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Der Tisch mit der Landkarte

.Draußen sind lange blaue Schilder, auf denen mit großen, weißen Buchstaben steht:

Bier
hell und dunkel,
direkt vom Faß, 4/10 Liter 10 Pfennig.

Darunter ein kleineres mit dem Namen des Wirtes Karl Grau.

Eine schmale sandbestreute Treppe führt in das Kellerlokal. Sie ist so steil und ausgetreten, daß man sich am Geländer festhalten muß, um nicht unnötig frühe unten zu sein.

Unten ist alles blitzsauber. In genau gemessenen Abständen sind die Pappuntersätze auf jedem Tisch verteilt. In der Mitte der Aschbecher.

Auf dem Büfett, hinter dem ein mächtiges Regal mit Likörflaschen, Steinkruken, Weißbiergläsern und Zigarrenkisten sichtbar wird, steht ein Blumenstrauß, wahrscheinlich von einem Geburtstag her. Er steht dicht neben dem Bierapparat.

Aber der Stolz des Lokals ist der große runde Tisch in der Ecke unter dem Fenster: seit kurzem ist er mit einer tabakgelben Glanzleinewanddecke bedeckt, auf die eine sehr genaue, mit allen Eisenbahnlinien durchzogene Landkarte gedruckt ist. Deutschland und umliegende Länder: von der Newa bis zur Seine, von der Königstadt Drontheim bis nach Lugano.

Jedesmal, wenn die hochaufgeschossene dreizehnjährige Else aus der Schule kommt und ihr Mittagbrot verzehrt hat, geht's an den runden Tisch mit der Landkarte.

Um diese Zeit ist das Lokal meist leer. Höchstens ein einsamer Gast, der aber lieber den kleinen Tisch im Winkel benützt, wo im Winter der eiserne Röhrenofen glüht.

Dann kniet sie auf den Stuhl nieder und zieht mit ihren spinnedünnen, noch etwas fettigen Fingern lange Linien quer über die Karte.

Else Grau reist dann–…

Sie kümmert sich nicht streng um die Eisenbahnlinien, die von weitem wie die einem anatomischen Atlas entnommene Zeichnung des menschlichen Nervensystems aussehen, sondern fährt oft ostentativ über die helleren Flächen. Manchmal gar über das Wasser der masurischen Binnenseen oder der Nord- und Ostsee.

Als Großstädterin, die unter Asphaltdunst und Straßenbahngeklingel aufgewachsen ist, hat sie eine Schwäche für die unberührte Natur. Die Lüneburger Heide stellt sie sich ganz wunderhübsch oder gar »furchtbar hübsch« vor: so als eine Art Prärie, wie die in den Indianerbüchern, die in der Schule zirkulieren. Da schlummern ungeahnte, ungekannte Gefahren–… Ein himmlisches Gruseln überläuft ihre Schulterchen, wenn sie daran denkt, was einem dort alles blühen kann: wohl gar ein richtiger Überfall am hellen, lichten Tage mit richtigen maskierten Räubern und richtigen vorgehaltenen Pistolen – wie in den buntgedruckten Heften, die ab und zu von Gästen hier liegen gelassen werden.

Von dem Wasser zieht sie die Ostsee vor. Da hat's ihr der Name Bornholm angetan. Bornholm! das klingt doch nach etwas! Das rasselt wie von Schilden. Wie dumm, daß es keine Ritter mehr gibt! –

Bisweilen schreckt sie die Bestellung eines Gastes aus dem Traum auf, der »noch ein Dunkles« will oder eine »Bockwurst mit Salat«. Eilig – denn Vater schnarcht nebenan auf dem Sofa im Mittagsschlaf – holt sie und bestellt sie in der Küche das Gewünschte. Und schon während des Aufstehens verwandelt sich der ärgerliche Zug ihres Gesichts in den üblichen, servilen, diensteifrigen, wie sie ihn beim Vater immer sieht.

Jetzt kommen ab und zu feine Leute her. So dieser große blonde Herr, den sie den Poeten nennen, und der eine, der immer zeichnet.

Vater sagt, sie kämen, weil sie bei ihm ein Zehntel mehr bekämen als bei anderen Wirten, und er lacht darüber. Denn im Grunde verachtet er alle, die sein billiges Bier trinken–…

Das ist aber nicht recht von ihm: es ist angenehmer, mit gebildeten Herren zu verkehren und ihre höflichen Reden zu hören, als mit den groben, schmutzigen Kunden der Nachbarschaft umzugehen.

Wie interessant die neuen Gäste aussehen!

Sie kamen sicher von weit her. Keiner berlinerte.

Jetzt ladet sie ihre Freundin, die Frida, nicht mehr ein, die Frida, die gerade so groß ist wie sie; nur viel, viel dreister. Eine rüdige Bolle.

Sonst –

Sonst reisten sie immer beide zusammen–…

Die Köpfe wurden oft rot vor Erregung, wenn sie sich über die Reiseroute nicht einig werden konnten. Die Frida ist auch zu dumm: immer nach Italien will sie! Als ob da gar keine Alpen wären und die Kletterei nun gerade Vergnügen machte!

Da war es doch an der See tausendmal schöner. Auf Bornholm. Oder schnell über die Ostsee an dem langen Zeigefinger der Halbinsel Hela vorbei, mitten hinein in die Danziger Bucht. Mußte das schön sein! Zumal später im Sommer, wo es selbst hier unten kaum vor Hitze auszuhalten war, wo die Fliegen zu Dutzenden so recht appetitlich an den aufgehängten grünen und roten Fliegenfängern angeklebt hockten –

Und es flattert die Sehnsucht der Kinderseele wie ein verirrtes Vöglein hin und her und stößt sich das Köpfchen an den Kellerfenstern wund–…


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