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Die Universitätsjahre

Die ersten Eindrücke der Universität teilte ich wohl mit vielen Altersgenossen. Man fühlte sich in eine fremde Welt versetzt, man entbehrte des persönlichen Elements, welches die Heimat und die Genossen boten, man hatte Mühe eine gleichmäßige Stimmung zu wahren, man fühlte sich verloren in dem großen Getriebe. Dazu kam bei mir eine gewisse Enttäuschung über die Professoren. Ich hatte in meiner naiven Art mir jene Gelehrten als Weltweise vorgestellt; ich erwartete von ihrem Wirken die Eröffnung großer Ziele und fand mich natürlich darin enttäuscht. Weiter kam dazu die Schwierigkeit, daß mich zwei verschiedene Aufgaben fesselten. Einerseits wollte ich die klassischen Studien mit den angrenzenden Hilfswissenschaften als die Hauptsache meiner Arbeit behandeln, andererseits stand meinem inneren Leben und Streben die Philosophie unbedingt voran. Diesen unverkennbaren Konflikt zwischen Arbeit und Gesinnung hoffte ich durch angespannte Tätigkeit überwinden zu können. Diese Überwindung ist mir aber nicht leicht geworden und die Gefahr eines Bruches lag einmal recht nahe.

Von den einzelnen Lehrern haben zunächst Sauppe, Curtius, v. Leutsch und Teichmüller auf mich gewirkt. Auch die Vorlesungen von Waitz haben mich sehr angezogen. Sauppe hat unter den Philologen am meisten für uns getan. Ihm kam zugute, daß er eine Zeitlang Gymnasialdirektor in Weimar war und auch dem literarischen Leben Weimars nahestand. Mit unermüdlicher Sorgfalt war er um seine Zuhörer bemüht, jedem einzelnen von ihnen stand seine Privatbibliothek zur Verfügung, und stets war er zu eingehendem Rat erbötig. Seine Vorlesungen zeigten Klarheit, Scharfsinn, vielseitiges Wissen, eine geschmackvolle Form. Der Philosophie stand er nicht näher. In anderer Weise wirkte Curtius. Er fesselte uns durch sein künstlerisches Vermögen und durch seine jugendliche Frische. Er entwarf fesselnde Bilder der griechischen Welt, die mit hinreißender Wärme vorgetragen wurden. Sehr beliebt war er als Examinator; er ließ die einzelnen Examinanden möglichst ihre eigenen Wege gehen und warf nur gelegentlich ein Wort dazwischen; leicht konnte man bei einiger Gewandtheit selbst den Lauf des Examens leiten. v. Leutsch war der eingefleischte Philologe, dem der Philologe allen anderen Menschen voranging. Seine Vorlesungen waren sehr gründlich, aber leider zu weitschweifig. Er behandelte die Studenten, falls sie tüchtige Philologen waren, sehr liebenswürdig, und er lud öfter kleine Kreise seiner Zuhörer zum Abendessen ein, was damals in Göttingen etwas Besonderes war.

