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Frau Isolde

.Jens Peter Pronitz war wieder in philosophischem Fahrwasser.

»Selbsterhaltungstrieb? Das ist ja der große Fehler, der bei allen Systemen gemacht wird; der Gegenpol wird ganz einfach vergessen. Vergessen und übersehen, wie gewiegte Demagogen die Einwände ihrer Gegner übersehen: sie reden immer ihren Stiefel weiter.«

»Und der Gegenpol ist?«

»Der Selbstzerstörungstrieb! Das ist eine ungeheure moralische Kraft. Wer einmal richtig unglücklich war, weiß, wie sehr es ihn dazu drängt, sich zu zerstören. Wer richtig unglücklich ist, kommt nämlich mit seinen durch das Leiden verfeinerten Instinkten der Natur näher – sehen Sie wohl. Oder denken Sie an Künstler wie Verlaine, Poe, E. T. A. Hoffmann, Grabbe! Sie alle wußten sicherlich, daß der Alkohol ihnen schadete. Aber Grabbe trank den Rum aus Wassergläsern – der Selbstzerstörungstrieb!–… Haben Sie mal vom Mahdistenkrieg gelesen? Nein? Ich glaube. Es ist keine Damenlektüre. Die Mahdisten also liefen zu Tausenden auf die feuerspeienden, englischen Kanonen los und ließen sich zerfetzen. ›Fanatismus‹ sagt man, ›Religion‹. Meinetwegen. Aber wer ist die unbewußte und um so stärkere Triebfeder, wieder und wieder?? Es hilft nichts.«

Pronitz sagte dies eifrig und hastig. Seine Worte überstürzten und überschlugen sich. Manche brachen dabei den Hals.

Neben ihm ging Frau Isolde Kraatz, mit stillem Lächeln zuhörend.

Die Sommersonne schien fröhlich auf den Tegeler See, und der Wind spielte mit dem Schilf am Ufer. Von drüben, von Saatwinkel und Valentinswerder, grüßten die Bäume herüber, deren Zweige im Windhauch auf und nieder schwankten wie große, grüne, züngelnde Flammen.

»Selbstzerstörungstrieb? Ist das nicht dasselbe wie mit dem Jungen, der seine Hände erfrieren ließ: es ist Vatern ganz recht: warum kauft er mir keine Handschuhe?«

Pronitz lachte. »Natürlich haben Sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Sie Lebensphilosophin!«

»Können Sie das Boot sehen?«

Melcher war mit ihrem Mann – Zelewskis mit Lucy in einem anderen Boot – auf den See herausgerudert. Sie selbst war nicht dazu zu bewegen gewesen. »Ich bin ein feiger Hase,« sagte sie jedesmal. So war Pronitz zurückgeblieben, um ihr Gesellschaft zu leisten. Denn sie hatte heute Geburtstag und verlangte, besonders berücksichtigt zu werden–…

Sie sahen beide aufmerksam hinaus, konnten aber nichts entdecken.

»Da hinten am kleinen Kanal liegt ein Boot mit eingezogenen Rudern!«

»Richtig. Jetzt sehe ich ganz deutlich, wie es auf und ab schwankt.«

»Das ist sicher Melcher und Ihr Gatte. Denn Lucy rudert ihre bezahlte Stunde ununterbrochen ab.«

»Das ist auch wohl das einzige, was dabei Vergnügen macht. Warum sie nur still liegen?«

Wie schön war ihre Stimme! Alles bekam tiefen, schönen Inhalt, was sie sprach. Auch das Banalste. Es tat gut, die Augen zu schließen und nur den weichen, streichelnden Zauber dieser Stimme zu genießen.

Da er aber doch etwas sagen mußte, sagte er bissig: »Vielleicht braucht ihn Ihr Gatte zu seinen statistischen Tabellen: vielleicht braucht er Angaben über den Einfluß impressionistischer Malerei auf Geisteskranke und Tuberkulöse?«

»Sind Sie auch unter die Spötter gegangen?«

Sie drohte ihm mit dem Finger und lachte leise. Und dies Lachen war wie eine Fortsetzung ihres Sprechens – wie ein letztes Tropfenrieseln–…

Pronitz erzählte von der Tour, die er vorher mit Lucy, Melcher und den Zelewskis nach Heiligensee gemacht hatte und der Rückfahrt auf dem alten Dampfer, der trotz des Alltags vollgestopft war.

