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Der Überfall

. Ich muß Ihnen leider kündigen,« sagte Frau Kuhnert und strich sich über die blaue, befleckte Schürze. »Sie werden ja wissen weshalb?«

»Ach, die Miete! Ja, ich hatte sie ganz vergessen. Wieviel ist es denn?«

»Für zwei Monate habe ich noch zu kriegen. Und zwölf Mark Auslagen. Ich habe alles aufgeschrieben.«

Sie legte ihm die Rechnung hin, die auf die Rückseite eines an Frau Kuhnert adressierten Kuverts geschrieben war.

Pronitz zog sein Portemonnaie. Wenn er alles bezahlte, blieb nicht mehr viel. Aber es half nichts.

Sie nahm das Geld, dankte, und setzte in der Türe hinzu: »Die Kündigung bleibt aber bestehen. Ich brauch' das Zimmer. Für meinen Neffen.«

Es war nicht wahr. Pronitz wußte das. Aber was kam es hier auf Gründe an.

»Dann ziehe ich gleich aus,« sagte er. »Morgen.«

»Bitte. Es ist mir sehr recht.«

Sein Geld von der Bank war längst abgehoben. Auf Honorare hatte er in absehbarer Zeit nicht zu rechnen, und in der Westentasche knisterte der Pfandschein über die Uhr.

Man konnte sich ja zusammenraffen und etwas pumpen, bis man über Wasser war. Aber das war so dumm. Und schließlich gehörte dazu etwas, was er nicht mehr besaß: Elastizität und überhaupt Wille zum Leben. Er wollte am Ende auch diesen »Willen« gar nicht mehr.

Immer neue Wunden empfangen, immer nur Narr sein, wo man das Recht auf die Königskrone hatte? – –

Wenn er jetzt von der Welt ging, ging er ohne Schuld und Schulden fort. Es war die höchste Zeit.

Draußen, am Weichbild Charlottenburgs, war ein kleiner Kirchhof. Da wollte er hingehen. Morgen. Oder – – –

Beim nächsten Trödler verkaufte er den Gehrockanzug, den er immer noch – immer noch – hatte, und einige Straßenzüge weiter kaufte er bei einem anderen einen hübschen Revolver mit schwarzem Griff und eingelegten Silberschnörkeln. Er wollte gerade diesen Sechsläufigen. Der sah so solide aus und würde gewiß eine Weile vorhalten.

Der Trödler stimmte bei, daß er lange vorhalten würde.

Draußen hatte ein dichter, eisiger Spätherbstregen eingesetzt. Der Winter lag schon in der Luft.

Wie erbarmungslos der herniederrieselte und in den Kragen rann, sich auf dem Hut sammelte wie in einer Zisterne und dann wie ein Gießbach vorne herunterstürzte!

Da klopfte ihm jemand auf die Schulter. Martin Melcher.

»Was machst du hier?«

»Ich gehe spazieren.«

»Kneippkur? Und da drinnen?« Er wies auf den Trödelladen.

»Hast du spioniert?«

»Wenn du es spionieren nennst, jemand aus einem Laden herauskommen zu sehen, dann ja. Übrigens – brauchst du Geld?«

Einen Augenblick – einen kurzen Augenblick – zögerte Pronitz.

Aber dann war er wieder fest.

»Nein, caro mio. Im Gegenteil. Ich habe da ein kleines bildsauberes Mädel entdeckt: Tochter oder Nichte von dem Hebräer.«

Der sichere Ton verblüffte Melcher.

Psychologie war nie seine starke Seite gewesen.

»Schlemmer! Und mit Lucy ist es zu Ende?«

»Seit gestern.«

»Bravo. Gratuliere. Aber nun muß ich laufen. Große Aufträge in Sicht. Waren auch nötig.«

Pronitz hielt Melchers Hand aber fest.

»Sehe ich dich heute in der Versammlung?«

»Bei dem Partei-Geburtsakt? Nee. Das kann der stärkste Mann nicht von mir verlangen. Oder brauchst du mich, um dich vor dem Debütanten-Tatterich zu salvieren?«

»Nein. Es ist nur, weil ich –«

Melcher sah eine Elektrische.

»Adieu. Abends bin ich zu Hause. Wenn du vor oder nach der Chose mal ranspringen willst –«

»Leb wohl!«

Der Maler hatte einen Stehplatz erwischt und grüßte noch einmal herüber.

Jetzt fuhr der Wagen. Jetzt bog er um die Ecke und entschwand.

Aber Jens Peter Pronitz stand noch eine Weile und sah nach der Richtung, in der Martin Melcher gefahren war –

Der Regen peitschte mit nassen Striemen sein Gesicht.

Als er an der Ecke den Straßennamen sah, bemerkte er, daß er ganz in der Nähe des Grauschen Lokals war. Er ging schnell dorthin. Der Grog sollte dort gut sein.

Unten fand er den Lyriker und Zelewski vor. Sie saßen an dem runden Tisch mit der Landkarte.

Zelewski grüßte kühl und verschanzte sich hinter einer Zeitung. Der Lyriker erzählte von dem Erscheinen seines Buchs.

»Du bist der erste – außer Zelewski –, dem ich es sage.«

Pronitz gratulierte.