Zu Lotze, der zweifellos der bedeutendste Denker jener Jahrzehnte war, habe ich kein näheres Verhältnis gewonnen. Seine Vorlesungen waren ausgezeichnet durch Wissen, Klarheit und Schärfe. Aber sie waren zu technisch für die meisten Zuhörer und sie boten mir nicht viel für die Probleme, welche mich erfüllten. Meine erste philosophische Vorlesung habe ich bei ihm über Religionsphilosophie gehört. Es wurden in ihr die verschiedenen Gedankengänge scharfsinnig entwickelt, aber ich vermißte durchgehende große Linien, und es schien mir oft, als ob er dem Scharfsinn zu viel zutraute. Wir waren seinen Gründen nicht gewachsen, aber sie überzeugten uns nicht vollauf. Die Psychologie galt für sein Hauptkolleg, sie gab eine ausgezeichnete Einführung in die Probleme. Ich habe diesem hervorragenden Denker in meiner Vorstellung sicherlich oft unrecht getan, aber ich konnte für mich nicht das gewinnen, was mir die Hauptsache war: eine feste Lebensrichtung. Jene Philosophie war für mich zu sehr eine Gelehrtenphilosophie, die das Ganze des gemeinsamen Lebens zu wenig berührte und bewegte. Dazu kam ein eigentümliches Erlebnis, welches ich beim Doktorexamen hatte. Dieses Examen habe ich nicht in der Philosophie abgelegt, sondern in der klassischen Philologie und in der alten Geschichte. Aber ich hatte mich Lotze als einem Mitglied der Prüfungskommission vorzustellen. Ich berichtete ihm dabei über meine aristotelischen Forschungen und bat ihn um sein Interesse dafür. Aber er erklärte die Beschäftigung mit jenem Denker für unfruchtbar. Er meinte, seine Metaphysik und seine Psychologie enthielten ohne Zweifel große Wahrheiten, aber die Schriften seien zu schlecht überliefert, als daß man sie genügend verstehen könne; die Ethik des Aristoteles aber sei unbedeutend, da möchte er lieber einen guten französischen Roman lesen. Das war ohne Zweifel ein augenblicklicher Einfall jenes Denkers, eine Paradoxie, die nicht so ernst gemeint war, die mich aber, der ich allen Eifer und alle Hingebung an diese Sache gewandt hatte, verletzte. Daß ich ihn, den man mit gutem Recht den modernen Leibniz genannt hat, als einen führenden Denker schätze, das bedarf keines Wortes. Auch anerkenne ich vollauf das gute Recht und die Bedeutung einer solchen Gelehrtenphilosophie, aber ich meine, daß die Philosophie nicht in sie aufgehen darf, namentlich wenn eine so zerrissene und eines festen Haltes so bedürftige Zeit die Menschheit umgibt, wie die Gegenwart es ist.

Philosophisch hat mich in Göttingen besonders Teichmüller gefördert, ihm verdanke ich namentlich die Einführung in die Welt des Aristoteles. Auf Seiten der Philologen war damals für Aristoteles so gut wie kein Interesse, ja einzelne von den Studenten tadelten es, daß ich mich mit diesem Denker eingehend beschäftigte. Teichmüller hat mich weniger durch seine Vorlesungen als durch seine aristotelischen Übungen gefördert. Als ich mich zu jenen Übungen bei ihm meldete, sagte er mir, ich wäre der einzige, der bis dahin sich gemeldet hätte. Ich erwiderte, es würden sicherlich mehrere Bekannte von mir kommen; die habe ich für die Sache gewonnen. Diese Übungen gaben zunächst den Text des Aristoteles, sie führten dann weiter in die sachlichen Probleme ein, und sie zeigten Teichmüller als einen sehr kenntnisreichen, gewandten und umfassenden Denker. Er war in Gefahr, die historischen Daten zu subjektiv zu behandeln, aber die Frische und die anregende Art, die das Ganze beseelte, hat uns sehr gefördert. Namentlich berührte es uns angenehm, daß er bei jenen Übungen, die in seinem eigenen Hause stattfanden, uns nach getaner Arbeit zum Tee einlud, dann manches von seinen weiten Reisen erzählte, uns Kupferstiche und Photographien vorlegte, auch uns gelegentlich zum eigenen Urteil aufforderte. So habe ich in Göttingen von keinem mehr empfangen als von ihm. Aus jenen Übungen ist das Thema meiner Doktordissertation hervorgegangen, das ich freilich selbst gewählt habe, und das mir durch die enge Verbindung der philologischen und philosophischen Arbeit wertvoll war. Teichmüller verdanke ich auch die Einführung in das Haus Trendelenburgs; später wurde ich als sein Nachfolger nach Basel berufen. Er selbst folgte dann einem Ruf nach Dorpat, wohin ihn persönliche Beziehungen riefen. Er hat in der gelehrten Welt nicht die Anerkennung gefunden, die ihm gebührte. – Unerwähnt möchte ich nicht lassen, daß auch der Ästhetiker Bonitz sich meiner freundlich annahm, und daß ich auch einzelne kunstphilosophische Vorlesungen bei ihm hörte. – Inzwischen warf ich mich mit ganzem Eifer auf das Studium der großen philosophischen Werke, und ich suchte ihren Eindruck auf mich gewissenhaft festzulegen. Die Kritiken Kants wurden mit voller Hingebung ergriffen, aber sie boten mir manche Probleme, denen ich einstweilen nicht gewachsen war. Eher durfte ich mir ein selbständiges Urteil über das Hauptwerk von David Strauß zutrauen. Die dort gebotene mythische Deutung der Sage setzte nach meiner Überzeugung einen historischen Kern schon voraus, und es schien mir künstlich, die Prädikate, welche die Kirche Christus beilegt, der ganzen Menschheit zuzuerkennen, da das nicht bloß eine äußere Änderung, sondern eine völlige Wandlung bedeute.

