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Berlin.

Ende Oktober 1866 reiste ich über Magdeburg nach Berlin. Meine Mutter blieb mehrere Wochen bei den ostfriesischen Verwandten. In sehr bewegter Stimmung begab ich mich auf jene Reise. Von Jugend auf hatte ich den Plan, Hannover zu verlassen und nach Preußen zu gehen; ich glaubte hier ein weiteres und bewegteres Leben zu finden. Die Göttinger Gönner und Freunde hatten mich mit einer Fülle von Empfehlungen versehen, um mir das Auskommen zu erleichtern. Es war ein frischer Oktobermorgen, an dem ich von Magdeburg nach Berlin fuhr. Ich begrüßte die helle Sonne als ein gutes Vorzeichen; Werder und Potsdam brachten mir ungewohnte Bilder. Ein Freund, Dr. Rohrbach, der leider mit seinen großen Anlagen früh scheiden mußte, empfing mich an der Bahn und führte mich zu seinen Eltern. Schon am Abend gelang es uns, eine Wohnung zu finden. Ich kam nach Berlin in dem Streben und der Hoffnung, hier irgendwelche bleibende Stellung zu erlangen. Erst später ist mir voll zum Bewußtsein gekommen, wie kühn, ja gewagt unser Unternehmen war. Unsere Mittel waren sehr beschränkt und konnten nur für kurze Zeit genügen. Wohl durfte ich mich auf meine guten Examina und auf meine aristotelische Dissertation berufen; aber ob sich jemand um mich kümmern würde, war höchst unsicher. Die nächste Aufgabe war, meine Empfehlungen abzugeben und mich den leitenden Persönlichkeiten vorzustellen. Um meisten gespannt war ich auf Trendelenburg, dem ich durch Teichmüller warm empfohlen war. Er empfing mich sofort in sehr freundlicher, ja herzlicher Weise, unterhielt sich eingehend mit mir über meine Arbeiten und gab mir wertvolle Ratschläge für die praktischen Aufgaben. Trendelenburg stand damals auf der Höhe seines Wirkens. Er hatte eine hervorragende literarische Tätigkeit, die sowohl eine selbständige Weltanschauung vertrat, als sich klar und kräftig mit anderen Denkern auseinandersetzte, welche geistige Führer der Zeit waren, so namentlich mit Hegel und mit Herbart. Seine Vorlesungen waren sehr besucht; er war nicht nur Mitglied, sondern auch Sekretär der Preußischen Akademie, auch ein Hauptmitglied der Staatsprüfungen. Ohne ihn schien damals in Berlin nichts möglich. Wiederholt wurde er als Rektor und als Dekan erwählt. Auch genoß er die persönliche Hochschätzung des Königs Wilhelm. Holsteiner Abstammung war er ein guter Preuße, er hatte dabei in politischen und religiösen Dingen eine gemäßigte Stellung, aber er vertrat stets seine Überzeugung mit voller Selbständigkeit. Als er bei der ersten preußischen Synode durch allerhöchstes Vertrauen zum Mitglied ernannt wurde, hat er diese Ernennung mit Dank abgelehnt, da er wohl ein treues Glied der protestantischen Kirche sei, sich aber nicht berufen fühle, am Aufbau kirchlicher Ordnungen mitzuwirken. Die Arbeitsfülle, welche gewöhnlich den Berliner Gelehrten bedrückt, hat ihn leider verhindert, eine Psychologie und eine Ethik zu vollenden, die ihn seit langer Zeit beschäftigten. Seine aristotelischen Übungen suchten die Schüler zu selbständigen Forschern zu erziehen. Eine große Anzahl bedeutender Staatsmänner und Gelehrte sind aus dieser Schule hervorgegangen, so z. B. der Reichskanzler Freiherr v. Hertling, in Amerika Präsident Porter von Yale, in Rumänien der Ministerpräsident Majorescu. Die philosophische Denkweise verband sich ihm eng mit der geschichtlichen; auch die sprachliche Seite der Dinge fand sein volles Interesse. Die ihm eigentümliche Lehre von der Bewegung fand wenig Anklang, und im philosophischen System stand er Aristoteles zu nahe, die Kantische Umwälzung fand hier nicht ihre volle Würdigung. Über das Ganze seiner Persönlichkeit und seines Schaffens gab seinem Streben eine innere Wärme, eine geistige Vornehmheit, eine innere Wucht; er war kraft seiner universalen und ethischen Art ein Erzieher großen Stiles für ganze Generationen. Die Stimmung der folgenden Zeit war ihm nicht günstig, sie hat oft das Große verkannt, was Trendelenburg leistete und war. Unser persönliches Verhältnis hat sich bald aufs schönste gestaltet. Ich durfte ihn an den Sonnabend-Nachmittagen begleiten und empfing dadurch vielfache Anregungen. Auch von seiner Familie wurde nicht nur ich selbst, sondern auch meine Mutter in freundlicher, ja herzlicher Weise aufgenommen. Auch das war für mich ein Gewinn, daß ich mit den bedeutendsten Berliner Gelehrten durch kleine Abendgesellschaften bei Trendelenburg zusammengeführt wurde. Drollig war mir dabei folgende Episode. Eine kleine Gesellschaft bestand neben Trendelenburg namentlich aus Mommsen und Haupt. Die beiden gerieten in eine Debatte darüber, welche Gelehrten in der Polemik die schärfsten seien. Haupt erklärte, das seien ohne Zweifel die Theologen, denn bei der Frage des vermeintlichen Seelenheiles kenne die Aufregung und die Leidenschaft seine Grenzen. Mommsen hörte das ruhig an und erwiderte mit feinem Lächeln: »Wissen Sie, lieber Herr Kollege, ich kenne persönlich Philologen, die noch schärfer sind als die Theologen, ich habe darunter sehr gute Freunde«. Natürlich merkte jeder, auf wen die Sache gemünzt war.

