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Der Wildlederhandschuh

. Die drei Freunde saßen gelangweilt da. Und schwiegen.

Der Lyriker las zum zwanzigsten Male für sich seine Verse »Der Prophet«, die in der letzten »Glocke« an erster Stelle gestanden und dem Blatt beinahe die Ehre einer Konfiskation eingebracht hatten. Martin Melcher zeichnete auf dem Pappuntersatz des Bierglases einen Marabu, der aussah wie ein Professor. Jens Peter Pronitz trommelte nervös mit den Fingern auf dem Tisch und zog sein Gesicht in Falten der Bedenklichkeit.

Es war auch zu dumm! Wieviel Erfolge hatte man sich nicht von den Vortragsabenden versprochen, und wie wenig hatte sich erfüllt!

Als er damals – nach dem ersten Vortragsabend – nach Hause schritt, ging er einen Grad aufrechter als gewöhnlich: was alle ihm prophezeit hatten, glaubte er aufs Wort: er war fortan »gemacht«. Er war eine »Nummer« in Berlin.

Die Berichte würden durch die Blätter gehen. Die Verleger und Theaterdirektoren mußten davon erfahren – o, er würde schon dafür sorgen, daß sie es erführen!

Dann wurde »Der Adler« angenommen–… Angebote auf Angebote kamen–… Vertragsformulare mit vielversprechenden Rubriken flatterten ins Haus–… Depeschen kamen–… Die Agenten rauften sich um ihn und wurden nur nach vorheriger Anmeldung nach Nummern vorgelassen–… »Man bittet nicht zu drängen, um Unglücksfälle zu vermeiden–…«

Lucy, die in dieser Zeit besonders lieb war, wurde sein Weib. Er fuhr mit ihr nach Griechenland, nach Ägypten, nach Florenz. Und kehrte im bekränzten Schiff nach Hause zurück. Ein Sieger–…

Er hielt Vorträge, wo der Platz zwanzig Mark kostete, und zu denen sich der gebildete Pöbel drängte. Liebermann müßte ihn malen, Strauß und Pfitzner ihn komponieren, Wrba ihn meißeln, Rossius von Rhyn oder Endell ihm die übliche Grunewald-Villa bauen. Alle sprachen von ihm–… von ihm–… von ihm–…

Aber als er an jenem Tage nach Hause kam, lag ein fein säuberlich verschnürtes Paket auf dem Schreibtisch. Darin »Der Adler«. Und die gedruckte Absage des Theaterbüros. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, zu schreiben.

Und als er am nächsten Morgen hungrig die Blätter durchwühlte, war nirgends, aber auch nirgends eine Notiz zu finden. Erst die Mittagszeitung brachte etwas: ein paar boshafte Sätze über die jungen Herren, die mit einem fetten, väterlichen Wechsel in der Tasche Bohémiens markierten und ihre Produkte wehrlosen, harmlosen Menschen aufschwatzten. »Achtung! Hier wird Schutt abgeladen!«

Der einzige Erfolg – mit dem Kleemann und Fresenius merkwürdigerweise zufrieden waren – bestand darin, daß sich eine Anzahl lärmender, aufdringlicher Kunstnovizen beiderlei Geschlechts an die »Glocke« herandrängten und sie alle belästigten. Lauter Unpersönliche, die auf der glatten Heerstraße dahinfuhren und niemals abgestiegen waren, um im Dickicht des Waldes beim Kichern eines Bachs oder dem Gezirp eines verliebten Tieres oder den Sonnenstäubchen, die auf einem blanken Käferrücken spielten, Pan zu suchen–…

Lyrische Küchlein, die ängstlich ziepend eine gefällige, gemütliche Henne suchten, unter deren Flügeln sie sich wärmen konnten: sie bezahlten die Henne aus Erkenntlichkeit.

Ihre Titel warfen sie einem wie eine Handvoll parfümierten Drecks ins Gesicht. Es brodelte darin von »Rosenglück«, »Dämmereinsamkeiten«, »Sündigen Wonnen«, »Glücksschwangerschaften«, »Jauchzenden Sonnen«, »Singendem Blut« – zum Verzweifeln.

Ein einziges Mal waren sie wirklich gespannt gewesen, als sich »Virgo« auf der Redaktion zu Besuch angemeldet hatte. Virgo, die talentierte Verfasserin der »Flammenlieder«, in denen es von Begehren, von schwülen Stunden, satanischen Lüsten, krampfhaftem Verlangen nur so schäumte und überspritzte. Tolle Sachen–…

Sie hatten eine junge, schlanke Mondaine erwartet, bißchen entnervt, mit schwarzumrandeten, tiefen Augen – und herein trat ein kleines, fettes, häßliches, ältliches Fräulein, das seine Schüchternheit unter einer Lawine eingelernter Worte zu verschütten versuchte – uff!

