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Das Auricher Gymnasium hatte seine ersten Anfänge in der Reformationszeit, aber damals versah ein einziger klassisch gebildeter Lehrer den ganzen Unterricht. 1646 wurde eine größere Organisation eingeführt, seitdem trägt das Gymnasium den Namen »Ulrich-Schule«. Deutlich waren noch die alten Titel. An der Spitze stand früher der Rektor, dann ein Konrektor, ein Subrektor, ein Kollaborator, schließlich der Kantor. Eine weitere Entwicklung hat der Verlauf des 19. Jahrhunderts gebracht. Es hatte damals Ostfriesland nur zwei volle Gymnasien, während Norden und Leer nur Progymnasien hatten. Das Auricher Gymnasium wurde einerseits von den Söhnen der Auricher Kreise, andererseits von den Söhnen der Gutsbesitzer, Geistlichen usw. besucht. Es ergab sich daraus eine große Verschiedenheit der Altersklassen, die auswärtigen Schüler waren durchgängig erheblich älter. Sie pflegten in Bürgerfamilien zu wohnen und hatten eine Lebensführung, die sehr nahe an das studentische Leben grenzte. Auch darin bestand ein Unterschied, daß diese Auswärtigen meist niederdeutsch, plattdeutsch, sprachen, während wir Auricher in unseren Häusern hochdeutsch sprachen, natürlich bei voller Beherrschung auch des Niederdeutschen. Dieses Vorwiegen des Niederdeutschen hatte gute Gründe; ich möchte die jetzt vordringende Bewegung zum Niederdeutschen nicht bekämpfen. Aber wir Auricher empfanden doch auch sehr den Mißstand, daß die deutsche, namentlich unsere klassische Kultur leicht wie etwas Fremdes erschien; so war Goethe den plattdeutsch sprechenden Knaben schwer zugänglich. Auch die Wortwahl war durch diese Scheidung von Hoch- und Niederdeutsch sehr beschränkt. Es fehlte, wie überhaupt dem norddeutschen Leben, der lebendige Zustrom aus der Volkssprache. Wir alle, die wir im niederdeutschen Leben standen, haben im geistigen Schaffen mit der Gefahr einer abstrakten Sprache und Denkweise zu kämpfen. Wir können diese Gefahr bekämpfen, aber es fordert das volle Energie und bewußte Arbeit. Ich selbst habe einmal meinen Mitschülern vorgeschlagen, wir möchten in der Schule uns untereinander des Hochdeutschen bedienen, um jene Kluft zu überwinden. Die Mehrzahl der Kameraden trat anfänglich meiner Aufforderung bei, aber eine Minderzahl hielt fest am Niederdeutschen, Tag für Tag gewann diese Minderzahl an Boden und schließlich den Sieg. Es erklärt sich das leicht aus der frischen und knappen, dabei traulichen Art, die das Niederdeutsche besitzt. Manche Redensarten und Lieblingswendungen sind kaum hochdeutsch wiederzugeben. Auch ich selbst verwende sie im häuslichen Leben gern.
Wenden wir uns von den Schülern zu den Lehrern. Sie waren früher überwiegend Theologen, die eigentliche Philologie hat erst im Laufe des 19. Jahrhunderts die volle Herrschaft erlangt. Die Lehrer waren mehr Erzieher als Gelehrte, aber sie setzten ihre beste Kraft an die Sache, und sie traten in ein enges seelisches Verhältnis zu den einzelnen Schülern. Das Technische trat zurück vor dem Praktisch-Moralischen. Gewisse Mängel waren unverkennbar. Die einzelnen Leistungen griffen viel weniger ineinander, als es jetzt gefordert wird. Es wurde z. B. die Wahl der Lehrbücher zum guten Teil den einzelnen Lehrern überlassen. Auch wurde uns wenig künstlerische Anschauung geboten; wir erhielten z. B. kein genügendes Bild von den klassischen Stätten des antiken Lebens. Aber alle diese Mängel überwog der Vorteil einer selbständigen und eigentümlichen Entwicklung. Jeder konnte seine eigene Art entfalten, und man hatte genügende Zeit, seinen besonderen Interessen nachzugehen. Es herrschte noch nicht die unglückselige Einrichtung des sogenannten Freiwilligen-Examens. Sie hat den Stand der höheren Schulen aufs schwerste geschädigt; die militärischen und die bureaukratischen Interessen überwogen dabei die der geistigen und seelischen Entwicklung; namentlich die mittleren Klassen haben sehr darunter gelitten. Hannover und Ostfriesland kannten damals jene unglückliche Einrichtung nicht.