Für Philosophie war damals dort wenig Interesse. Einige Vorlesungen waren stark besucht, aber von eigenem Leben war wenig zu verspüren. Die politischen und nationalen Interessen standen im Vordergrunde. Der Rückschlag gegen die spekulative Philosophie war noch in voller Wirkung, man hörte manchen geringschätzigen Ausdruck über die Philosophie. Von den Denkern hatte wohl Schopenhauer die meisten Freunde, vor Kant hatte man einen großen Respekt, später gewann Hartmann viel Interesse, und es entwickelte sich im Neukantianismus (F. A. Lange) eine eigentümliche Denkweise.

Zwischen Professoren und Studenten bestand das beste Verhältnis. Wir hatten die größte Hochachtung für unsere Lehrer, und sie waren uns gegenüber durchaus freundlich und gütig, aber man vergaß nie den weiten Unterschied, welcher die erst Lernenden von den Spitzen der Forschung trennte. Es fiel uns nicht ein, mit ihnen auf dem Fuß der Gleichheit zu verkehren. Auch lag es der damaligen Zeit fern, eine Mitwirkung in akademischen Angelegenheiten zu erstreben. Die einen waren vornehmlich mit dem korporativen Leben der Verbindungen, die anderen mehr mit der wissenschaftlichen Arbeit beschäftigt. Die Forschung galt entschieden als die Hauptsache des Ganzen. Daß die Zahl der Studenten weit geringer war als jetzt, mußte den Charakter des Ganzen persönlicher gestalten.

Das damalige studentische Leben hatte weit weniger Gliederung als das jetzige. Die Studentenschaft teilte sich in Korps, Burschenschaften und Nichtinkorporierte. Unter diesen bildeten die sogenannten »Blasen« festere Verbindungen. Die Hauptstellung hatten damals die Korps, deren es sieben gab. Burschenschaften und Nichtverbindungs-Studenten gingen in mannigfachen Fragen zusammen. Eigentümlich war es, daß die Kräfte der verschiedenen Richtungen sich auf einem harmlosen Gebiete miteinander maßen. Es bestand damals ein literarisches Museum, das Lesezimmer und Gesellschaftszimmer besaß, auch Vergnügungen, namentlich Bälle, veranstaltete. Die Studenten hatten das Recht, außerordentliche Mitglieder zu werden, und ihre Vertreter durften die Leitung der Bälle übernehmen. So entstand die Frage, welche Partei möglichst viel Stimmen aufbringen könnte. Es war ein eifriges Wirken und Wühlen, »Keilen«; manche traten in das Museum ein, bloß um an jener Wahl teilzunehmen. Gewöhnlich hatten die Korps die Mehrzahl. Später erschien es als ein großer Sieg, als die Nichtkorpsstudenten zeitweilig die Sache an sich nahmen.

