abgesetzt); 1917 veröffentlichte ich eine Schrift über die »geistigen Forderungen der Gegenwart«, die rasch drei Auflagen erlebte, weiter sind verschiedene Feldpostausgaben aus meinen »gesammelten Aufsätzen« in mehreren Auflagen erschienen; auch habe ich zu den im Verlage von Hirzel erschienenen »Neutralen Stimmen« (1916) eine größere Anleitung geschrieben, in der ich die Bedeutung dieser »Neutralen Stimmen« erörterte und mich über die damaligen Neutralen aussprach Als dauernd beachtenswert erscheint mir die Abhandlung von Dr.Edwin J.Clapp, Professor der Nationalökonomie an der Universität New York (nach dem Manuskript übersetzt von M.Iklé). Sie ist Ende April 1916 geschrieben, also noch vor dem Ausbruch des Krieges mit Amerika. Seite 32 heißt es dort: »Die meisten unter uns hierzulande betrachten diesen Krieg als einen Wirtschaftskrieg, sowohl seinen Ursachen als auch seiner Führung nach. Für uns ist der Krieg ein solcher zwischen England und Deutschland. Mag seine unmittelbare Ursache gewesen sein, welche sie will ..., hierzulande herrscht allgemein das Gefühl, daß ein Krieg zwischen England und Deutschland im Ratschluß der Götter stand«.

Seite 48: »Der Zweck der englischen Maßnahmen war, Deutschland auszuhungern«.

Seite 49 heißt es inbezug auf die B.St.: »Wir unternahmen niemals irgendwelche ernsten Schritte zur Durchführung der heiligen Pflicht, die Rechte der Vereinigten Staaten und ihrer Bürger zu wahren, wenn England diese Rechte verletzte«.

Seite 53: »Wir bestehen streng auf dem Buchstaben des Gesetzes, wenn es sich um unser Recht handelt, Munition an die Allierten zu verschiffen. Aber wir bestehen weder auf dem Buchstaben noch aus dem Geiste des Gesetzes, wenn es sich darum handelt, Nahrung an die friedlichen Bewohner zu verschiffen«.

Seite 53: »Offensichtlich stehen sowohl unser Volk wie unsere Regierung auf seilen der Alliierten«.

Seite 54: »Zunächst ist es unzweifelhaft, daß der amerikanische Botschafter, Herr Page, die Wahrheit sagte, als er vor einigen Jahren in London äußerte, Amerika werde englisch geleitet und englisch regiert«.

Seite 55: »Unsere Unkenntnis von Deutschland ist ebenso groß gewesen wie unsere Kenntnis von England. – Was wir an Nachrichten über Deutschland erhielten, kam größtenteils über England«.

Seite 58: »Unsere Unkenntnis des Seelenzustandes in Deutschland wurde durch die englische Propaganda ausgenutzt. Die Engländer gaben uns eine Auffassung des Seelenzustandes von Deutschland, wie wir sie nach ihrem Wunsche haben sollten. – In diesen Vorstellungen war das Wort ›Deutschland‹ mit den Begriffen ›Heuchelei‹ und ›Militarismus‹ gleichbedeutend«.

Seite 59: »Das Gesagte mag vielleicht zur Erklärung dafür beitragen, weshalb die Regierung der Vereinigten Staaten in diesem Kriege eine halbneutrale Haltung angenommen hat, eine Haltung, die verlangt, daß die eine der kriegführenden Parteien den Buchstaben des Gesetzes beobachtet, während sie der anderen Partei gestattet, sowohl den Buchstaben als den Geist des Gesetzes zu verletzen. Mehr als die Hälfte des Volkes hierzulande, und anscheinend auch die Regierung in Washington, betrachtet die Alliierten als die Kämpfer für Demokratie und Freiheit gegen die Gewalten der Heuchelei und der grausamen Herrschsucht«.