Während des ersten Winters hörte ich neben den Vorlesungen Trendelenburgs verschiedene juristische und staatswissenschaftliche Vorlesungen. Sodann war ich als das letzte Mitglied seines pädagogischen Seminars der letzte Schüler des ehrwürdigen Boeckh. Die einzelnen Mitglieder mußten eine Quittung für ein empfangenes Stipendium vorlegen; als ich diese ihm durch einen Diener übergeben wollte, ließ er mir sagen, ich möchte nur selbst kommen; er sprach dann mit mir gütige und eindrucksvolle Worte über sein eigenes Leben und über Menschenleben überhaupt. Einige Tage darauf starb er. Er war aus voller Überzeugung Platoniker.

Auch sonst begegnete man mir in Berlin sehr freundlich und ich wurde in verschiedene Gesellschaften eingeführt. Liebenswürdig aufgenommen wurde ich z. B. von dem Theologen Dorner, von dem Philologen Kirchhoff, von dem Juristen Rudorff, dem Legationsrat Meyer, dem Vorleser des Königs, ferner von der Familie Köpke, um welche sich jeden Sonntag ein kleiner geistig belebter Kreis versammelte. Auch meine Mutter fand in diesem Kreise freundliche Aufnahme. Weiter verkehrte ich gern in dem religionsphilosophischen Kreise, den der charaktervolle Krause um sich in Weißensee versammelte. So wurde die Fremdheit Berlins für uns rasch überwunden.