Ich selbst hatte mich von Anfang an einer freieren Verbindung, der »Frisia«, angeschlossen. Es wurde mir aber bald klar, daß die Beteiligung daran sich nicht mit dem Zusammenleben mit meiner Mutter vertrüge; so bin ich in aller Freundschaft von den Friesen geschieden, bin aber dauernd in guten Beziehungen mit ihnen geblieben. Ich hatte durch meine Mutter ein recht behagliches häusliches Leben. Oft besuchten mich dortige Freunde, nicht bloß Deutsche, sondern auch Ungarn, Schotten usw. Oft wurden gemeinsame Spaziergänge und Ausflüge unternommen. Meine Freunde und ich haben z. B. einmal eine ganze Mondnacht im Walde zugebracht, auch fehlte es nicht an Einladungen zu befreundeten Familien. So gedenke ich mit besonderem Vergnügen der Einladungen von uns Freunden seitens des ländlichen Pfarrhauses Rosdorf. Volkslieder wurden gesungen, manche Fragen halb ernst, halb scherzhaft erörtert. Vor allem aber haben meine Mutter und ich die anmutige Gegend von Göttingen vielfach durchwandert und oft unser Mittagsmahl in einem einfachen Dorfwirtshause eingenommen. Sie hatte viel Freude an dem neuen bewegteren Leben, das uns umfing. Für meine geistige Entwicklung und für den Gewinn vielfacher Anschauung war wichtig, daß meine Mutter und ich trotz unserer bescheidenen Mittel in jedem Jahre eine größere Reise unternahmen. Die erste dieser Reisen ging nach Thüringen, wo wir namentlich Eisenach und Weimar mit ehrfurchtsvoller Gesinnung betraten und ferner uns der herrlichen thüringer Wälder freuten. Die zweite Reise ging nach dem Harz, die dritte nach dem Rhein. Bei Stolzenfels habe ich zuerst den Rhein mit gehobenen Gefühlen erblickt, dann fuhren wir über Köln nach Mainz und Frankfurt, das damals ja die Hauptstadt des Bundes war und manche bunte Uniformen aufwies. Daß ich schon vier Jahre darauf eine angenehme Stellung in Frankfurt bekleiden sollte, das konnte ich nicht voraussehen.

Frankfurt bringt mich auf den Fürstentag von 1863. Es war damals eine eigentümliche Atmosphäre, jeder fühlte, daß es so, wie es bisher stand, nicht bleiben konnte. Großdeutsche und Kleindeutsche, wie sie damals hießen, stritten um die Gestaltung der deutschen Verhältnisse. In unserer Umgebung überwog die preußische Stimmung. Man fühlte deutlich genug, daß der von Österreich mit seinem Völkergewirr betretene Weg nicht zum Ziele führe. In diese schwankende und schwüle Stimmung kam im November 1863 der Tod des dänischen Königs und stellte Deutschland vor die Frage, was aus den Herzogtümern Schleswig-Holstein werden solle. Es war die allgemeine Überzeugung, daß Deutschland seine Rechte nicht aufgeben dürfe und daß alle deutschen Regierungen bei dieser Frage zusammengehen müßten. Aber alsbald erschienen auch hier große Zerwürfnisse, und in dieser Lage fühlte das deutsche Volk und mit ihm auch die deutsche Studentenschaft sich berufen, dem Willen Deutschlands einen kräftigen Ausdruck zu geben. Es war für Hannover namentlich der 10. Januar 1864, wo eine Landesversammlung aus allen Gegenden des Königreiches abgehalten wurde, um die eigene Regierung zu einem kräftigen Vorgehen zu