Dies alles muß erwägen, wer die Wendung Amerikas zum Kriege verstehen will; man war uns Deutschen von vornherein feindselig gesinnt und man konnte sich nicht in unsere Lage versetzen.
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So sehr ich aber das gute Recht meines Volkes verteidigte, so entschieden habe ich es mißbilligt, die geistigen Leistungen unserer Gegner zu schmähen und zu erniedrigen. Während des Krieges habe ich in meinen philosophischen Übungen sowohl die Bedeutung der französischen Philosophie als die der englischen in ihren Hauptwerken zusammenhängend behandelt; keiner der Teilnehmer hat davon etwas gemerkt, daß wir politisch in einem harten Kampfe mit jenen Völkern standen.

Endlich habe ich inmitten der Aufregungen des Krieges mein systematisches Hauptwerk »Mensch und Welt« zum Abschluß gebracht, auch verschiedene neue Auflagen memer Bücher herausgegeben.

Auch des Ausbruches des Krieges mit Amerika muß ich mit einigen Worten gedenken. Das Benehmen Amerikas war mir und vielen von uns eine große Enttäuschung; wir waren anfänglich überzeugt, daß wenigstens die akademischen Kreise ein volles Verständnis für die deutsche Lage hätten; Haeckel und ich haben gemeinsam ein Schreiben an die amerikanischen Universitäten zugunsten der deutschen Auffassung gerichtet. Bald aber hörten wir, daß die Stimmung, wenige Ausnahmen abgerechnet, gegen uns war. Ich kann noch immer die Hoffnung nicht aufgeben, daß schließlich die geistig führenden Kreise sich von der sklavischen Abhängigkeit von der englischen Denkweise befreien und eigne Wege einschlagen werden. Dann werden sie auch uns Deutsche gerechter würdigen. Dem tatsächlichen Ausbruch des Krieges mit Amerika habe ich von Anfang an mit schweren Bedenken gegenüber gestanden; für mich war Amerika nicht ein fremdes Land, ich kannte zu gut seine unbegrenzten Hilfsmittel und auch die Energie, welche dieses Volk an eine einmal ergriffene, wenn auch zu Unrecht ergriffene, Sache zu setzen pflegt, um nicht große Schädigungen Deutschlands befürchten zu müssen. Zunächst schien es ja nicht so gefährlich, aber immer mehr verstärkte sich der Druck; ohne das Eingreifen Amerikas wären wir schwerlich unterlegen.

Inzwischen war die große Wendung am 19.Juli 1917 durch den bedauerlichen Reichstagsbeschluß erfolgt. Die hier getroffene Entscheidung mit ihrem kindlichen Vertrauen auf die edle Gesinnung der Gegner und mit ihrer grenzenlosen Unkenntnis menschlicher Seelenlagen mußte die Kraft und den Mut des Volkes lähmen; das war für Deutschland der zweite Unglückstag, der zweite dies ater, nach den Unglückstagen an der Marne. Trotzdem flackerte 1918 noch einmal die Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang auf. Auch die intellektuellen Kräfte wurden nun zu höchster Anspannung aufgeboten; ich selbst wurde in jenen Monaten mit einer großen Fülle von Einladungen aus dem Osten und Westen bedacht. Ich mußte mich zwischen diesen Aufforderungen entscheiden und habe mich für Brüssel entschlossen, wohin ich mit einer größeren Zahl deutscher Professoren berufen war. Ich habe dort in dem glänzenden Saal des belgischen Senats fast Tag für Tag gesprochen, auf besonderen Wunsch der Militärbehörde auch einmal zur gesamten Garnison Brüssels. Von diesen Soldaten erhielt ich vortreffliche Eindrücke; die Unteroffiziere haben mich liebenswürdig aufgenommen, mir alle Einrichtungen gezeigt, sie wollten mich in jeder Weise erfreuen. Merkwürdig war es aber, daß in den Ofsizierskreisen keine Ahnung von einer inneren Gefahr vorhanden schien. Wiederholt habe ich mit Offizieren über die Aussichten und über den seelischen Stand unseres Volkes gesprochen, aber ich erhielt von jenen nur beruhigende Eindrücke: die Soldaten seien vortrefflich, die Waffen seien den anderen überlegen, neue Abwehrmittel seien in Vorbereitung; wohl betrachtete man die Sache als ernst, aber man war guten Mutes. Die Brüsseler Eindrücke waren für uns durchaus angenehm, wir Professoren bildeten einen Freundeskreis, den die gemeinsame Aufgabe eng verband. Wohltuend berührte auch das freundschaftliche Zusammengehen der katholischen und der protestantischen Gelehrten. Die gemeinsame Aufgabe des Vaterlandes hielt alle eng zusammen.