Neben ihm hatte ein dickes Mädchen gesessen, das mit einem furchtbaren Parfüm durchtränkt war – Vor ihm Kinder, die mit Bosheit und Beharrlichkeit Kuchenkrümel auf seinen Anzug streuten, der sein bester war. Hinter ihm ein junges Ehepaar. Er schimpfte ab und zu, daß es auf diesem Jammerdampfer kein Bier gäbe. Sie sprach, sobald er schwieg, ununterbrochen. »Ich habe mit stenographiert, hören Sie: ›Wollen wir nicht wieder vornsitzen, wo wir saßen, als wir zu Tante Emilie fuhren? Weißte noch? Ach geh, ihr Männer seid so undankbar. Vergessen hast du's natürlich. Mit dem Hausbesitzerverein? Das war doch ein andermal. Nee, über dir aber auch!–… Nich! Du brauchst gar nich zu knutschen! Wer den Tag seiner heimlichen Verlobung vergißt, verdient das gar nicht–… Du, von dem Wasser möcht ich keinen Kaffee machen, pfui Deibel, sieh mal, wie's aussieht: ganz grün–… Ist das die neue Anlegestelle? Schon wieder ein neues Restaurant. Natürlich zum Schwoofen. Emil, weißte noch? Damals? Im Eierhäuschen? Ach geh, du weißt auch gar nischt mehr–… Ach, 'n Schleppdampfer! Ob der noch mehr ziehen kann? Junge, Junge. Nee, denn reißt er, was? Ich meine: der Strick. Ach nee, es ist doch zu schön in der Natur!‹–… Damit hatte sie recht: es war zu schön: ihre kleine Seele, die zwischen schmutzigen, himmelhohen Hofmauern in einer lärmerfüllten Mietskaserne wohl noch mehr zusammengeschrumpft war, war der Schönheit von Tegelort nicht gewachsen. Zelewski wollte übrigens dazwischenfahren und sich energisch Ruhe ausbitten. Wir haben ihn mühsam beruhigt.«

»Ist er denn so?«

»O, Zacharias Zelewski kann zornig werden wie ein Berserker!«

Darüber lachten sie beide.

Ein Dampfer kam vorübergefahren. Weiß und majestätisch kam er angerauscht wie eine Balldame. Der Rauch zerflatterte im Winde wie Spitzen.

Frau Isolde zog ihr Taschentuch und winkte zum Dampfer herüber und war stolz und selig, als der Gruß vielhundertfach von dort erwidert wurde. Sie lachte wie ein Kind.

»Wenn das mein Mann sähe!«

Wie schön sie ist – dachte er. Liegt in ihren Augen nicht der ganze Sommertag? Träumt darin nicht der Wald und der See und die Heide und die Wiesen und Kornfelder mit ihren aufschießenden Saaten, mit den Zyanen und Glockenblumen und Margueriten und zarten Wicken?–…

Sie brach errötend ab und biß sich auf ihren kleinen Finger wie ein ertapptes Schulmädel. Diese Bewegung war so duftig-naiv, so köstlich-echt.

Er wußte gar nicht, was er erwidern sollte. Er war schüchtern geworden wie ein Sekundaner. Banales mochte er nicht vorbringen. Aber dann lag die Gefahr vor, daß er es mit der Philosophie bekam, wie vorhin mit dem Selbstzerstörungstrieb. War es nicht lächerlich, dieser feinen, schlanken Frau diese dicken Zentnergewichte des Denkens zuzuwerfen? Wie plump war man doch als Mann!

Und er, der als Frauenkenner unter den Freunden galt! Oder war er wieder nicht Herr seiner selbst? Dann können freilich die merkwürdigsten Dinge passieren. Sicher haben Demosthenes und Mirabeau beim Werben um die geliebte Frau das Dümmste vorgebracht, das irgendwo aufzutreiben war.

Wie in höflicher Abwehr seiner geheimen Gedanken fragte sie plötzlich nach Lucy. Sie nannte sie seine »Braut«.

Sie hatte überhaupt so seltsame Ausdrücke mitunter. Forciert-Bürgerlich. Es hieß, daß ihr Lebensgang bißchen abenteuerlich verlaufen sei. Genaues wußte keiner. Aber sicher hing es damit zusammen.

»Ich möchte mich mit ihrer Braut näher befreunden. Sagen Sie nur, wie ich das machen soll.«

»Liegt Ihnen viel daran?«

Sie stutzte.

»Warum sollte mir nicht?«

»Ich dachte nur: weil Sie sie doch so wenig kennen.«

Einen Augenblick sah sie ihn prüfend an.

»Ich glaube, wir müssen umkehren. Unsere Ruderer werden schon zurück sein. Erzählen Sie mir was von Ihrem Renaissancedrama. Sie schreiben daran, nicht wahr?«

»Ja.«

»Wie heißt es denn?«

»Isotta.«

»Komisch.«

»Wieso komisch.«

»Der Name klingt beinahe wie meiner!«

Danach schwiegen sie–…

In den Vorgärten, die sie auf dem Weg zum Bootplatz durchschritten, war es wärmer wie draußen im Freien. Der Wind kam hier nicht her. Die Männer saßen in Hemdärmeln, und ihre Strohhüte lagen wie große Butterblumen auf dem Tisch neben den Weißbiergläsern.

