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Regine Luther

. Der 22. Juni war der Tag, wo das Verhängnis über Jens Peter Pronitz hereinbrach.

Es war ein unsinnig heißer Tag. Die Glutwellen rollten durch die Straßen, versengten Menschen und Tiere und lähmten jede Bewegung. Es war ein Tag, wo Menschen, die nichts zu tun haben und nicht zu Hause bleiben mögen, in ein kühles Restaurant oder ein Museum gehen.

Pronitz, der eben von der Zimmerstraße her die Prinz-Albrecht-Straße entlang schritt, wählte das Museum und stieg, nicht ohne zu ächzen, an den sandsteinernen Langweiligkeiten vorüber die Stufen zum Kunstgewerbemuseum empor, in dessen dunkler Vorhalle ihm eine wohltuende Kellerkühle entgegenhauchte.

In den unteren Räumen war es leer. Die schönen Möbel standen seltsam verloren. Durch die bunten Glasscheiben schwamm das gedämpfte Sonnenlicht, glättete alle Konturen und gab selbst einigen barbarischen Holzfiguren Leben, Bewegung, Farbe.

Wo waren eigentlich die Fremden, die am Abend zu Tausenden sich auf der Friedrichstraße wälzten?

Wenn nicht ab und zu ein gähnender Diener dahergekommen wäre, ihn mit ehrlicher Neugier und etwas Mißtrauen betrachtend – er hätte träumen können, daß allein ihm zu Ehren das Museum mit seinen überreichen Schätzen geöffnet sei. Warum auch nicht? Wenn Ludwig II. sich Wagner allein vorspielen ließ – warum sollte sich nicht ein anderer Souverän ausbedingen, allein in diesen kühlen, schön abgestimmten Räumen wandern zu dürfen, um vor bürgerlichem Kunstsinn Respekt zu bekommen?

Nun gut, dem Souverän Jens Peter I. gefiel es jetzt, die Denkmäler seiner Ahnen zu betrachten: die Bücher. Er wanderte die Treppe herauf zu dem Eckzimmer, wo die köstlichen Buchrücken standen – meist leer wie egyptische Königsgräber.

Da hörte er plötzlich Stimmen. Und dies Faktum wirkte so verblüffend auf ihn, daß er sich los riß und in den nächsten Saal trat.

An einem Schrank stand eine kleine Gesellschaft: zwei Damen und ein überlebensgroßer hagerer Herr, der einen grauen Zylinder trug und ihm schon aus der Entfernung durch seine seltsamen Bewegungen auffiel.

Langsam schlängelte er sich an die Gruppe heran.

Der große Herr hielt die Arme im rechten Winkel fest an den Körper gepreßt und stieß sie von Zeit zu Zeit rückwärts in die Luft, als wolle er zu Schwimmbewegungen ausholen. Die Damen zogen sich dann, soweit man erkennen konnte, vorsichtig zurück, um eine unsanfte Berührung zu vermeiden. Währenddessen sprach er unaufhörlich in trockenem langweiligen, dozierenden Ton über die ausgestellten Dinge. Mit der Stimme eines syrischen Klageweibes sang er von den Glasuren, die die italienischen Majoliken des 16. Jahrhunderts und die holländischen und französischen Fayencen des 17. Jahrhunderts aufweisen, auf die man mit Metallfarben malt, worauf man sie wiederum brennt, wobei sich die Glasur mit der Farbe vermischt und die Malerei ihre Leuchtkraft herbekommt usw.

Er war, bei der persischen Keramik, gerade dabei, klagend seine Zuhörerinnen über den hohen Schmelzgrad aufzuklären, den Porzellan und Fayence leider haben, so daß man bisher nur Kobalt-Blau benützen konnte, – als sich die ältere Dame zufällig umdrehte und ausrief: »Ist das nicht –«

Sie schien die Worte schnell zurückrufen zu wollen. Aber es war zu spät. Ihre junge Begleiterin, die wahrscheinlich froh über die Unterbrechung war, vollendete:

»Herr Pronitz, ja!«

Jetzt erkannte er sie: es war Regine Luther, die Freundin seiner Schwester, mit ihrer Frau Mama. Der begleitende Herr mit den Schwimmbewegungen war ein Dr. Canabäus, Assistent am Museum.

Pronitz bekam keinen freundlichen Blick von ihm. Aber er dachte: unsere Gesinnungen beruhen auf Gegenseitigkeit, alter Junge!

Die Begrüßung war von steifer Freundlichkeit.

Die alte Dame sprach von ihrer Italienfahrt. Es sei wunderschön gewesen, und sie hätten sich gar nicht nach Hamburg gesehnt. »Denken Sie: gar nicht!« Bloß die Küche da unten sei gräßlich und bekomme ihr gar nicht. Wenn sie dort ewig leben müßte, würde sie bald an Magenkrampf sterben. Aber schön sei es doch! Ob er Lugano kenne?