Nein. Es hatte sich nicht gelohnt: Die Kunst kam zu kurz. Und was lag an dem anderen?

Man hatte sich zur Wahl des Grauschen Lokals entschlossen, das Zelewski entdeckt und als retiro empfohlen hatte. Nur die Eingeweihten kannten es. Man war vor dem Ansturm der Herde sicher.

Pronitz räusperte sich.

»Warum wohnt man eigentlich in Berlin? Woher stammt der Zauber Berlins? Ich bin nie zu einem Resultat hierüber gekommen. Ihr?«

Die Freunde zuckten verwundert die Achseln.

»Man müßte als Kunstschaffender überall anderswo wohnen als gerade in Berlin. Kennt ihr Stuttgart? Die Stadt klettert die Weinberge in die Höhe – ringsum ist alles ein Garten – das ganze Schwaben ein Garten mit seinen tausend alten, wunderschönen Städtchen darin–… Kennt ihr Danzig? Es gibt da Gassen, die genau so sind wie zu der Zeit, als der staatliche Pirat das frischgemalte Bild Memlings heranschleppte–… und vor den Toren rauschen Wälder und dahinter braust die See–… Kennt ihr Övelgönne an der Elbe? Blitzblanke Häuschen in bunten Gärten – die Elbe strömt breit und mächtig – Schiffe kommen aus der ganzen Welt, aus der ganzen Welt, Melcher! Und im Winter bauen die Eisschollen sich zu Barrikaden auf und donnern an die Strandmauer–… Kennt ihr Zons am Niederrhein? Da reitet um Mitternacht noch der streitbare Bischof von Köln durch die Gassen – und morgens liegt noch ein verlorenes Waffenstück an der Stadtmauer, an dem Judenturm oder an den Bastionen, die über das weite Schilfland vor ihnen auf den blinkenden Wasserstreifen schauen, der der Rhein ist–… Dort überall müßte man wohnen! Nur hier nicht! Nur in dieser Stadt nicht, die aus Stein und Staub und Häßlichkeit zusammengeleimt ist.«

Wieder schlug die Faust kampfbereit auf den Tisch.

»Es ist der wüsteste Steinhaufen, den man je Stadt genannt hat. Keine Lungen darin. Nur Humboldthain, Friedrichshain, Tiergarten mit ihren abgezirkelten Wegen und den schwindsüchtigen Beeten. Es gibt nirgendwo wieder in einer Stadt solch eine Menge uncharakteristischer Häuser und Gassen, solch eine Ansammlung protzig-ekler Börsen-Palazzi. Es hat eine schnodderige Bevölkerung, der jedes Kunstwerk, jede wissenschaftliche Schöpfung gerade gut genug ist, um Witze zu reißen, und die im Grunde gerade so uncharakteristisch ist wie die Häuser, in denen sie zusammengepfercht ist: mit einem Dialekt, der nur ein schäbiger Jargon ist und die heiligsten, tiefsten Gesetze der Sprache verachtet–… Es ist die Stadt, die es einem am unbequemsten macht, ihr zu entfliehen: man muß stundenlang fahren, wenn man nicht eine Natur voll Eierschalen, Wurstpellen und Bierflaschenscherben will–… Es ist die Stadt, die jeden zeichnet, der sie aufsucht; die den Starken schwach macht, die den Leisen überbrüllt, den Wartenden anrempelt, den Strauchelnden zertrampelt und den Untergegangenen verhöhnt!–… Und diese Stadt, diese Stadt voll Häßlichkeit und Haß, voller Aufdringlichkeit und Charakterlosigkeit – lieben wir!!! An ihr hängen wir, wie Schüler an dem großen Lehrer, der in die Ferne weist, – nein; wie an der Geliebten, ohne die der Tag sonnenlos und die Nacht ohne Sterne ist–…«

»Ja, aber warum?«

»Ja, warum? Ein Narr wartet auf Antwort. Rätsel der Psychologie! Rätsel unserer Kompliziertheit–… Oder möchte einer von euch hier fort, sei es auch, wohin es sei?«

»Der liebe Gott soll mich davor bewahren,« sagte der Maler.

