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Das Bratenstück

. Ueber Nacht war der Schnee getaut.

Eine schmutzige, graue Schlammschicht breitete sich über Trottoir und Fahrdamm der Straße. Wenn Wagen oder Omnibusse vorbeiratterten, spritzte der Schmutz den Passanten bis über die Ohren. Man mochte noch so vorsichtig auftreten, – eine Pfütze verfehlte man nicht, und die eiskalte Feuchtigkeit kroch von den Füßen den Körper empor, leerte das Mark aus den Knochen und machte die Muskeln schlaff und arbeitsunlustig.

Am liebsten hätte man es gemacht wie jener Hund, der mitten auf dem Fahrdamm stehend seine Wut und seine Ohnmacht zum Himmel emporheulte, zum Winterhimmel, der spinnwebgrau über den Häusern aufgespannt war.

Es war kein gutes Wetter für Leute, die dünne Kleider und schlechtes Schuhzeug hatten.

Zacharias Zelewski gehörte zu ihnen.

Während er am Arm seiner Frau dahinschritt, zog er ein griesgrämiges Gesicht. Die vielen Falten darin schienen sich noch beständig um neue zu vermehren.

Es war doch eigentlich nett von ihm, daß er seine Frau jeden Morgen – aber auch jeden, den Gott wachsen ließ – zum Geschäft am Moritzplatz begleitete! Gott, sie verdiente zwar alles, was zum Haushalt nötig war, und noch einiges darüber. Aber wieviele taten das nicht gerade so und wurden doch nicht mit soviel Rücksicht und Liebe behandelt! Und heute holte er sich gewiß wieder einen Schnupfen. Aber es war nun einmal so –

Diese vielen jungen Leute, die jetzt die Straßen durcheilten, waren ihm unangenehm. Sie schienen alle nach der kleinen molligen Frau zu schielen, die er am Arm hatte. O ja, Amanda Zelewski war hübsch! Sie hatte die schwimmenden treuherzigen Augen der Greuzebilder oder etwa der Markgräfin Gepa vom Naumburger Dom – und ihr Gesicht hatte einen kindlich rosigen Teint. Porzellan-Teint – hatte ihn Martin Melcher mal getauft.

Nein, nein, es wäre unvorsichtig gewesen, sie allein zu lassen. Wie leicht konnte die Versuchung, eine recht freche berliner Versuchung, an sie herantreten und sie überrumpeln –

»Geh doch nach Hause!« sagte die kleine Frau. »Du erkältest dich sonst. Du weißt ja: dein Schuhzeug ist nicht in Ordnung.«

Zacharias Zelewski hielt die Hände in den etwas ausgefransten Taschen seines ehemals braunen Überziehers verborgen.

Er wurde pathetisch.

»Nein, das tue ich nicht. Meine Amanda soll nicht allein in dieser Morgenkälte wandern.« Als er ohne Antwort blieb, setzte er kleinlaut hinzu: »Eigentlich hast du wohl recht. Ich glaube, mein linker Fuß ist schon ganz naß.«

»Ja. Geh nur wieder! Und vergiß nicht, zu Hause einzuheizen. Die alten Bücher in der Kiste kannst du dazu nehmen.«

»Schlossers Weltgeschichte, ja. Ich glaube der dreißigjährige Krieg ist dran.«

Sie lachte hell auf.

»Da erleben die Ketzer doch noch ihren Scheiterhaufen.«

»Und die Papisten auch. Ich werde mit dem Kapitel über Tilly beginnen. Das nennt man ausgleichende Gerechtigkeit.«

»Also du gehst, nicht wahr?«

»Bis zur Ecke komme ich noch mit.«

»Na gut.«

Von da aus waren nur wenige Schritte zum Geschäft.