Voll solcher Eindrücke kehrte ich im April 1918 nach Jena zurück. Aber nun empfing mich hier eine recht trübe Nachricht, die Nachricht von einer ernstlichen Verwundung unseres lieben künftigen Schwiegersohnes Walt Jäger. Wir hatten diese Nachricht zunächst nicht für so schlimm gehalten, ja sogar gehofft, er würde zur vollen Heilung nach Jena kommen. Nun aber verschlimmerte sich sein Zustand, es war eine Knieverletzung, die von den Arzten immer für recht ernst angesehen wird. Nach einer Anzahl von Tagen ist er zur ewigen Ruhe entschlafen. Er war das einzige Kind und der Stolz seiner Eltern, die alle Fürsorge und alle Mittel daran gesetzt hatten, ihm eine volle künstlerische Ausbildung zu geben; bei aller Tüchtigkeit seiner Allgemeinbildung, die er bis zur Universität fortsetzte, war nämlich seine Neigung und sein Streben ganz und gar der Musik zugewandt. Er hat volle drei Jahre in Brüssel studiert und dort einen großen Preis als Pianist erhalten. Auch als Komponist hatte er sich schon in hervorragender Weise betätigt. Die Beziehung zu meiner Tochter ging ebenfalls von der Musik aus. Eine Reihe von Jahren war diese Beziehung überwiegend künstlerisch, dann aber fanden unter den Gefahren des Krieges sich die jungen Seelen zusammen; sie lebten in der Hoffnung, bald zu heiraten und ein eigenes Heim zu begründen. Eine Unzahl von Konzerten haben die beiden gemeinsam gegeben, so z.B. in Hannover und Bremen. Die dortigen Freunde wie die dortigen Zeitungen waren entzückt von dem künstlerischen Zusammenwirken, das hier in Gesang und Begleitung geboten wurde. Man hätte, so meinten jene, in dem Künstlerischen unmittelbar auch die seelische Einheit des Zusammenklingens in wohltuender, ja ergreifender Weise erfahren. Nun kam der Tod des Mannes, der durch die ganzen Kriegsjahre hindurch die lauterste und tapferste Gesinnung bewiesen hatte; wir aber mußten uns damit begnügen, sein Andenken zu pflegen und seine Bestattung in Jena in würdiger Weise auszuführen. Das ist nur ein einzelner Fall von unzähligen anderen, aber in ihm spiegelt sich ein gemeinsames Schicksal: nie hat ein Krieg so tief in die persönlichen Verhältnisse eingegriffen, nie so viel Lebensgedeihen geknickt.

Es widerstrebt mir, den weiteren Fortgang des Krieges zu verfolgen und dem kläglichen Zusammenbruch der deutschen Macht und des deutschen Willens nachzugehen. Das war wohl der traurigste Augenblick der ganzen deutschen Geschichte, als ein Teil des deutschen Volkes sich selbst untreu wurde und alles Gefühl für Scham und Ehre ablegte. Schweigen wir lieber von diesen traurigen Vorgängen, sie haben das deutsche Leben um weite Zeiten zurückgeworfen.


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