Und der Lyriker bestätigte: »Anderswo würde ich ersticken.«

»Nicht wahr? Nicht wahr? Das ist unser aller Gefühl. Hier, wo man täglich blutig geschlagen wird! Mit Skorpionen, wie unter weiland Rehabeam!« Nach einer Weile, leise: »Oder liegt darin vielleicht gerade die Antwort? Man liebt doch am meisten das, was einem wehe getan hat–… Mann der Lyrik, ist's nicht so?«

Aber ehe der Lyriker noch antworten konnte, fuhr Martin Melcher auf: »Das ist Fachsimpelei. Lyriker sind in solchen Dingen gar nicht kompetent.« Und nach einem tiefen Atemzug: »Die Großstadt ist der Zauber! Diese unübersehbare Menge von Einzelheiten, von Einzelwillen, die mit tausend eigenen Stimmen sprechen und sich täglich erneuen und uns anreizen und noch den verstorbenen Lebensmut galvanisieren, daß er auf- und abhüpft! Es ist nicht Preußen, nicht Deutschland. Gott sei Dank, daß es das nicht ist. Aber glaubt mir: diese Stadt wird mal das, was das heilige Paris mal war: das Herz Europas. Anatomisch, will sagen geographisch, ist sie das ja sowieso. Nein, nein, scheltet nicht auf Berlin: ohne Berlin sind wir z. B. gar nicht denkbar. Das wißt ihr ja alle selber. Ohne Berlin haben wir ja gar keine Entschuldigung!!–… Um deinen Vergleich mit der Liebe anzuwenden, – ihr scheint mir dieser Liebe nicht gewachsen und macht sie schlecht. Ausreden! Nehmt euch zusammen! Ihr werdet staunen, was die Liebste wert ist!–… Sacré nom de Dieu, es ist unglaublich, was man alles zusammenschwatzt.«

Er trank sein Glas aus. Der Hals war ihm trocken: er hatte schon lange nicht soviel hintereinander gesprochen.

Dann zeichnete er an seiner Marabufamilie weiter, und der Lyriker las zum einundzwanzigsten Male seinen »Prophet«.

Schweigen.

Als Jens Peter sich einmal zufällig umwandte, sah er die Else am Ofen stehen, die großen Kinderaugen auf ihn gerichtet.

Unter seinem Blick wurde sie ganz rot, kam aber, wie an einem unsichtbaren Fädchen gezogen, zu ihm. Ganz nahe.

»Woran dachtest du eben, Else?«

»Ich möchte wer weiß was geben, wenn ich so schön sprechen könnte wie Sie.«

Dabei legte sie ihre Hand beteuernd auf die seine.

»Dafür bin ich auch Dichter.«

»Ja.«

»Hast du mich immer dafür gehalten?«

»Nein.«

»Wofür denn?«

Das aber wollte sie nicht sagen.

Nur: »Jetzt weiß ich, daß ein Dichter ja gar nicht anders aussehen kann.«

Das rührte ihn. Er hielt ihre kleine magere Hand fest.

»Soll ich mal ein Gedicht auf dich machen, Else?«

»Ach ja, bitte, bitte!«

»Was krieg' ich aber dafür?«

Sie wurde wieder rot.

»Einen Kuß?«

Sie sah ihn ernst an – etwas furchtsam – und schüttelte den Kopf.

Da ließ er ihre Hand los.

Und schämte sich etwas.

Und wußte nicht, weshalb–…

Nach einer Stunde etwa gingen die Drei.

Als sie kaum fort waren, stürzte Else an den Tisch, bückte sich und hob den Handschuh auf, der Pronitz entglitten war. Es war ein feiner, grauer Wildlederhandschuh.

Aber sie trug ihn nicht nach, sondern betrachtete ihn eine Weile beglückt, drückte ihn an ihr Herz und an ihr heißes Gesicht. Und küßte ihn. Erst jeden einzelnen Finger. Dann die Innenseite.

Da bemerkte es der Vater auf seinem Rundgang durch das Lokal. Er kam auf sie zu.

»Was ist denn los??«

Sie blieb wortlos stehen.

»Ja, kannste nich reden?« Und in einer Aufwallung des Zornes schlug er ihr eine Ohrfeige.

Sie stand ganz still und rührte sich nicht. Sie sah ihn nur starr an mit einem verzückten, entrückten Blick, den er nicht begriff, vor dem er aber unwillkürlich zurückwich. Achselzuckend.

Sie rieb auch nicht ihre Wange. Sie sah ihm nur mit einem seltsamen, halb-ekstatischen Lächeln nach. Sie war jetzt kein Kind mehr! Sie hatte um ihrer Liebe willen gelitten!

Um–… ihrer–… Liebe–… willen–…

Oben auf der Straße blieb Pronitz plötzlich stehen.

»Was ist dir?«

»Merkt ihr nichts? Mensch, schnupper mal! Es ist Frühling geworden!«

Sie sogen in tiefen Zügen die warme laue Abendluft ein, die den Blütenduft der kommenden Monate schon in sich zu tragen schien.

»Es ist Frühling geworden!!«


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