Er drückte ihre Hand und sagte mit zitternder Stimme: »Und strenge dich nicht so an, Amanda! Du weißt, was der Arzt gesagt hat: du sollst dir nicht soviel zumuten.« Und wieder in seinen pathetischen, beinahe pastoralen Ton verfallend: »Du fleißiges, tapferes Weib!«

»Adieu, Zacharias!«

Sie warf ihm einen zärtlichen Blick zu. Kindliches und Mütterliches mischte sich seltsam darin.

Bald danach trat sie in das Hofportal des großen Geschäftshauses und schritt die Treppen empor, die zur Papierfabrik von Jakob und Mechner führten, wo sie als gutbezahlte Stanzerin beschäftigt war.

Amanda Zelewski ging langsam und schwer, den Kopf gesenkt und die Lippen aufeinander gepreßt: es war jetzt der schleppende, mühselige Gang von Sträflingen, die zur Zwangsarbeit gehen. Zu einer Arbeit ohne Freude, ohne eigentlichen Sinn, ohne Aussicht–…

»Sie kommen wieder zu spät,« rief ihr der nervöse Chef zu. »Wenn das so fortgeht, müssen wir auf Sie verzichten.«

Sie antwortete nichts, sondern legte nur schnell die eingewickelten Frühstücksstullen, mit denen sie bis zum Feierabend reichen mußte, in ihr Schubfach und setzte sich an ihre Arbeit.

Inzwischen ging ihr Mann den Weg zurück, den er gekommen war. Ihm war, als fröre ihn jetzt, wo er allein ging, noch mehr. Als er in die Reichenberger Straße einbog, wurde es ihm zu arg. Konnte er nicht irgendwen aufsuchen oder irgendwo einkehren, um sich zu wärmen? Ein Schnäpschen konnte ihm nichts schaden. Man konnte dabei irgend eine Zeitung lesen und mit diesem oder jenem debattieren und politisieren. Es brauchte ja nicht lange zu sein. Eine Viertelstunde oder so.

In Debberts, trotz der frühen Stunde überfüllten Kneipe ertönte lautes Hurra, als er eintrat. Die Meisten kannte er kaum dem Namen nach. Nur Ortmann, der auf einem Reportergang hier Station gemacht hatte. Er hatte in der Naunynstraße mit ihm auf einem Flur gewohnt. Sie würfelten gerade und luden ihn zum Mitspiel ein: er war beliebt, da er meist verlor.

Aber er lehnte ab und setzte sich abseits zu Ortmann.

»Nanu, Sie geben uns 'nen Korb?«

Er nahm sich aber zusammen, griff schweigend zur Morgenzeitung und vertiefte sich darin.

Als er jedoch beim zweiten Glas war und sich mit dem Journalisten, der eifrig in seinen Notizen wühlte, kein vernünftiges Gespräch anfangen ließ – die Zeitung hatte er schon wieder weggelegt – sah er interessiert dem Spiele zu.

Ein Dicker erzählte zwischenein fabelhafte Geschichten, die mit dröhnendem Gelächter aufgenommen wurden.

»Ein toller Kerl!« sagte der Wirt anerkennend. Es war ein Mann nach seinem Geschmack: er hielt die Gäste länger auf, als eigentlich in ihrer Absicht lag, und das Lachen kitzelte die Gurgel und machte sie trocken.

Der Dicke war sich auch seiner Bedeutung bewußt und zahlte äußerst selten in bar. Heute gewann er andauernd, war bester Laune und spendierte eine Lage für das ganze Lokal. Auch für Zelewski, der dankend annahm.

Als er wiederum zum Mitspielen aufgefordert wurde, meinte er, nun aus Höflichkeit nicht ablehnen zu dürfen. Er konnte manchmal sehr höflich sein.

»Also, was wird gespielt?«

»Langer Heinrich.«

»Nein. Darin hab ich immer Pech.«

»Na, meinetwegen auch: ›Nackter Spatz‹ oder ›Vom Turm geblasen‹ oder ›Hat – Hat‹.« Der Dicke konnte zweiundsiebzig Arten des Würfelspiels.

