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Nachbarstädte

Von den benachbarten Städten traten in meinen Gesichtskreis namentlich Emden und Esens, mit denen uns engere Familienbeziehungen verbanden. Emden bewahrte noch immer das Bild einer gesunkenen, aber würdigen Größe. Seine Blütezeit lag in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Es hat damals während der Freiheitskämpfe der Niederländer gegen die Spanier eine große Rolle gespielt. Viele Vertriebene haben dort Zuflucht gefunden, und der Handel erlebte eine großartige Entwicklung. Der Ort erstritt sich damals in harten Kämpfen das volle Stapelrecht. Besonders imponiert das stattliche Rathaus, das nach dem Muster des Antwerpener Rathauses gegen Ende des 16. Jahrhunderts erbaut wurde, und das neben manchen sehr wertvollen Silberstücken eine großartige Rüstzeugsammlung enthält, sie wird als die bedeutendste in ganz Deutschland bezeichnet. Auch manche Privathäuser zeugen von dem Glanz und dem Reichtum früherer Zeiten Emden hat unter seinen Staatsmännern einmal einen Mann von europäischem Ruf gehabt: Johannes Althusius (Althaus). Er war 1604–1638 Syndikus jener Stadt. Sein staatsphilosophisches Hauptwerk war die Politica 1603 (verändert und vermehrt 1610, außerdem noch je dreimal vor und nach seinem Tode gedruckt); er war auch in seiner literarischen Tätigkeit ein hervorragender Verfechter der städtischen und ständischen Interessen. Das Werk »Politica« ist in den späteren Auflagen deutlich mehr und mehr auf die ostfriesischen und niederländischen Verhältnisse und Interessen zugeschnitten. Charakteristisch ist für Althusius, der auch Kirchenältester seiner Gemeinde war, daß er 1617 ein gemeinsames Erinnerungsfest für Luther und Zwingli vorschlug.. Gerade während der damaligen Blütezeit kam eine große Sturmflut. Die Ems durchbrach ihr altes Bett und verlegte ihren Lauf weiter links. Trotz größter Mühe konnte man mit den damaligen Mitteln keine Zurückverlegung des großen Stromes erzwingen. Emden war und blieb für lange Zeit vom Meere abgeschnitten, diese Hemmung mußte den Handel sehr erschweren. Durch Friedrich den Großen und um den Anfang des 19. Jahrhunderts erlebte Emden einen neuen Aufschwung, bis wieder eine Stockung eintrat, endlich aber die letzten Jahrzehnte des Jahrhunderts durch gewaltige technische Bauten der Stadt eine unmittelbare Beteiligung am Großhandel eröffneten. So hat Emden recht wechselvolle Geschicke gehabt.

Besonders eng waren meine Beziehungen zu der kleinen Stadt Esens, denn dort wirkte als Rektor an der Lateinschule der jüngere Bruder meiner Mutter, Carl Gittermann. Er war ein sehr offener und geistvoller Kopf, eine liebenswürdige und seelengute Persönlichkeit. Er hat es aber im Leben nicht weit gebracht, teils weil er seinen Weg geradeaus ging, teils auch weil er wenig Talent besaß, seine vortrefflichen Kräfte zur vollen Entwicklung zu bringen. Seine philosophische und religiöse Bildung stand unter dem Einfluß des Junghegelianismus, namentlich Feuerbachs. Augenscheinlich hat dieser Denker auf die damalige Generation einen sehr starken Einfluß ausgeübt. Manche hielten es für möglich, diese neue Lehre mit der Religion und mit dem Christentum unmittelbar zu verbinden. Natürlich konnte das nur geschehen, indem man alle Gegensätze abschliff und eine idealisierte Welt als Wirklichkeit setzte. Es kann kein Zweifel daran sein, daß Gittermann aus voller Überzeugung jene radikale Lehre und die religiöse Überzeugung verbinden wollte. Ich habe selbst von ihm manche Predigt gehört, aus der vollste Wahrhaftigkeit sprach. Aber diese Lage mußte Konflikte ergeben, und an diesen hat es nicht gefehlt. Dazu war mein Onkel ein sehr entschiedener Vorkämpfer Preußens und der deutschen Einheit. Er hat sich dazu mit voller Unerschrockenheit auch in der Reaktionszeit bekannt und hat in dieser Zeit (1851) eine sechswöchige Festungsstrafe erlitten, die freilich recht behaglich ausfiel und die ihm einen Ehrenbecher von seinen Mitbürgern eintrug. Aber für seine amtliche Laufbahn war sie natürlich wenig günstig. Die Stelle in Esens war recht bescheiden. Wiederholte Berufungen von Gemeinden auf einträgliche Pfarren hat mein Onkel, als mit seiner Überzeugung unverträglich, abgelehnt. In der Nähe von Esens hat er einen Protestantenverein gegründet; auch literarisch ist er für eine freiere Auffassung von Welt und Leben eingetreten. Schließlich ist er nach einer längeren Fehde an die Navigationsschule nach Leer versetzt worden und hat dort sein Leben 1892 beschlossen. Ich habe ihn kurz vor seinem Tode besucht und habe unvergeßliche Eindrücke von dieser Begegnung erhalten. Die Grundzüge des Lebens standen ihm gegen Schluß seines Lebens mit Klarheit vor Augen, und von Feuerbach war wenig zu verspüren. Die harten politischen und religiösen Kämpfe waren vorüber, und eine ruhige, versöhnliche Stimmung trug den Abschluß dieses Lebens. In meiner Jugend hat er zunächst durch Diskussionen über die großen Fragen vielfach anregend auf mich gewirkt. Wir konnten damals oft nicht zusammengehen, da ich von früh an die Unvereinbarkeit von Feuerbach und Christentum klar durchschaute. Aber er brachte mir manche Fragen, und in seiner Bibliothek konnte ich die ersten philosophischen Bücher nach Herzenslust lesen, die mir sonst nicht zugänglich waren. Die engen Beziehungen zwischen meiner Mutter und diesem Bruder brachten es mit sich, daß wir die Weihnachtszeit in seiner Familie verbrachten und dort wohltuende Tage verlebten; hier konnte meine Mutter sich von ihrer Tagesarbeit etwas erholen.


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