Eine Schar halbwüchsiger Mädel – wohl eine Schulklasse auf dem Ausflug – saß an einem langen Tisch und schwatzte, kicherte und trank mit großen, gierigen Zügen die Milch, die in hohen, schmalen, nicht ganz sauberen Gläsern vor ihnen stand. Ein altes hageres Fräulein, auf deren blankem Nasenrücken ein Kneifer balancierte, sah mit freundlichem Lächeln auf ihre Herde. Ab und zu machte sie ein »Pssst«! wenn der Übermut zu hoch stieg und der Lärm zu groß wurde und die Nachbarn sich umblickten.

Lucy eilte ihnen entgegen.

Sie war hochrot. Wie eine Päonie. Ihr Hut war schief, und ihr dunkles Haar hing in tausend Löckchen wild herum. Schon von weitem rief sie ihm zu: »Ich habe die ganze Zeit über allein gerudert. Nun habe ich aber auch Blasen an den Fingern. Kuck mal!«

Während Isolde Kraatz lächelnd weiterging, küßte Jens Peter galant die dargereichte Hand und sagte: »Hast du dich auch nicht überanstrengt, Liebste?«

Und als sie sich zärtlich in seinen Arm legte, sagte er wieder: »Liebste« zu ihr. In demselben zärtlichen Ton wie vorhin. Wie einst–…

Aber – so hübsch sie auch gerade jetzt war – er war sich klar bewußt, daß es nur ein Gewohnheitslaut war. »Das Herz war nicht dabei.« Er schauspielerte.

Seine Blicke schweiften vor sich, wo Frau Isolde ging –

Am Anlegeplatz bemerkten sie einen kleinen Auflauf und zu ihrem Schrecken Martin Melcher als Mittelpunkt.

Er hielt einen kleinen, dicken, schimpfenden Herrn am Arm fest und brüllte ihn an: »Schämen Sie sich, ein Kind zu schlagen!«

»Das geht Sie gar nichts an,« gellte der Dicke.

»Es gibt Tierschutzvereine – und Menschen soll man mißhandeln lassen? Wenn Sie mir nicht versprechen, das nie wieder zu tun, drehe ich Ihnen das Genick ab.«

»Polizei!!!«

»Die werd' ich selber suchen. Wenn ich noch einmal höre, daß Sie – Sie Rollmops, ein Kind schlagen – – äh, Gesindel!« Damit gab er dem Gegner einen Stoß, daß er in die angesammelte Menschenmenge rollte und dort spurlos verschwand. Wahrscheinlich hatte er nirgends Gegenliebe gefunden.

»Was war denn los?« fragte Frau Isolde erstaunt.

Melcher trocknete sich die Stirne. »Er schlug ein fünfjähriges Kind. – Und ich – ihn. Voilà tout. Man sollte sich gar nicht in solche Sachen einmischen. Eselei!«

»Nein. Das war schön von Ihnen.«

Sie reichte ihm die Hand.

»Ach Unsinn,« knurrte er. Sah sie aber glücklich an.

Frau Amanda sah strahlend auf ihn.

»Er ist ein Held!!« Dr. Ferdinand Kraatz begleitete jedes Wort mit einem kurzen heftigen Nicken. »Ein Held, Isolde! Ein Sankt Georg, der den Schwachen beisteht!!«

»Ja, Ja,« sagte Isolde ungeduldig. »Wir wollen aber nach Hause. Die anderen Herrschaften sind sicher schon da.«

»Wer kommt eigentlich noch alles?«

»O, eine ganze Menge ist eingeladen. Wer kommt, kann ich Ihnen aber erst abends sagen. Herr Fresenius und Herr Marcuse, der Kunstwissenschaftler, haben zugesagt.«

»Der Lyriker kommt bestimmt.«

»Na also.«

Als sie in der stillen Straße waren, in der die Villa Kraatz lag, wollte der Doktor plötzlich einen Kuß von seiner Frau.

Aber sie sträubte sich.

»Nanu?« sagte er verwundert. »Du genierst dich wohl?« Und da er zufällig den Maler neben sich sah: »Denken Sie dran, Melcher! Heiraten Sie nicht! Der Mann ist bloß immer der Fatzke.«

»Ach, sei doch still!« Seine Frau war böse.

»Sehn Sie? Sehn Sie wohl? Na, ich bin auch schon ganz still.« Nach einer Weile fing er wieder an: »Bin ich nun still genug?«

Alle lachten. Lucy am meisten.

Martin Melcher blieb hinter den anderen zurück.

Er blickte nach Isolde.

Sie trug ein violettes Kleid. Mit einem Stich ins Rötliche oder eher: in Orange. Von dem Schimmer welkenden Weinlaubs. Es spannte sich fest um ihre Hüften.


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