Und dann würfelten sie. Nicht um Geld, sondern um Getränke, damit der Wirt auch was davon profitiere. Und man war ja nicht unter gewerbsmäßigen Spielern.

Erst ging es um Bier, dann um Kognak und Ingwer; und da man doch schließlich nicht so schnell trinken konnte, als man würfelte, um Zigarren und Zigaretten.

Zelewski, der zuerst gewonnen hatte, verlor allmählich andauernd.

Die andern trösteten ihn: »Das muß ein Philosoph wie Sie mit Würde tragen.«

Seine Stimmung stieg. Er war aufgeregt und begann zu reden: lange, paradoxe Tiraden, die er ihnen wie Schneebälle ins Gesicht warf. Sie hörten anscheinend bewundernd zu und stießen sich unter dem Tisch heimlich an und feixten.

Endlich trat der Wirt zu ihm und bat um Zahlung: nachher ließe sich das so schlecht berechnen.

Er wühlte in seinen Taschen und holte eine Handvoll Geldstücke hervor. Es reichte gerade.

Es blieb sogar noch etwas übrig: zwanzig, nein, dreißig Pfennig.

Noch dreißig Pfennig blieben.

Davon sollten sie zwei Tage leben! Denn vor Sonnabend bekam Amanda kein Geld ausgezahlt, und zu Hause war nichts mehr.

Er bekam Gewissensbisse. Aber sie verschwanden, als der Dicke ihn »zur Versöhnung« zu einem Schlesischen Korn einlud.

Er willigte ein, und der andere bestellte einen »Dreistöckigen.«

Es traf sich glücklich, daß Ortmann mit ihm zugleich aufbrach. Es war doch sicherer. Er steuerte bereits einen leichten, wenn auch nicht auffälligen Zickzackkurs.

In der gehobenen Stimmung, in der er sich jetzt befand, renommierte er von seiner Arbeit. Er werde nächstens ein großes philosophisches Werk herausgeben, das etwa eine Vermischung des Edelanarchismus Bakuninscher Richtung mit dem Buddhismus ergab. So eine Art neue Religion. Die Schafsköpfe von der »Glocke« hätten einige seiner Gedanken gierig aufgegriffen und verwässert. »Geschrieben ist noch nichts davon, nein, lieber Ortmann. Aber im Kopf ist es fertig. Und das ist das Entscheidende.«

Dann solle er einmal sehen, was er für einen Freund an ihm habe. Ob er ihm übrigens nicht was pumpen könne? Ortmann hatte aber nichts bei sich und versprach es für morgen.

Die Welt würde dann über Zacharias Zelewski staunen. Vielleicht, ja wahrscheinlich, würde er den Nobelpreis bekommen, wenn es dabei mit rechten Dingen zuginge. Denn es sei doch ein prominentes Friedenswerk. Der Nobelpreis beträgt an zweihunderttausend Zechinen! »Das ist kein Kakernack, mein Lieber!« Ortmann hatte auch gar nicht behauptet, daß es »Kakernack« sei.

Auch sei es so gut wie sicher, daß bei der neu zu gründenden politischen Partei, die von der »Glocke« ästhetisch-ethisch vorbereitet und nächstens fundiert werde, er einen tadellosen Posten bekäme. »Was meinen Sie wohl, wie solche Posten bezahlt werden? Ein Generalsekretär einer neuen Partei tauscht mit keinem Minister. Ich will dann auch an Sie denken und Sie protegieren. Still, Sie brauchen nicht zu danken, Ortmännchen!«

Beim Abschied umarmte er seinen geduldigen Führer.

»Grüßen Sie, bitte, Ihre Frau von mir.«

Zelewskis Stimmung schlug plötzlich um.

»Jawohl,« sagte er beinahe schluchzend. »Meine gute, gute Amanda!«

Und sich vertraulich an den anderen drängend, fügte er hinzu: »Glauben Sie: wenn ich die Frau nicht hätte, verkommen wär ich. Verkommen im Dreck. Trotz der acht Sprachen, die ich beherrsche. Verkommen wie ein Hund. Ich kann es mir gar nicht denken, wie dunkel es um mich wäre ohne sie.