Nun aber galt es, eine amtliche Tätigkeit zu gewinnen, und für diese Aufgabe war mir niemand wichtiger und förderlicher, als der Stadtschulrat Professor Dr. Hoffmann; ich schulde ihm ein herzliches und dankbares Andenken. Er vornehmlich hat es bewirkt, daß ich in Berlin bleiben konnte. Ihn leitete die Überzeugung, die wissenschaftlichen Lehrer sollten nicht ganz in der Pädagogik aufgehen, sondern auch wissenschaftlich selbständig wirken. Er meinte, die bloße Pädagogik genüge wohl für die unteren und mittleren Klassen; zur Erweckung eines vollen geistigen Lebens aber sei ein eigenes wissenschaftliches Fortschreiten der Lehrer selbst im höchsten Maße wünschenswert. In solcher Gesinnung hat er damals das städtische Schulwesen geleitet. – Einstweilen blieb ich aber in einer unsicheren Lage. Das Ende des Jahres war gekommen. Ich hatte in ihm viel gearbeitet und erreicht, die beiden Examina waren abgelegt, eine neue Lebensbahn begonnen, aber der Blick in die Zukunft blieb verhüllt. Der Jahreswechsel brachte meiner Mutter und mir diese Unsicherheit zu vollem Bewußtsein. In dieser Stimmung besuchten wir am Sylvesterabend den Berliner Dom und erwarteten bewegten Herzens die weitere Zukunft. Dann aber brachte schon der 9. Januar eine Wendung. Der Stadtschulrat Hoffmann teilte mir mit, ich solle als Probekandidat am Sophien-Gymnasium eintreten. Damit gewann ich einen festen Boden in Berlin; ich sollte auch sofort eine gewisse Einnahme erhalten. Zunächst freilich war diese Wendung recht bescheiden, auch forderte sie einen unbequemen Wechsel unserer Wohnung. Der Weg zu meinem Gymnasium betrug eine volle halbe Stunde, man hatte damals noch nicht die bequemen Beförderungsmittel der Gegenwart. Aber noch bevor wir diesen Wohnungswechsel vollzogen, ergriffen mich neue Aufgaben und führten mich von Berlin fort. Es war damals eine gute Zeit für junge Philologen; innerhalb eines halben Jahres habe ich nicht weniger als drei verschiedene Angebote erhalten, die teilweise sehr verlockend waren. Vor allem wünschte der damalige Leiter des preußischen Schulwesens, Geheimrat Wiese, daß ich einen erkrankten Oberlehrer in Stolp vertrete. Es war ein nicht geringes Erstaunen bei den damaligen Kollegen, daß ich unmittelbar zum Chef des preußischen Gelehrtenschulwesens berufen wurde. Er bot mir jene Stolper Stelle in sehr freundlicher Weise an und war nicht wenig befremdet, als ich dies mit aufrichtigem Dank, aber entschieden ablehnte. Meine Kollegen fürchteten schon, ich hätte dadurch meine Laufbahn schwer geschädigt. Aber ganz bald kam wieder eine neue Aufforderung von Wiese, ich solle eine gutdotierte Stelle als Oberlehrer am Gymnasium und an der Realschule von Husum (Schleswig) annehmen. Ich hatte zunächst verzweifelt wenig Lust zu dieser Aufgabe. Ich berief mich auch bei Wiese darauf, ich sei noch zu jung für die dortige Stelle, dazu noch Probekandidat. Das machte auf Wiese nicht den mindesten Eindruck, es sei das, so meinte er lächelnd, ein Mangel, der sich mit jedem Tage verringere. Ich erbat mir eine Bedenkzeit von einem Tage. Er erklärte diese Bedenkzeit für völlig überflüssig, gestattete sie aber schließlich. Ich stürzte zu meiner Mutter und zu Trendelenburg und wir überlegten, was zu tun sei. Meine Mutter war außer sich, weil sie ein Scheitern meiner wissenschaftlichen Pläne befürchtete. Trendelenburg teilte die Bedenken, riet aber schließlich trotzdem jene Stellung anzunehmen. Ein Beharren auf meiner Weigerung würde mich in eine unerquickliche Lage bringen, die für einen jungen Gelehrten, der am Anfang seiner Laufbahn stehe, bedenklich wäre. Ich solle, so meinte Trendelenburg, guten Mutes nach Husum gehen, dort Tüchtiges leisten und in der dortigen Ruhe wissenschaftlich weiterarbeiten. Die Berliner Freunde würden schon dafür sorgen, daß ich nach einiger Zeit wieder nach Berlin käme. Dem Gewicht dieser Gründe konnte ich mich nicht entziehen, entschied mich also für die Annahme. So mußten wir in eine uns völlig gleichgültige Stadt ziehen, und es konnte dabei der Vergleich zwischen Berlin und Husum nicht zugunsten Husums ausfallen.


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