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Als Vorspiel:

Scherzo

aus
Chopins H-moll-Sonate
op. 58

 

 

Das konfuse Fest

.Martin Melcher, der Maler, zirpte auf seiner Gitarre und sang halblaut den Schlußvers des sentimentalen Montmartreliedes, das er von seinem letzten Pariser Aufenthalt – vor einem Jahr – mitgebracht hatte, und das im wesentlichen sein Repertoire bildete.


» … Chers petits bouquets de deux sous
A votre langage si doux
On s'habitue.
Pourtant, ô perfides joujoux
Sous vos attraits, que cachez-vous?
L'amour qui tue–…
«

Jens Peter Pronitz, der Dichter der »silbernen Katze«, stand am Fenster und drückte sich die Nase an der kalten Scheibe platt.

Da draußen war Weihnachten. Berliner Weihnachten.

Sah er in den Fenstern gegenüber nicht die Lichtpyramiden aufflammen, klein und bescheiden, wie es sich für den vierten Stock ziemte? Sah er nicht die paketbeladenen Menschen auf den Straßen? Die schmunzelnden Ladenbesitzer, die abgehetzten Verkäuferinnen – Und die Tannenwälder, die jäh aus dem Asphalt gewachsen waren – Und die verfrorenen, mickrigen Kleinen, die Hampelmänner und Baumschmuck anpriesen – – Sie alle umrauscht von den wirbelnden Takten der Symphonie der Wintersonnenwende.

Der Maler war fertig. Die Saiten schwirrten noch einmal, und der Ton kletterte zu eisiger Höhe hinauf.

»Schrumm!« sagte Zacharias Zelewski, der einmal Theologe gewesen war und jetzt als »Privatgelehrter« das Berliner Adreßbuch zierte. »Dissonanzen sind ein feines Symbol für die Zustände eines modernen Menschen an solch kitschigem Tag.«

Der Lyriker, der in der anderen Sofaecke saß, stopfte sich eine neue Zigarette und schmunzelte.

Pronitz drehte sich um und seufzte etwas: hier hörte man nichts von seiner Symphonie, oder man mühte sich doch, nicht hinzuhören.

» L'amour qui tue,« sang der Lyriker noch einmal, und er zog das » tue« so lang, daß es aus dem Ventil eines Dampfkessels zu kommen schien.

Die Reste eines üppigen Menüs türmten sich auf dem Tisch auf. Bratenfragmente, Lachsfetzen ließen sich sehen. Halbvolle Gläser stritten sich mit Tellern, aufgeklappten Taschenmessern, Zigarren und Zigaretten um den Platz. Nur die viereckigen, gemütlich dreinschauenden Likörflaschen beherrschten einstweilen das Schlachtfeld.

Einstweilen. Denn nun griff Zelewski nach der zunächststehenden und goß sich einen Danziger Kurfürsten ein. Einen großen natürlich. Einen »kleinen Kurfürsten« kannte er ebensowenig, wie die Geschichtschreibung einen solchen kennt.

»Es ist ein gutes Rezept, verehrte Zeitgenossen, daß man vor einem Schnaps einen Schnaps und nach einem Schnaps einen Schnaps trinken muß. Sonst bekommt er nicht. Das hat mir mal ein Medizinmann gesagt, der meine volle Hochachtung und mein uneingeschränktes Vertrauen genoß. Ich schenke euch dies Rezept. Ich bin heute in der Gebelaune.«

Dabei spülte er einen Benediktiner herunter und ließ ihm einen Kümmel folgen. Sein faltiges kleines Gesicht war ausnahmsweise stark gerötet, und der ergrauende Schnurrbart mit den weißen Stoppeln auf Kinn und Wangen markierte sich deutlicher als sonst. Seine runden, scharfen Augen hinter den Brillengläsern blitzten.

»Willst du nicht aus deinem ›Adler‹ vorlesen, Jens Peter?«

»Ich habe bloß die Urschrift da. Die kann ich nicht entziffern.«

»Alles andere ist im Käfig des Theaterlektors. Ich weiß. Aber es wird Zeit. Laß das elende Viech auffliegen! Es wird hohe Zeit. Die Renaissance nimmt überhand. Jeder Friseur unterhält dich über Donatello und die Paradiesestüre am Baptisterium zu Pisa –«

»– Florenz,« verbesserte der Lyriker. »Ich habe erst gestern ein Sonett darauf geschrieben.«

Zelewski überhörte Richtigstellungen.