Wir alle, welche wir jenes Gymnasium besucht haben, bewahren den dortigen Lehrern und der dort herrschenden Denkweise eine aufrichtige Dankbarkeit. Es kann Fremde nicht interessieren, wenn ich das Bild der einzelnen Lehrer zeichne; ich möchte nur hervorheben, was charakteristisch war. Direktor war Rothert, ein Westfale, der von der Studienzeit her der Burschenschaft eine treue Anhänglichkeit bewahrte. Er hat die Leitung dieses Gymnasiums in tüchtiger Weise geführt und gute Disziplin gehalten. Er führte uns im griechischen Unterricht rasch zur Lektüre der Odyssee und hat uns dadurch unvergeßliche Eindrücke geboten. Unter den anderen Lehrern zolle ich Dank und freundschaftliche Gesinnung dem Konrektor Ruprecht. Er war der erste, der sich mit besonderer Wärme meiner geistigen Entwicklung annahm und es durchsetzte, daß ich eine Klasse, die Obertertia, übersprang. Leider hat später ein zunehmendes Ohrenleiden seine Lehrtätigkeit vorzeitig gehemmt, aber dauernd bin ich mit ihm in freundschaftlicher Korrespondenz geblieben. Der spätere Direktor Volkmar führte uns Primaner geschmackvoll und feinsinnig in Meisterwerke der antiken Literatur ein, der Konrektor Funck ließ uns die französische Literatur schätzen, der Konrektor Möhring förderte meine mathematischen Neigungen. Bei weitem den stärksten Einfluß aber hatte der Rektor Wilhelm Reuter, welcher Klassenlehrer der Sekunda war und sowohl durch den Religionsunterricht als durch den deutschen Unterricht in den beiden oberen Klassen mit außerordentlicher Tiefe und Wärme auf die Seelen wirkte. Er war von Haus aus mehr Theologe als Philologe, aber er war auch als Philosoph ausgebildet und hatte sich namentlich gründlich mit Hegel und mit Krause beschäftigt. Der Kern seines Lebens aber lag in einem tiefen religiösen und moralischen Wirken auf die Gemüter, er setzte seine ganze Persönlichkeit dafür ein und gab sich eine unsägliche Mühe mit jedem einzelnen, um ihn nicht bloß intellektuell, sondern geistig und namentlich moralisch zu bilden. Er war
jeden Augenblick bereit, auf die Interessen jedes Schülers einzugehen und auch ein sprödes Material unverdrossen zu bilden. Namentlich in der Behandlung der Aufsätze hat er unermüdlich gewirkt. Er hat nicht selten verschiedene Aufsatzthemen je nach der Art und Fassungskraft der Schüler gestellt. Oft hat er mir allein ein besonderes Thema aufgegeben, um meinen philosophischen Interessen entgegenzukommen. Dabei stand ich bei höchster Hochachtung für Reuter in einem gewissen Gegensatz zun ihm. Er war, wenn auch in keiner Weise fanatisch, so doch ein strenggläubiger Lutheraner. Ich aber war sowohl durch die Zusammenhänge meiner Familie als durch meine eigenen Eindrücke freigesinnt. Nun suchte er alles in mir zu erwecken, was mich nach seiner Überzeugung auf den rechten Weg führen könnte. Er hat oft mit mir über diese Fragen gesprochen und dabei nie die Autorität des Lehrers, sondern das Recht der Sache eingesetzt. Der bloßen Aufklärung war ich bei aller freien Gesinnung von früh an fremd, aber ich verdanke Reuter, daß ich die schroffen Gegensätze des Lebens und des geistigen Bestandes der Seele von Jugend auf durchschauen konnte und dadurch in der Hauptrichtung meines eigenen Strebens bestärkt wurde. Natürlich blieb ich Reuter dauernd verbunden, wir haben regelmäßig miteinander korrespondiert
Veröffentlicht hat meines Wissens Reuter nur eine kleine Schrift »Lessings Erziehung des Menschengeschlechts. Darlegung des Gehaltes und des Zweckes« (1881, 80 Seiten).