»Das ist ja noch Schweiz, Mama!«

»Ja, Kind, ich weiß ja.« Aber Genua? Rapallo? Und Mailand mit dem Dom aus Marmor. »Denken Sie: ganz aus Marmor! Muß doch ein Riesengeld gekostet haben. Noch mehr wie unsere Nikolaikirche.«

Und nun war sie in Hamburg und ihre Augen strahlten.

Anscheinend wollte sie davon erzählen, sie entsann sich dann aber wohl, daß Pronitz keine rechten Verbindungen mehr mit Familie und Heimat unterhalte, und unterbrach sich mitten im Satz mit verlegenem Räuspern.

Dr. Canabäus stieß wieder die Arme von sich und sang von den Lackfarben und der schwarzen Glasur einer venetianischen Majolika, die einer Laune ihr Dasein verdanke und eigentlich gar keine Berechtigung habe, zwischen diesen Musterbeispielen der Keramik zu stehen.

Pronitz war mit dem jungen Mädchen zurückgeblieben.

Sie sprach einige gleichgültige Worte über seine Schwester zu Hause, von der sie schon lange nichts gehört hatte. »Sie ist doch nicht krank?«

»Die Hamburger Luft bekommt ihr nicht!«

Sie lächelte und sah bei diesem Lächeln, das über ihren elfenbeinernen Teint einen rosigen Schimmer goß, wirklich hübsch aus. Sie hatte gar nichts Hamburgisches an sich. Nichts von diesen großen breitschultrigen Hamburger Deerns, denen das Blut aus den roten Wangen zu spritzen scheint. Sie war zart, schlank, von feiner, fast kränklicher Blässe, auf die auch der Himmel Italiens keine Sonnenspuren aufgedrückt hatte, und die durch das ebenholzfarbene Haar noch stärker betont wurde.

Aber Pronitz sah in ihrem Lächeln, in ihren feinen offenen Bewegungen die Heimat verkörpert, die er doch in tiefster Seele liebte. Wenigstens liebte er sie in diesem Augenblick–…

Mein Gott, wie schön Regine war! Wie zart und fein!

Jetzt entsann er sich mancher Stunde, die er als junger Mensch mit den beiden Mädels verbracht hatte. Beim Croquetspiel in dem väterlichen Park. Bei den Tanzstunden, wo er eine so schlechte Figur machte und sie durch ihre Grazie auffiel. Bei Ruderpartien auf der Außen-Alster, die immer mit einem Kaffee im Uhlenhorster Fährhaus endeten.

Sollte er sie daran erinnern? Immer schwebte es ihm auf der Zunge: denkst du noch daran? Denkst du?

Aber sie sprach weiter über gleichgültige Dinge. Meist in kurzen Fragen, auf die eine Antwort kaum erwartet wurde.

Das täuschte ihn jedoch nicht–… In dem feinen Lächeln, das ihre ganz schmalen Lippen umspielte, lag ja die Erinnerung an die Heimat, an die Jugend – an die Zeit der Sehnsucht.

Ja, es war klar: sie hatte sich immer nach ihm gebangt–… Wie konnte es auch anders sein! Den einzigen Bruder der einzigen Freundin! Den einzigen männlichen Gespiel ihrer Kindheit! So etwas saß mit tiefen Wurzeln innen drin und ließ sich nicht ausreuten–…

Und auch das andere war ihm jetzt klar: ihre echt weibliche Evaschlauheit hatte sie beide hier zusammengeführt–… Wie das möglich gewesen war, darüber legte er sich gar keine Rechenschaft ab. Er hatte genug mit seiner Freude zu tun.

Sie sprach von dem berliner Asphalt, der in der Hitze weich zu werden drohte.

O, er kannte das! So sprach man, wenn man den Schlag seines Herzens übertönen wollte, wie sehr, wie sehr, wie sehr man verliebt war.

Sollte er es ihr nicht einfach sagen, daß er sie liebte?

Im nächsten Zimmer ging es vielleicht.

Der Sturm kam über seine Seele. Ja, er wollte es sagen! Ganz ruhig, ohne Überstürzung, so, wie es ihrer kühlen, nordischen Art entsprach. Er würde einfach sagen: »Regine, ich weiß ja, welch Wort Sie von mir erwarten. Nun denn – ich liebe Sie sehr – seit den Tagen meiner, unserer Jugend –«

Wie vornehm-kühl sie blieb! Diese Sicherheit, diese Selbstbeherrschung fesselten ihn. Solch eine Frau brauchte er. Nicht eine, die in seine Flammenseele immerfort hineinhauchte –

Er sagte sich: an der hohen chinesischen Vase dort im nächsten Zimmer wirst du es sagen!

Aber als er ins nächste Zimmer vorging, blieb sie zurück. Und es dauerte eine Weile, bis sie nachkam – mit den anderen.