»Oder sei originell! Mach eine Tragödie oder Komödie des Alkohols! Ich schenke dir eine Idee, eine, nach der sich alle die unsauberen Finger belecken werden, alle Theaterdirektoren, die es aufführen und Millionen damit verdienen werden.«

»Natürlich.«

»Ruhig, Palettenmeister! Also es gäbe da einen Herrn Whisky, Fräulein Anisette, Onkel Bommerlunder, Großpapa Steinhäger –«

»Ich liebe den Onkel,« unterbrach Pronitz.

»Bitte, geniere dich nicht! Enträtsele ihre Psychologie, ihre Bedeutung für den Einzelnen, das Weltall und erwecke Furcht und Mitleid. Furcht vor deinen nächsten Werken und Mitleid mit den Temperenzlern. Ich übersetze es dir ins Englische, Persische – wohin du willst. Und Martinus macht den Buchschmuck der fünfzigsten Auflage der Buchausgabe auf Kaiserlich Japan-Papier. Das wirkt besser als eure Blut-Fatzkes aus der Renaissance, glaubt mir.«

»Sag nicht ›Temperenzlers‹ bat der Lyriker gequälten Angesichts. »Es gibt mir jedesmal einen Stich durchs Herz, daß es Leute gibt, die etwas aus Tassen trinken.«

»Mir soll das keiner im Krematorium nachsagen dürfen.«

»Mir auch nicht.«

»Nieder damit! An die Laterne mit ihnen!«

Und sie stießen alle vier darauf an.

»Meine Frau singt jetzt bei ihrer Schwester Sti–hil–le Nacht. Ich sollte auch mit. Es ist zum Schießen.« Und Zelewski schüttelte sich vor Lachen.

»Das verstehe ich nicht,« fuhr Pronitz auf. »Eine Frau haben, eine Engelsfrau wie deine, die du gar nicht verdienst, – und dann hier sitzen und sich volltrinken, als ob man eine Zisterne wäre!! An solchem Tage müßte man sich drei Mark in die Tasche stecken, einen Busch Schneeglöckchen kaufen und sie einem lieben Menschen schenken, seiner Frau–… oder einem hübschen Mädel, das man sieht. Das wäre was!«

»Warum tust du es dann nicht?« Zelewski saß wie ein gereizter Jaguar.

»Ja, wer soll es wohl sein?? Ach, irgendwo ist Liebe und wartet auf einen. Irgendwo öffnen sich Arme. Irgendwo setzt die Uhr zum Schlagen an und will die Stunde anzeigen, die für die Liebe, für die große Liebe bestimmt ist. Und sie schlägt zu Ende. Und man weiß nicht, daß sie einen rief. Und man bleibt in seiner Bude und trinkt Danziger Kurfürsten – –«

»Kater vor dem Rausch,« konstatierte der Lyriker.

Melcher zuckte die Achseln.

Aber Pronitz ging gedankenvoll auf und ab, soweit es der sehr beschränkte Raum gestattete, und stieg dabei mit großem Geschick über die ausgestreckten Beine der Freunde hinweg.

»Man sollte jemand beschenken. Weihnachten ohne etwas zu schenken – welch ein Unsinn!«

»Such' dir doch deine Schneeglöckchendame!« höhnte Zelewski. »Beschenke sie und grüße sie schön von mir!«

Pronitz blieb vor ihm stehen.

»Aber das wäre ja kein Beschenken! Begreifst du das nicht?? Das wäre ja nur ein Kauf! Man würde für die Schneeglöckchen – Lächeln kaufen. Für drei Mark Lächeln. Für drei Mark Sonnenschein. Wintersonnenschein, der so verflucht teuer ist.«

Zelewski grinste ihn intensiv an und war gerade im Begriff, ihm eine gutgeformte Grobheit zuzuwerfen, als es klopfte.

Der Lyriker, der der Türe zunächst saß, öffnete.

Draußen stand Frau Kuhnert, Pronitz' Wirtin, und hielt ein kleines Tannenbäumchen in der Hand.

»Es ist eben – entschuldigen Sie man – hier abjejeben.«

Und als keiner der Viere zugriff:

»Für Herrn Pronitz.«

Pronitz stand auf und untersuchte den Baum. Es waren Lichte daran, ein paar bunte, geschmacklose Kugeln und Figuren und Wattetupfen, die wohl den Schnee markieren sollten. Aber kein Lebenszeichen dabei: Nichts. Nichts.

»Schmeiß es 'raus,« riet Zelewski freundlich.

