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Schluß der Gymnasialzeit

Meine Gymnasialzeit nahte sich nunmehr ihrem Ende. Meine Mutter und ich selbst durften freier an die Zukunft denken, wir fühlten uns gehoben im Ausmalen schöner Pläne. Das letzte Schuljahr brachte mir verschiedene anziehende Aufgaben. Ich habe verschiedene Kadetten in der Mathematik ausgebildet, dann erhielt ich durch Reuter und mit Zustimmung des Gymnasialdirektors einen eigentümlichen Auftrag: ich sollte einen jungen Kaufmann, der zum akademischen Studium übergehen wollte, zum Abgangsexamen vorbereiten. An erster Stelle galt es, den deutschen Aufsatz auf die Höhe zu bringen, dann aber auch klassische Studien mit ihm zu treiben. Es war das für mich, der ich damals 16 Jahre alt war, eine nicht geringe Aufgabe, aber die Sache hat sich sehr nach Wunsch gestaltet. In einem schattigen Garten am Kanal, welcher jener Familie gehörte, konnten wir ungestört unsere Studien treiben und uns zugleich behaglich erholen. Die Sache gelang vollauf, und jener hat das Examen wohl bestanden; leider ist er aber bald gestorben. Auch weitere wissenschaftliche Aufgaben kamen an mich: ich sollte auf Anregung Reuters eine philosophische Erörterung über Ciceros Tusculanen liefern, im besonderen das zweite Buch dieser Schrift sowohl philologisch als philosophisch durcharbeiten und diese Arbeit gewissermaßen als Zeugnis meiner Leistungen dem Gymnasium einreichen. Das habe ich am 27. Februar 1863 getan. Reuter hat sie eingehend beurteilt. Am wenigsten genügte nach seiner Überzeugung meine Darstellung; auch könne man, so meinte er, in den philosophischen Darlegungen leicht Widersprüche finden, wenn man bloß auf die Worte sähe und nicht dem Gedankenzusammenhang ergänzend zu Hilfe komme. Im ganzen jedoch bezeichnete Reuter diese Arbeit als »geeignet, von Euckens Leistungsfähigkeit die schönsten Hoffnungen zu geben«. Mitten unter diese Arbeiten und Pläne kam aber im Winter 1862 eine recht schwere Masernkrankheit, die mir hohes Fieber brachte und durch Monate hindurch mich geschwächt hat. Sobald meine Genesung in sicherem Zuge war, hat Reuter mich in meinem Hause besucht und die notwendigen Aufgaben mit mir durchgesprochen. So konnte ich doch schließlich die Sache glücklich zu Ende führen. Am Ende des Jahres 1862 war ich selbst und war auch meine Mutter in gehobener Stimmung, das Ziel lag nun deutlich vor Augen; es war uns feierlich zumute, als der Glockenschlag die erste Stunde des neuen Jahres verkündete. Die stille Zeit der Vorbereitung ging zu Ende, nun galt es alle Kraft aufzubieten. Von der Universität erwartete ich das Allergrößte: einen neuen Lebensstand. Ich konnte gar nicht die Zeit erwarten, in der es mir möglich wäre, selbständig zu den tiefsten Quellen des Erkennens vorzudringen und meinen eigenen Weg zu gehen. Alle Sorge schien hinter uns zu liegen, eine schöne Zukunft sich uns zu eröffnen. Inzwischen war über die Wahl meines Studiums eine genügende Klarheit gekommen. Mein Hauptziel war die Philosophie, ich hoffte im Laufe der Zeit darin eine akademische Stellung erreichen zu können. Aber zugleich wollte ich mich auch den philologischen und historischen Fächern widmen, einerseits aus äußeren Gründen, um meiner Mutter und mir eine sichere Lebensstellung zu geben, aber darüber hinaus auch aus einem lebhaften Interesse für das Altertum, im besonderen für seine Denker, und für die Geschichte, die mich ebenfalls lebhaft anzog. So habe ich mit gutem Mut die schriftliche und mündliche Prüfung bestanden und durfte frohen und dankbaren Sinnes vom Gymnasium und von den Lehrern scheiden.