treiben. Auch manchen Studenten schien es erwünscht, jene Versammlung zu besuchen. Wir fuhren in tiefer Nacht mit einem sehr langsamen Zug nach Hannover, besichtigten die dortigen Museen und verübten natürlich auch manche kleine Neckereien. Mittags war jene Versammlung sehr stark besucht. Unter den Hauptrednern war auch unser verehrter Lehrer Sauppe. Ich habe diese Reden mit großer Hingebung verfolgt, aber ich habe sofort den Eindruck empfangen, daß in solchen Massenversammlungen nicht der Gehalt und die Wucht der Überzeugung entscheidet, sondern die Verwendung möglichst schroffer und leidenschaftlicher Ausdrücke. Schon von da an sind mir solche Massenversammlungen in hohem Grade unsympathisch gewesen. Am Abend hatten wir noch eine besondere Freude, die uns sogar zu einer gewissen politischen Demonstration verhalf. An jenem Abend wurde die Oper »Templer und Jüdin« gegeben. Die Hauptrolle hatte Niemann, der damals auf der Höhe seiner Kunst und seines Ruhmes stand. Er sang eine Arie, die den Wortlaut hatte: »Du stolzes England freue dich« usw. Statt aber diese Worte zu singen, sang er aus der damaligen Stimmung heraus: »Du stolzes England schäme dich« usw. und setzte einige kräftige Worte gegen England hinzu. In dem Augenblick, wo er solche Worte sagte, erhoben sich sämtliche Studenten, brachten dem Sänger ein begeistertes Hoch und baten dringend um eine Wiederholung jener Worte. Die Musik schwieg, er sang trotzdem. Der anwesende König zog sich mit seiner Umgebung zurück, wir aber hatten das Gefühl, eine große Sache geleistet zu haben. Niemann hat den Vorfall in seinen Erinnerungen erwähnt und berichtet, daß er damals in eine unbedeutende Geldstrafe genommen worden sei. Am folgenden Tag wurde unserem verehrten Lehrer eine Huldigung durch einen Lorbeerkranz überbracht. Wir ließen es aber nicht bei jenen Worten bewenden, sondern wir bildeten eine Art von Freikorps zugunsten und zur Verteidigung der Rechte des Herzogs von Augustenburg. Es wurde das leidlich organisiert; frühmorgens wurde unter der Leitung eines verabschiedeten Offiziers exerziert. Göttinger Bürger waren so freundlich, uns mit Gewehren zu versehen, die aber meist so veraltet waren, daß ihre Verwendung nicht ungefährlich war. Allzu streng ging es dabei nicht zu. Den Feldwebeln, die unsere Übungen im einzelnen leiteten, wurde eindringlich ein höfliches Benehmen eingeschärft. Immerhin übten wir uns und hatten einmal einen großen Übungsmarsch, der damit schloß, daß ein Teil der Studenten ein Wirtshaus besetzen, der größere Teil aber dieses Haus erstürmen sollte. Dabei wurden natürlich manche Fenster zerschlagen. Schließlich einigten die Parteien sich beim Glase Bier, und der Besitzer erhielt eine reichliche Entschädigung. Bald aber wurde die Sache ernster; das eherne Waffenspiel um Schleswig begann. Dann kam die Neugestaltung der Verhältnisse; für unsere Bestrebungen war kein Platz, sie konnten leicht als Spielereien erscheinen. Aber es war doch bedauerlich, daß die darin erwiesene Gesinnung bei den Staatsmännern nicht das mindeste Verständnis fand, daß alles »von oben« geordnet wurde.