Bemerkensmert ist die enge Beziehung Reuters mit unserem großen Juristen Ihering. Wie sehr dieser Reuter schätzte, zeigt ein Jugendbrief vom 17. Dezember 1840, in welchem Ihering schreibt: »Ich werde es stets anerkennen, welch' einen wohltätigen Einfluß Sie auf mein Leben gehabt haben, indem Sie nicht nur den Sinn für Wissenschaft in mir erweckten, sondern mir auch die Verfolgung meiner jetzigen Laufbahn so sehr erleichterten«.
Ich selbst habe in den Ostfriefischen Monatsblättern 1881 meiner dankbaren Schätzung Reuters in kurzen Worten Ausdruck gegeben (S. 193–198).. Als ich ihn zuletzt sah, hat er bitterlich geweint.
Sehr bedauerlich, ja empörend war es, daß der tiefinnerliche und ganz und gar auf seine seelenbildende Arbeit gerichtete Lehrer zum Schluß seines Lebens in politische Konflikte geriet und dabei eine Behandlung erfuhr, die uns Ostfriesen empörte. Reuter stammte aus Hildesheim und fühlte sich als Althannoveraner. Nun kam die Annexion 1866; diese Annexion mit der Entthronung des Königs widersprach seinem moralischen Empfinden, und wie er nie aus seiner Überzeugung Hehl machte, so hat er wahrscheinlich auch zu den Schülern darüber gesprochen. Nun müssen irgendwelche nichtostfriesische Schüler ihren Eltern davon erzählt haben, wahrscheinlich hat sich auch Klatsch daran geknüpft; kurz es wurde eine peinliche Untersuchung auf Amtsentsetzung des Mannes eingeleitet, die alle Instanzen beschäftigte. Die Ostfriesen, welche ihn durch die ganze Reihe der Jahre als einen politisch durchaus harmlosen Mann kannten und seine einzigartigen Verdienste vollauf anerkannten, waren erbittert über diese Behandlung ihres hochverehrten Lehrers. Sie haben alles mögliche getan, ihrer Hochschätzung Ausdruck zu geben und haben sich auch mit eindringendsten Vorstellungen an die höchsten Behörden gewandt. Schließlich war das Ergebnis nicht so schlimm, wie es zu Anfang dünkte. Aber Reuter wurde in den Ruhestand versetzt und verlor, soviel ich weiß, auch einen Teil seiner bescheidenen Einnahme. Dieser Fall ist charakteristisch für die bureaukratische Art, die Deutschland wie ein dichtes Gewebe umsponnen hat. Diese Bureaukratie hat kein Augenmaß für groß und klein, sie denkt in starren Schablonen und kann sich in keiner Weise in eine fremde Denkart versetzen sowie kein Recht einer Individualität würdigen. Wir erleben auch bis zur Gegenwart Glanzstücke dessen. Aurich hatte in Reuter einen Lehrer von Gottes Gnaden, der sein ganzes Leben dieser einen Sache widmete. Ganze Generationen hat er gebildet und geistig emporgehoben, und nun genügte ein, vielleicht unbesonnenes und unkluges Wort, um die Lebenstätigkeit eines solchen Mannes schwer zu hemmen.