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Vorwort.

Es häufen sich jetzt die »Lebenserinnerungen«. Die ungeheure politische und geistige Erschütterung, welche durch die Gegenwart geht, treibt zwingend zu einer Selbstbesinnung und zu einer Selbstschau. Aber die Frage mußte sich aufdrängen, ob auch die hier gebotenen Lebenserinnerungen etwas enthalten, was weiten Kreisen bemerkenswert sein kann, oder ob sie sich nicht besser nur an den engeren Kreis der persönlichen Bekannten gewendet hätten. Wenn ich jene Frage bejahen zu dürfen glaubte, so geschah es aus folgender Erwägung.

Ich kann nicht von großen Taten berichten, auch war ich nicht an bedeutenden politischen Wendungen beteiligt; aber ich konnte den inneren Lauf des Lebens verfolgen und darüber hinaus für notwendige Forderungen wirken. Ich erlebte die großen inneren Wandlungen der deutschen Verhältnisse: meine Jugendzeit hatte weit einfachere und ruhigere Zustände, als sie uns später umfingen, das Leben verlief in engeren Bahnen, noch fehlte der riesenhafte Aufschwung von Industrie und Technik, es fehlten die Großstädte mit ihrer Anhäufung der Massen, es fehlte die Beherrschung des Lebens durch die Fabrik, es verschlang noch nicht eine fieberhafte Arbeitskultur das ganze Leben. Namentlich seit den siebziger Jahren hat sich diese Veränderung mehr und mehr gesteigert. Wer einen andersartigen Stand der Dinge erlebt hat, dem müssen, auch bei voller Anerkennung der Leistungen, die Schranken und die Gefahren dieser Wendung gegenwärtig sein. Dann aber muß er nach bestem Vermögen diesen Gefahren entgegenwirken und für einen Selbstwert des Lebens eintreten. In dieser Richtung zu wirken, das war meinem Leben als Aufgabe vorgezeichnet. Meine Lebenserinnerungen haben namentlich von dem Kampf gegen die Veräußerlichung des Lebens zu berichten. Diese Veräußerlichung ist nicht eine Schranke und eine Schuld eines einzelnen Volkes, sondern diese trifft die ganze Menschheit und fordert auch von dieser eine gründliche Wendung. Die hieraus erwachsenden Probleme bilden mit ihrer persönlichen Färbung den Hintergrund meines Lebens, von hier aus mag auch dasjenige einige Bedeutung erlangen, was ohne diesen Zusammenhang gleichgültig erscheinen kann. Wer die Überzeugung von der Notwendigkeit einer geistigen Reformation teilt, der wird daher auch die bescheidenen Bemühungen mit freundlicher Teilnahme begleiten, von denen meine Lebenserinnerungen berichten. Sie sind nicht bloß Eindrücke des einzelnen Individuums, sie enthalten Erlebnisse und Aufgaben sowohl des deutschen Volkes als der gesamten Menschheit. Daß ich diese Erlebnisse von einem ruhigen Punkt aus beobachten konnte, das mag ihrem Eindruck günstig sein.

Jena, im Oktober 1920.
Rudolf Eucken.

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