Inzwischen verfolgte ich eifrig mein wissenschaftliches Ziel. Die Sache verlief nicht glatt, es waren ernste Zweifel zu überwinden. Ich hatte das Studium der Philologie und der Philosophie in dem guten Glauben begonnen, beide Wissenschaften mit gleichem Eifer betreiben zu können. Nach und nach aber wurde mir klar, daß das auf die Dauer nicht möglich war. Mein unbegrenzter Wissensdurst trieb mich dazu, in den beiden ersten Semestern ungeheuer viele Vorlesungen zu hören und allen Anregungen zu folgen; so wurden z. B. Politik, Religionsphilosophie, Sanskrit mit Übungen usw., dazu die wichtigsten philologischen Vorlesungen betrieben. Es mußte mir einleuchten, daß eine Entscheidung nach dieser oder jener Seite notwendig sei. Nun boten die damaligen philologischen Vorlesungen für meine philosophischen Interessen recht wenig. Im Hintergrunde hatte ich noch immer die mathematischen Interessen, und so erwog ich ernstlich den Plan, die Philologie aufzugeben und mich der Naturwissenschaft und der Mathematik zu widmen. Ich war schon nahe daran, mich als Studiosus der Naturwissenschaften einzuschreiben; meine gute Mutter war trotz der unverkennbaren Nachteile, die der Wechsel des Studiums bringen mußte, einverstanden. Da betrat ich zu Beginn des dritten Semesters das philologische Seminar und erfuhr, daß ich neben anderen zum ordentlichen Mitglied des Seminars ernannt sei. Diese Tatsache gab mir doch zu denken. Ich konnte nicht ganz unbegabt für die sprachlichen Studien sein, wenn mir jene geschätzte Mitgliedschaft so zufiel. Ich sah einen Wink des Schicksals darin, die alte Bahn getrost weiter zu verfolgen, und ich habe diese Entscheidung bald als durchaus richtig erkannt. Denn meine Begabung lag nicht in der Naturwissenschaft, sondern in den Geisteswissenschaften und in der ihnen verbundenen Philosophie. Freilich war nicht zu verkennen, daß durch jene Wendung die Philosophie, wenn auch nicht meiner Grundüberzeugung, so doch meiner Arbeit ferner rückte. Aber ich war viel zu jung und viel zu unreif, um mir in der Philosophie einen eigenen Weg zu suchen. So habe ich nun mit größerer Freude und Konzentration mich den philologischen Aufgaben gewidmet, und ich habe schließlich in Aristoteles einen Gegenstand gefunden, der für mich beide Seiten verband. Zu Aristoteles stand ich in einem eigentümlichen Verhältnis: der tiefste Gundzug seines Strebens konnte meiner mehr dualistischen Denkweise nicht entsprechen, aber in der Lebensgestaltung und der Lebensweisheit habe ich ihn stets als einen großen Weisen verehrt. Ähnlich ging es mir mit Goethe, bei dem mir ebenfalls tiefste Überzeugung und Lebensweisheit einander nicht voll zu entsprechen schienen.