»Was macht der Adler? Kommt er in dieser Saison ran?«

»Nein.«

»Nanu?«

»Vielleicht in der nächsten.« Von dem verlangten Zuschuß mochte er hier nicht reden.

»Es geht nichts über preußische Promptheit.«

»Ist auch egal.« Pronitz trank sein Glas hastig aus und setzte seine geheimnisvollste Miene auf. »Aber was jetzt kommt, das ist was! Das standard work schlechtweg. Die schwebende Kugel!!«

»Aha. Ist es fertig?«

»Bis zum letzten Punkt.«

Und während seine Lippen von den »rationellen Methoden der Euthanasie« sprachen, dachte er doch nur das Eine: Dein ganzes Leben zu verpfuschen! Und wofür? Daß man doch nichts widerrufen kann! Daß man dem Rad nicht in die Speichen fallen und es zurückdrehen kann! Herrgott, hatte Lucy denn so wenig von mir gelernt? Wäre sie doch einem anheimgefallen, der stark und brausend wie der Nordwind kam oder mit blitzender Intelligenz oder brunnentiefem Gefühl! Aber nein – diesem feigen, lüsternen, faden Schwätzer! Es war alles klein und jämmerlich. Und das ist das Allerschlimmste daran–…

Und mitten in einem Satz brach er ab, stützte das Gesicht in beide Hände und stöhnte mitten in das Lachen des Anderen hinein.

Der Lyriker erschrak und stieß heimlich Zelewski an.

Aber der liebte nicht die Sentiments. Und seit Pronitz ihm nicht mehr borgte, hatte sich das letzte Band zwischen ihnen gelöst. Als äußerer Grund ihrer Entfremdung galt das Zusammenhalten Pronitz' mit dem unmoralischen Menschen, dem Maler. Und überhaupt – wer im Komitee der neuen Partei saß wie er, konnte sich etwas Exklusivität schon gestatten.

Er sah nach der Uhr.

»Ich muß fort, um meine Frau abzuholen.«

»Ich komme mit,« sagte der Lyriker schnell. Pronitz war ihm ungemütlich, beinahe unheimlich.

Beim Abschied wandte Zelewski sein grinsendes Gesicht zu Pronitz. »Ich bin sehr gespannt auf dein standard work,« sagte er höhnisch. »Ist es gerade so genial wie alle früheren?«

Pronitz war plötzlich ganz nüchtern.

»Gott, ein Bohémien biste ja, wenn auch ein mangelhafter: Ihr Norddeutschen taugt dazu nichts! Das reimt sich nicht zusammen.« Seine Worte wurden jetzt giftgetränkte Dolche: »Du bist aber kein Poet, Verehrtester. Höchstens in Träumen und Reden. Aber sag doch selbst: was von deinen Werken ist dir denn ganz geglückt?«

Pronitz war durch den jähen, unerwarteten Überfall wie gelähmt.

»Du vergißt die ›silberne Katze‹,« wandte der Lyriker ein.

Zelewski lachte ein glucksendes Lachen. »Wie lange ist denn das her?«

»Drei Jahre,« sagte Pronitz kleinlaut. »Aber jetzt kommt etwas wirklich Großes.«

»Kommt es? Ach nee? Bei mir auch! Das große Werk, das den Nobelpreis aufgepappt kriegt wie der Kuchen sein Etikett. Haha, wir sind halt Kollegen! Kollegen in Wechseln auf die Zukunft. Bloß mit dem Unterschied, daß ich nicht mehr daran glaube. Na, du bist ja noch jung.«

»Ja. Gott sei Dank, ich bin es!« Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Glas umfiel und zerbrach und der Grog über die Landkarte lief und über den Rand hinweg auf die Erde tropfte. »Und halte dein Galgengesicht mir fern!! Sonst fliegt meine Hand da hinein!«

Aber als die beiden draußen waren, war ihm doch zumute, als wäre das Beste genommen, als hätte es eine feige Diebeshand des Nachts gestohlen–…

Else Grau kam und reinigte den Tisch.

Die klebrige Flüssigkeit hatte mitten in den Alpen einen kleinen gelben See gebildet mit allerlei Abflüssen nach Wien, Italien und Württemberg zu–…

»Na, kleine Else, sieht man dich auch wieder einmal?«

Sie hielt einen Augenblick mit der Arbeit inne und sah ihn glücklich an.

Er sprach wieder mit ihr–…

»Wünschen Sie noch ein Glas?«

Ja, er wünschte es.

Sie brachte es sehr schnell und blieb bei ihm stehen.

Ihre Finger irrten auf dem Tisch umher.

Er lächelte.

Er kannte ihre »Reisen« auf der Landkarte und neckte sie jetzt damit.

Sie verneinte ganz traurig.

Ach nein, sie war schon lange nicht gereist–… schon lange nicht–… Das war einmal.

»Weißt du, daß du sehr schöne Augen hast, Else?«

Sie sah ihn innig an.

Er legte den Arm um ihre Kinderhüften, um sie auf den Schoß zu ziehen und zu küssen.

Aber eine Stimme sprach wieder davon, daß er ohne Schuld und ohne Schulden fortgehen solle. Und er nahm hastig den Arm fort und schickte sie mit einer Bestellung weg.

Gleich darauf ging er, das Geld auf dem Tisch lassend.

Als er draußen war, hatte er sie schon wieder vergessen.


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