Nun aber war ein schwerer Entschluß zu fassen: es galt zu entscheiden, ob ich mich von meiner Mutter trennen oder ob sie mich zur Universität begleiten sollte. Verschiedene Freunde hatten Bedenken gegen ein Aufgeben der Heimat, manche fürchteten auch, das Zusammenleben würde mich einengen und von einer Verbindung mit den Studiengenossen abhalten. Nun war aber meine Mutter selbst aufs eifrigste bestrebt, mich in einen engen Zusammenhang mit meinen Freunden und überhaupt mit der Umgebung zu bringen. Ich sollte nach ihrem Plane mich möglichst in allen Künsten und Fertigkeiten ausbilden, eifrig Schlittschuhlaufen treiben, auch Tanzstunden nehmen, die mir wenig angenehm waren; nur die Musik war mir eine rechte Freude. Auch die äußeren Umgangsformen sollten nicht vernachlässigt werden. Kurz, sie wirkte meinem Streben nach Philosophieren, Grübeln, Einsamkeit mit besten Kräften entgegen, ihren Bemühungen war es vornehmlich zu verdanken, daß ich nicht ein einseitiger Gelehrter wurde. So war von dieser Seite aus für ein Zusammenleben keine Gefahr zu befürchten. Auch während der Universitätsjahre hat sie unermüdlich gewirkt, meine Beziehungen zur Umgebung auszubilden; manchen Freunden wurde unser bescheidenes Heim lieb und wert.

War aber der Entschluß für eine Trennung von Ostfriesland gefaßt, so mußten wir uns auch von unserem Haus trennen, und es wurde zugleich der Entschluß gefaßt, den Hauptteil unserer Möbel zu verkaufen. Die Trennung von der Stätte, an der ich meine Jugend verlebte, ist mir nicht leicht gefallen. Auch war es mir schmerzlich, daß manche Lieblingsstücke unseres Hausgerätes unter den Hammer kamen. Aber wir konnten unmöglich den ganzen Hausrat in die weite Welt mitnehmen. So wurde nur ein Teil verpackt und nach Göttingen gesandt. Was immer aber dieser Abschied von der Heimat an Nachteilen brachte, das wurde weit überwogen durch die Aussicht, in ein weiteres, freieres, reicheres Leben zu kommen. Ich war bei jener Wendung zugleich ernst und freudig gestimmt, ich hatte den Glauben und die Zuversicht einer aufstrebenden Jugend, und was noch wichtiger war: ich trug in mir selbst eine feste Hauptrichtung, die ich durch mein ganzes Leben festhalten konnte. Schon damals bewegte sich mein Leben und Streben um zwei Pole, dieser Unterschied, ja Gegensatz, gab meinem Streben einen Antrieb und eine Aufgabe: Einerseits beherrschten mich die großen Probleme der Religion und einer ihr eng verbundenen Moral; von hier aus suchte ich eine feste Konzentration meines Strebens und Lebens. Andererseits aber trieb mich die Sehnsucht nach mehr Weite und Freiheit des Kulturlebens, das Verlangen nach einem klareren Erkennen und nach mehr künstlerischem Gestalten. Eine Verbindung dieser beiden Antriebe, das war der Grundzug meines Strebens; beides miteinander sollte einer Lebenserhöhung dienen, und es durchdrang mich ein zuversichtlicher Glaube, nach dieser Richtung etwas leisten zu können. Alles nähere mußte sich allmählich weiterbilden, aber gegen einen verneinenden Zweifel war ich gesichert. Diesen Bestrebungen konnte ich aber nicht nachgehen ohne eine innere Kluft mit meiner Heimat und dem von ihr gebotenen Leben zu empfinden. Das Leben dort hatte einen festen Boden, und es war im Kerne tüchtig, aber es hatte keine Probleme des ganzen Menschen, wie sie mich von Jugend auf bewegten, es verwandelte das Dasein zu wenig in volle Selbsttätigkeit. Von diesem Lebensproblem aus mußte ich auch die Unzulänglichkeit der dort gebotenen Religion stark empfinden. Man ließ sich die Religion willig gefallen, man flüchtete sich in trüben Tagen zu ihr, aber man hatte kein dauerndes inneres Verhältnis zu ihr, man hatte kein starkes Verlangen nach ihr. Dazu stand mir der schroffe Gegensatz des modernen Kulturlebens mit seiner unbedingten Lebensbejahung und der christlichen Lebensverneinung mit klaren Zügen vor Augen. Dabei bleibe ich durch mein ganzes Leben meiner Heimat aufrichtig dankbar für die stille Ruhe, die ungestörte Entwicklung meiner Kräfte, auch für manche persönliche Anregungen, aber die Hauptrichtung meines Weges mußte ich selbst suchen, und ich habe sie nicht ohne manche Mühe gefunden.