Jene Verbindung von Philologie und Philosophie führte mich zu meiner Doktorarbeit über die Sprache des Aristoteles. Die aristotelischen Studien standen damals in hoher Schätzung. Hervorragende Männer wie Trendelenburg, Bonitz, Brandis, Prantl usw. beherrschten die Arbeit der Universitäten. Aber die eigentümliche Sprache des Aristoteles wurde wenig beachtet. Bonitz hatte nach dieser Richtung ausgezeichnete Untersuchungen geliefert, aber es blieb noch manches zu tun; so konnten meine Untersuchungen nicht als überflüssig erscheinen. Das Jahr 1866, in dem ich diese Dissertation abschloß, war für mich besonders wichtig. Ich hatte die Absicht im Sommersemester zu promovieren, was auch am 2. Juni geschehen ist, und sofort das Oberlehrerexamen zu bestehen, was dann im Oktober erfolgte. So waren jene Monate für mich eine Zeit härtester Arbeit; ich bin damals oft schon vor 5 Uhr aufgestanden.

In diese arbeitsreiche Zeit fiel die große politische Wendung der deutschen Geschicke; sie ergriff auch unsere nächste Umgebung. 1865 noch feierten wir in Göttingen die Einweihung eines neuen Kollegienhauses. Der König, übrigens ein sehr stattlicher und vornehm aussehender Mann, kam selbst nach Göttingen, und hat zu der Versammlung der Professoren und Studenten eine gedankenreiche Rede gehalten. Diese ruhte auf dem Grundgedanken, daß wohl ein gemeinsames Streben das deutsche Leben zusammenhalten, daß es aber auf dem Weg der Föderalität geschehen müsse. Übrigens verlief das Fest glänzend. Die Studenten brachten einen Fackelzug, und ihre Vertreter wurden zur königlichen Festtafel eingeladen. Aber bald wurden die Wolken immer drohender. Niemand aber konnte daran denken, daß gerade in Göttingen das Ungewitter sich entladen würde. Ich selbst empfing die Nachricht von diesem drohenden Unwetter in einem kleinen Freundeskreis, der den Gewinn eines wissenschaftlichen Preises durch einen unserer Genossen feierte. Am späten Abend rief einer von diesen in großer Aufregung uns zu: die ganze Stadt ist voller Soldaten! Natürlich stob unser Freundeskreis sofort auseinander; wir konnten noch etwas nützen, um die Offiziere und die Soldaten in ihre Quartiere zu führen. Wir erfuhren dann, daß die hannoverschen Truppen unmittelbar und ohne alles Gepäck vom Exerzierplatz nach Göttingen befördert wurden. So hatten jene Offiziere keine Möglichkeit gehabt, sich auch nur mit den nötigsten Dingen zu versorgen. Zugleich verbreitete sich die Nachricht, daß auch der König in Göttingen anwesend sei und in dem Gasthof »Zur Krone« wohne. Nun gab es eine ungeheure Aufregung. Alle Verbindungen nach draußen waren zerstört, die sonderbarsten Gerüchte durchschwirrten die Stadt. So verbreitete sich unter anderen das Gerücht, die Österreicher hätten sich Dresdens bemächtigt und marschierten schon auf Berlin, und bayrische Truppen seien im Vormarsch auf Göttingen, um sich mit den Hannoveranern zu vereinigen. Es war mir selbst interessant zu erfahren, wie leicht sich in solcher gespannten Lage bloße Möglichkeiten zu Wirklichkeiten verdichten. Ich selbst habe mit Soldaten gesprochen, deren einer ganz bestimmt versicherte, er selbst habe bayrische Truppen gesehen und gesprochen. Er muß natürlich irgendwelche andere Leute dafür gehalten haben. Die Studenten waren politisch sehr geteilter Meinung. Die meisten Althannoveraner waren erbittert gegen Preußen, alle aber waren einig, bei einer etwaigen Schlacht den Verwundeten möglichst zu helfen. Es wurden schon Vorbereitungen zur Organisation der Hilfe getroffen. Bald aber verbreitete sich das Gerücht, der König und sein Stab würden Göttingen verlassen und sich mit der Armee nach Thüringen begeben. Am frühen Morgen erfolgte diese Abreise; ich selbst habe von meiner Wohnung aus den König auf seinem letzten Ritt gesehen. Ich wurde somit Zeuge eines ergreifenden geschichtlichen Aktes. Der König bog bei diesem Ritt in eine verkehrte Gasse ein und mußte erst durch den Adjutanten nach der richtigen Seite geleitet werden. War das nicht ein Omen?

Nach dem Abzug der hannoverschen Truppen war Göttingen ohne alle Obrigkeit. Manche Studenten verbreiteten übertriebene Bilder von einer drohenden Plünderung, und diese fanden soweit Glauben, daß die Studentenschaft die Aufforderung erhielt, selbst die Ordnung in der Stadt in die Hand zu nehmen. Sie erklärte sich dazu gern bereit, aber sie verlangte eine gewisse Bewaffnung; jedem sollte ein Gewehr und ein Säbel aus dem städtischen Zeughause zustehen. So kam es denn auch. Wir marschierten und patrouillierten durch die ganze Stadt; Korps, Burschenschaften und Wilde waren in diesem Falle völlig einig. Die akademischen Hauptgebäude wurden unter uns verteilt und genügend Hauptpunkte eingerichtet. Während der Nacht waren durchweg Wachen aufgestellt und wurde fortwährend patrouilliert. Jeder einzelne Trupp hatte eine besondere Aufgabe. Ich selbst erhielt z. B. die Aufgabe, in der Nacht von 12 bis 2 Uhr den Göttinger Bahnhof daraufhin zu untersuchen, ob nicht bedenkliche Subjekte sich dort versteckten. Schließlich wurde diese Polizeitätigkeit der Studenten freilich zu bunt und ausgelassen, so daß der damalige Prorektor sein tiefes Bedauern darüber aussprach, daß die akademische Jugend so wenig Sinn für die Not des Vaterlandes habe; damit fand unsere obrigkeitliche Tätigkeit ein rasches Ende. Die Jugend vermag eben mit großem Ernst der Gesinnung eine Lust an kecken Streichen unmittelbar zu verbinden. Nach wenigen Tagen kamen die Preußen.