»Wir sind kein Pastorenkonvent!«

»Wer hat es gebracht, Frau Kuhnert?«

Sie war nicht zu Hause gewesen. Nur ihr Fritz. Dem hätte es eine Dame für den Herrn Doktor gegeben.

War sie wenigstens hübsch gewesen?

Davon verstand ihr Fritz noch nichts. Gott sei Dank. Und im übrigen hätte sie zu tun und wünsche vergnügtes Fest.

Damit war sie fort, und der Dichter drehte den Baum verlegen in der Hand.

»Was macht man nun bloß mit dem Gestrüpp?«

»Da es von einer Dame ist, kannst du es nicht zurückweisen,« sagte der Maler sehr bestimmt. »Und schließlich stört es ja auch nicht!«

Mit Stimmenmehrheit wurde beschlossen, das Gestrüpp zu behalten und es auf den Vertikow zwischen die dort aufgestapelten Bücher und Broschüren zu setzen.

Dort stand es nun und trug – so klein es war – einen ganz feinen leichten Duft vom Walde in die wüste Bohèmestube–… von dem märkischen Walde, der jetzt verschneit und voller blitzernder Kristalle in tiefem Schweigen stand–… und zum klaren, dichtbesternten Himmel seine Arme reckte–…

Zelewski schimpfte auf alle Sentimentalität im allgemeinen und auf dies konfuse Fest im besonderen, das nicht germanisch, nicht christlich, nicht hebräisch sei. Es sei nur neudeutsch, preußisch. Vernünftige, kultivierte Nationen wüßten nichts von solchen Absurditäten. Und er selber könne beim besten Willen keinen persönlichen Standpunkt zu dem Sohn von »Bettelheim« finden.

»Bettelheim,« wiederholte er paarmal. Das Wort gefiel ihm. Er goß sich darauf einen Likör ein.

Aus irgend einem Stockwerk her klangen Weihnachtslieder. Gedämpft. Melancholisch. Falsch. Wie hastiges Singen furchtsamer Kinder im Dunkeln–…

Nun waren sie alle still und horchten.

Nach einer Weile sagte Pronitz, wie aus tiefem Traum heraus: »In dieser Zeit roch es bei uns immer nach Kuchen und Tannen. Und meine Schwester hatte Stickereien auf den Gabentisch gelegt–… Tränenden Auges–… Denn sie waren nicht fertig geworden–… Sie wurden nie fertig.« Und in sein geliebtes Hamburger Platt verfallend, sagte er leise, müde lächelnd: »Littje Söte!«

Der Lyriker trommelte auf dem Tisch. »Manchmal habe ich zu Hause in Labiau den Kuchen mit eingerührt und die Rosinen hineingesteckt und den Kardamom.«

»Kardamom? Unsinn! So was nimmt man nicht zum Kuchen,« erklärte Pronitz kategorisch.

»Aber natürlich!« fuhr der Lyriker empor. »Ich schmecke es ja noch auf der Zunge.«

»Das würde jedes Gebäck um seinen eigenen Geschmack bringen. Du verwechselst es wahrscheinlich mit Sukkade oder etwas anderem.«

»Ich denke nicht dran.«

Eine ganze Weile stritten sich die beiden Poeten um das Problem des Kardamom.

Zelewski lachte heiser.

Martin Melcher war noch ernster geworden, als er ohnehin von Natur war.

Wo war seine Kindheit gewesen? Er kannte nur ein müdes, kränkliches, verweintes Frauengesicht, das sich über ihn neigte und das ihn geküßt hatte. Bis zum siebenten Jahr. Da kam er zu Fremden und in die Schule und erfuhr zu seiner schmerzlichen Verwunderung, daß auf ihm ein Makel läge; er hatte keinen Vater.

Wo war seine Kindheit gewesen? Er hatte sie nie gespürt. Nur gearbeitet. Erst in der Schule. Hart angespannt. Denn sein Kopf war nicht hell und brauchte Stunden zu Dingen, die andere in Minuten erfaßten. Dann im Kampf um die Kunst, die ihm Herzblut gekostet hatte. Und ob er auch, glücklicher als mancher Kollege, einen schützenden Mäzen gefunden hatte, – immer war er gequält von einer unbegründeten, undefinierbaren Furcht vor der Zukunft: vielleicht ein Erbteil aus der Zeit her, da ihn die Mutter in Angst und Sorge getragen.

Wo war seine Kindheit gewesen?