Dr. Canabäus zog wieder die Arme an und erzählte von dem Alchymisten Johann Böttger, der Anno 1709 in Dresden hinter das Geheimnis des chinesischen Porzellans kam.

Warum sprach dieser Mensch nur immer von diesen gleichgültigen Dingen, die niemanden was angingen? Man sollte es ihm verbieten –

Da geschah etwas Furchtbares.

Regine wandte ihre Blicke von ihm zum Doktor. Dieser sah ihn einen Augenblick von oben prüfend an. Und dann lächelten beide ein herablassendes, mitleidiges Lächeln.

Das alles geschah nur in dem Bruchteil einer Sekunde.

Aber Jens Peter hatte es genau beobachtet, und er fühlte in diesem Augenblick ganz deutlich, wie sein Herz einen Schlag aussetzte und wie der Boden unter ihm wankte.

Er sah hilflos an seinem Anzug herab. Der war freilich reichlich schäbig, ohne Bügelfalten, die Knie ausgebeult – und oben am Jacket fehlte ein Knopf. Und er entsann sich auch, daß er keinen sauberen Kragen um hatte. Er fühlte alles mit peinlicher, grausamer Deutlichkeit.

An all diese Kleinigkeiten hätte er all diese Jahre nicht gedacht. Aber jetzt – jetzt – –

Sie trat etwas zurück, als neue Besucher in das Zimmer kamen.

Da wußte er es: sie genierte sich. Es war ihr peinlich, mit ihm gesehen zu werden!

Und in dem Augenblick, der dieser Erkenntnis folgte, wachte der Wunsch auf, das Gebet: »Möchte sie nur nicht die Fusseln am Kragen sehen!!–… Ich weiß, sie sind da. Aber zum Teufel, wer hat mich denn bis heute darauf aufmerksam gemacht? Was fragen Melcher und Zelewski und Kleemann und der Lyriker und Fresenius danach? Ich kann doch nichts dafür. Wenn ich in Hamburg wäre – –«

Jetzt sah sie ihn wieder an.

Jetzt sieht sie doch die Fusseln am Kragen und jetzt, wo sie verlegen zu Boden sieht, – deine groben Schuhe mit den schiefen Absätzen – – o, Frauen haben einen scharfen Blick dafür!

In dem zusammengepreßten Herzen fühlte er einen Schmerz.

»Ich muß fort,« empfand er.

Dr. Canabäus zog wieder wie ein aufgezogenes Spielzeug die Arme an. Das japanische farbig glasierte Steinzeug hatte es ihm angetan. Auf einem zusammengerollten Eichenblatt, das als Schale diente, saß eine dicke Kröte, deren Gesicht unverkennbare Ähnlichkeit mit dem seinen hatte. Sie schien es zu bemerken: ihre Augen waren interessiert auf ihn gerichtet.

»Wie kann ich nur fort?« dachte Pronitz. »Unauffällig oder brüsk, – gleichviel. Nur fort!«

Denn sie würde wieder lächeln.

Und dies Lächeln durfte er nicht mehr erleben. Denn dabei würde er etwas Gewaltsames tun. Das würde er ein Jahr lang nicht verschmerzen.

Er mußte fort von hier. Und ihm war, als ginge er nun erst aus seinem früheren Leben, aus Heimat und Familie fort. Aus einer Welt, die nun erst ihre Türe hinter ihm schloß.

Stammelnd sprach er etwas von Verpflichtungen – leider – und auf Wiedersehen – – – Dann war er im Nebenzimmer.

Hier sah er sich noch einmal um; dort ihre schlanke Gestalt – jetzt der große Hut, der wie ein weißer Vogel über dem dunklen der Mutter schwebte – jetzt war sie verschwunden – – –

Jetzt, wo sie nicht mehr vor ihm stand, überfiel ihn der Gedanke: sie wartete nur auf ein heißes Wort von dir! Aber das verflog schnell.

Es überwog nur noch die Furcht, ihr jetzt zu begegnen. Er lief durch die Kabinette, die Treppe hinunter, stieß an eine Vitrine, daß sie klirrte. Er merkte es nicht.

Er lief einen Diener an, vergaß seinen Stock aus der Garderobe zu holen, stürzte die Stufen draußen beinahe herab und hielt erst an, als er wieder in der Prinz-Albrechtstraße war.

Hier konnte sie ihm nicht begegnen, nicht über ihn lächeln.

Doch als eine Dame um die Ecke bog, die eine ganz vage Ähnlichkeit mit ihr hatte, begriff er, daß er auch hier nicht sicher war. Er ging in die Königgrätzer Straße und flüchtete in ein kleines Bierlokal, daß in einer ihrer Querstraßen lag.

Hier würde er bleiben, bis es dunkel ward, bis er im Schutz der Nacht heimlich wie ein Dieb auf Umwegen nach Hause gehen konnte. Denn er schämte sich, er schämte sich.


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