Inzwischen war die große Wendung erfolgt, welche auf lange Zeit das Schicksal Deutschlands entschieden hat: die zur Bismarckschen Politik. Diese Wendung spaltete auch die Geister der Jugend. Die jungen Leute waren vor jenem Krieg zum größten Teil entschieden liberal, ja oft radikal gesinnt, aber sie waren zugleich durchaus national; wir hofften auf ein einiges Deutschland, das mit der nationalen Macht zugleich die politische Freiheit und die volle Entwicklung aller Kräfte bringen sollte. Die wirtschaftlichen Fragen beschäftigten uns nur nebenbei; die gewaltige Ausdehnung der modernen Industrie und Technik war damals erst im Werden; was daraus an Verwicklungen entstehen mußte, das konnten wir in keiner Weise übersehen. Auch von Weltpolitik war damals wenig die Rede; das einige Deutschland, so hoffte man, würde alles in beste Ordnung bringen. Zugleich fühlte die akademische Jugend sich besonders berufen, den großen Aufstieg zu führen. Zweifellos war dabei mancher Überschwang, auch viel Unreife des Urteils; aber für die Gesinnung war es ein Vorteil, daß man die Aufgabe als eine eigene ergriff und sich verpflichtet fühlte, alle Kraft dafür einzusetzen.

Die Bismarcksche Politik dagegen stellte die Lage unter einen völlig neuen Anblick. Hatten wir bis dahin die Einigung Deutschlands vom gemeinsamen Willen des ganzen Volkes erwartet, so wurde uns nun jene Leistung von oben her entgegengebracht. Die einzelnen hatten kaum etwas Eigenes zu tun, sondern nur sich willfährig der gebotenen Gestaltung einzufügen. Die überwiegende Mehrzahl folgte dieser Richtung; es wirkte wohltuend und befestigend, daß sich aus dem wirren Getriebe der Parteien und der sich gegenseitig widersprechenden Programme eine feste Hand hervorhob und ein deutliches Ziel vorhielt. Andere aber konnten bei aller Anerkennung der überlegenen Größe des Mannes die Tatsache nicht vollauf verwinden, daß jene Wendung ohne alle Selbsttätigkeit des Volkes erfolgte, und daß sie zugleich in die Bahnen eines ausgesprochenen Realismus geriet. Diesen Männern erschien die Wendung als zu äußerlich, als zu einseitig militärisch und wirtschaftlich. Auch ich selbst konnte bei aller Anerkennung und Bewunderung der genialen politischen und diplomatischen Leistungen Bismarcks keine reine Freude an jener Wendung empfinden. Ich hatte gehofft, dem äußeren Aufschwung würde auch ein innerer entsprechen, und es würde das Leben mehr in Selbsttätigkeit gestellt werden. Ferner schien mir jene Politik die ideellen Faktoren des menschlichen Zusammenseins zu unterschätzen. So war mir später unsympathisch der Kulturkampf, unsympathisch die schroffe Art, wie die unserem Staatsverbande einverleibten Völker behandelt und selbst in ihrer Muttersprache eingeengt wurden; unsympathisch auch das Sozialistengesetz mit seinem verfehlten Versuch, eine weltgeschichtliche Bewegung durch polizeiliche Maßregeln zu unterdrücken.

Die Schuld jener Wendung lag freilich weniger an Bismarck, dessen unermeßliche Verdienste über aller Kritik stehen, als an der Schlaffheit und Trägheit des deutschen Bürgertums, das völlig zufrieden war, wenn es ihm nur wirtschaftlich gut ging. Man erklärte sich als »reichstreu«, was im Grunde selbstverständlich war, man bezahlte einen bescheidenen Beitrag für die Parteikasse, man besuchte gelegentlich eine Versammlung und ließ das deutsche Leben mit allen seinen inneren Problemen ruhig stehen, wie es stand. Ich habe in jenen Zeiten wohl an das bekannte Wort Gladstones gedacht, Bismarck habe Deutschland größer, die Deutschen aber kleiner gemacht. Dieser Verzicht des deutschen Bürgertums auf einen selbständigen Willen und auf seine Durchsetzung hat sich im Verlauf der Geschichte schwer gerächt; die Sache konnte nur so lange gelingen, als ein überlegener Geist das Ganze lenkte; sobald die Leitung an mittelmäßige und gar an schwankende Menschen kam, war das Unglück nicht zu verhüten. Für mich selbst ergab sich als notwendige Folge eine Zurückhaltung von allem politischen Parteileben; ich konnte meine besondere Aufgabe nur in einer inneren Kräftigung unseres Volkes und der Menschheit finden; das gab mir im Verlauf der Zeit vollauf zu tun. Erst später haben sich meine Kreise erweitert.


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