In solcher Stimmung habe ich die Reise nach Göttingen in Begleitung eines Auricher Studiengenossen angetreten. Meine Mutter folgte mir einige Wochen später. Durch freundschaftliche Vermittlung war eine kleine Etage am Markt in Göttingen für uns gemietet. Mit großer innerer Erregung habe ich diese Reise begonnen. Am frühen Morgen mußten wir zunächst auf der Post von Aurich nach Emden fahren, um die Eisenbahn zu erreichen. Es war mir eine große Freude, von den damals entsetzlichen Landstraßen durch die Eisenbahn befreit zu werden; ich segnete in Gedanken das Andenken des Erfinders. In Emden empfingen mich neue Eindrücke. Ältere Studenten begleiteten uns. Über die Einrichtung der Studien wurde eifrig gesprochen, ich muß dabei einen sehr naiven Eindruck gemacht haben. Ich wollte womöglich alle Hauptgebiete erfassen und namentlich eine zusammenfassende Weltanschauung entwickeln. Jene Freunde hatten gute Gründe, mir davon abzuraten; sie meinten mit Recht, nur in einer Wissenschaft könne man die Methoden beherrschen, in den anderen müsse das Ergebnis genügen. Aber mir erschien das als zu klein und zu eng. Noch mehr werden sich meine Reisegenossen amüsiert haben über die Naivität, womit ich die Natureindrücke auf mich wirken ließ. Jeder Berg erschien mir als etwas Besonderes und Großes, ich wollte womöglich auch die einzelnen Namen genau wissen; dabei hatte ich keine Ahnung von der Höhe der Berge, kurz ich empfing die buntesten Eindrücke. Eine neue Welt empfing mich. Von Emden aus fuhren wir über Osnabrück und Minden nach Hannover, blieben einen Tag dort und kamen dann nach Göttingen. Nach Göttingen zog mich Mannigfaches. Es fehlte nicht an persönlichen Beziehungen; für uns Ostfriesen war damals Göttingen die nächste Universität. Dabei erfreute sich jene Universität eines großes Ruhmes und einer ausgezeichneten Lehrerschaft. In allen Fakultäten wirkten Forscher und Gelehrte ersten Ranges. Die Universität war damals von etwa 700 Studenten besucht, was für jene Zeit eine stattliche Zahl bedeutete. Dem dortigen Leben war eigentümlich die Verbindung einer gewissen Vornehmheit und einer großen Gediegenheit des wissenschaftlichen Schaffens. Wichtig war in dieser Hinsicht auch die ausgezeichnete Bibliothek. Die Universität hatte durchaus keinen provinziellen Charakter, sie wurde nicht nur aus den benachbarten Gegenden, sondern von ganz Deutschland, auch vielfach von Ausländern besucht; z. B. von Engländern, Schotten, Amerikanern und Ungarn. Neben Göttingen wäre für uns etwa Jena in Betracht gekommen, wo damals Kuno Fischer eine glänzende Lehrtätigkeit entfaltete. Aber die Gründe für Göttingen mußten überwiegen, Kuno Fischer hätte tatsächlich für meine Bestrebungen wenig geboten.

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