Ja, so eine Frau hat Riesenkräfte. Wo unsereins längst versagt hat, findet sie noch Mittel und Wege–… Und eine Macht geht von ihr aus. Eine reinigende, befreiende Macht. Männer, die nicht verheiratet sind, verstehen das Weib nicht zu würdigen. Es sollte ihnen ein Heiligtum sein, und es wird ihnen zur – Äh, pfui Teufel! Ekelhaft, solche Menschen!«

Hier fiel ihm ein, daß Ortmann ja auch Junggeselle sei.

Er klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter.

»Sagen Sie, Ortmännchen, warum heiraten Sie eigentlich nicht? Sie sind doch wie geschaffen dazu, Gatte zu sein. Sie würden eine Frau glücklich machen, glauben Sie mir! Na? Ran an den Speck.«

Ortmann lachte, daß man alle seine gelben Zähne sah. »Das sagen Sie so. Aber woher nehmen und nicht stehlen?«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich hab' nicht Geld genug.«

Zelewski zog die Augenbrauen hoch. »Ja, dann! Dann lassen Sie es lieber bleiben, junger Mann! Man übernimmt damit natürlich eine große, riesengroße Verantwortung–… Nun, macht nichts! Vielleicht später. Und wenn ich Ihnen behilflich sein kann – Sie wissen ja, wo ich wohne.« Und er drückte ihm noch einmal jovial die Hand.

Als er – nicht ganz ohne Schwierigkeiten – oben war, schimpfte er erst eine ganze Weile über die Kälte, die in der Stube herrschte.

Amanda hatte morgens verschlafen. Er mußte also wohl oder übel einheizen.

Als er sich, immer noch in Hut und Überzieher, daran machte, Holzstückchen und Bücherdeckel der alten verstaubten Bücher anzuzünden und in das Ofenloch zu schieben, empfand er plötzlich einen stechenden Hunger.

Sollte er heruntergehen und ein Paar Rollmöpse herausholen oder ein viertel Pfund Wurst vom Fleischer?

Das war doch eigentlich sehr unbequem.

Da fiel ihm ein, daß in der Küche in der blauemaillierten Schüssel noch ein Stück Hammelfleisch sein mußte.

Nach einigem Suchen fand er es auch.

Das Fleisch war ja eigentlich für sie beide zum Abendbrot bestimmt, das Amandas einzige warme Mahlzeit am Tage war.

Darum überlegte er eine ganze Weile, ob er zugreifen solle. Aber schließlich konnte er ja ihren Teil übrig lassen.

Mit diesem Vorsatz begab er sich ans Essen.

Da das Suchen nach Messer und Gabel zu langweilig und beschwerlich war, nahm er das Fleisch in die Finger, fischte mit einem Stück Brot in dem gallertartigen Inhalt der Schüssel und aß mit schmatzendem Behagen.

Er achtete nicht darauf, daß Fleischstückchen auf seinen Anzug fielen und ihn beschmutzten. Das viele Trinken hatte Appetit gemacht. Das Trinken? Es war wohl mehr das Laufen! Vom Moritzplatz bis zum Kottbuserdamm zu laufen, hin und zurück, das machte Hunger. Wenn man solche Strapazen auf sich nahm und zudem noch geistig arbeiten mußte, war es auch nötig, dem Körper etwas zuzuführen.

Interessant übrigens, was man in solch anormalen Zuständen für einen komischen Geschmack hat! In normalen Zuständen konnte er Talg nicht riechen. Jetzt mundete er famos. Die Magennerven regierten halt den Geschmack.

Mit diesen Gedanken beschäftigt, nahm er auch das letzte Stück aus der Schüssel, aß gierig und ließ nur die Knochen übrig.


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