Er ging zu dem Baum, steckte die Lichter an, ohne daß ihn einer daran hinderte, und sagte: »Bitte, Jens Peter, lies was vor!«

»Von mir? Ich habe keine Lust.«

»Dann was andres. Aber etwas, das es in sich hat.«

Pronitz suchte in seinen Bücherschätzen. Halbvergraben unter den roten Heften des Montagblattes »Glocke«, dem sie alle nahe standen, lagen die Bücher aufgestapelt, die sich der Dichter in guten Zeiten gekauft. Stirner? Nein, das paßte heute wohl nicht. Ibsen – Conradi – »Das Lied der Menschheit« – Bleibtreu – Hauptmann – Zolas »Germinal« – – Da kam ihm der Zarathustra in die Hand; und als er ihn durchblätterte, kam ihm das Kapitel vom »Baum am Berge« vor die Augen.

Er schob die Lampe näher und las langsam die feierlichen Worte – bis zu dem Schluß, der wie Orgelgebraus ist:

»Aber bei meiner Liebe und Hoffnung beschwöre ich dich: wirf den Helden in deiner Seele nicht weg!–…«

Ein Lichtchen nach dem andern erlosch–… Ein Tannenzweig brannte, knisterte, vergoldete sich mit dem Gold der Funken, knisterte noch einmal, sprühte Asche herab und verglomm.

In das feierliche, beinahe ängstliche Schweigen sprang plötzlich die Stimme Zelewskis:

»Wir haben ja ganz die Würste vergessen, die teuren Frankfurter Würste zu dreißig Pfennig das Stück!«

Melcher sah ihn resigniert an. »Du kannst nichts ernst nehmen, wie?«

»In Berlin ist nichts ganz ernst zu nehmen.«

»Na ja. Im übrigen hat er recht. Die Würste sind wirklich vergessen. Wer hat denn noch Appetit?«

Alle verzichteten.

»Dann morgen zum Katerfrühstück,« schlug Melcher vor.

Aber der Lyriker fuhr freudequiekend auf. »Ich weiß was Besseres als dies verächtliche Aufsparen. Auf Wiedersehn!« Und zur Verwunderung seiner Freunde war er im nächsten Moment barhäuptig zur Türe hinaus, und man hörte ihn die Treppe hinunterspringen.

Nach einer Weile kam er zurück, von tosendem Beifall begrüßt; unter seinem Arm trug er ein kleines zottiges Bündel, das sich bei näherer Betrachtung als ein Hund legitimierte.

»Der Friseur von unten hat ihn mir abgelassen. Er jaulte und miefzte. Er, d. h. der Hund. Das Borstentier protestierte auf diese Art, als ich ihn mit gebührender Feierlichkeit zum Feste einlud.«

Pronitz, der Kenner war, untersuchte das Tier auf Flöhe.

Melcher rief ihn bei dem selbstgewählten Namen »Butzi.«

Zelewski gröhlte ihn an: »Hundsvieh, miserables, wirst raus?? Ks– Ks– such' Kätzchen – such – Ks– ks–«

Der Lyriker aber hockte auf dem Bettvorleger und sagte mit der Stimme eines Muezzin, der vom Minarett zum Gebet ruft: »Gib mir zum Gruß deine biedere Rechte, wackerer Vierfüßler!«

Der Hund sah ängstlich von einem zum andern.

Er war nicht schön. O nein. Aber man konnte ihn keiner bestimmten Rasse zum Vorwurf machen. Er war eine konzentrierte Hundeausstellung. Doch er schien Gemüt zu besitzen und blinzelte verständnisvoll zu dem grünen Bäumchen hin.

Als er sah, daß Melcher die Würste daran befestigte, brachte er sogar seinen Schwanzstummel in schwingende Pendelbewegung.

Bevor er die Würste erschnappen durfte, mußte er eine lange Festrede Pronitz' über sich ergehen lassen, die in die Behauptung ausklang: »Ihr Hunde seid doch bessere Menschen.« Dann fuhr er aber rücksichtslos in das Grün, sich unbedenklich die Schnauze durchlöchernd, riß die Würste ab und schlang, schlang, als hätte er den ganzen Appetit des ganzen Jahres für diese eine Mahlzeit aufgespart.

Pronitz behauptete, daß er anschwölle.

Als er mit allem fertig war, sah er sich mit bescheidener Neugier nach anderen Delikatessen um und er versuchte dabei, ein harmloses, verbindliches Lächeln in sein haariges Gesicht zu legen.

Es mißglückte aber.

»Ja, ja,« sagte Pronitz. »Weihnacht erhält die rechte Weihe doch erst durch eine Bescherung.«

Darin stimmten ihm alle bei, und Zelewski goß sich zur Bekräftigung einen Benediktiner ein.


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