Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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Der Pfarrer hatte noch vieles auf dem Herzen und nahm die Einladung Bornholms, ihn nach Hause zu begleiten, gern an. Eine Weile 330 wanderten sie schweigend nebeneinander. Unter allen, die ihnen begegneten, war keiner, der nicht durch irgend ein Zeichen sein Staunen oder sein Bedauern darüber zu verstehen gegeben hätte, daß der geliebte und verehrte Seelsorger sich in der Gesellschaft Bornholms treffen ließ.

»Ist die Mißstimmung der Leute gegen Sie immer so arg gewesen?« fragte der Pfarrer endlich.

»Ich glaube ja, ich habe keine Notiz von ihr genommen.«

»Wenigstens hat sie sich früher nicht getraut, sich offenkundig zu äußern. Es muß jemand da sein, der die Leute gegen Sie aufhetzt.«

»Wahrscheinlich besorgt das mein Bartolomäus. Ich bin kein bequemer Herr, am wenigsten für den alten Stützkopf, der seit Jahren gewohnt ist, selbst Herr zu sein. Ein Greuel sind ihm die Sendungen aus Australien. Das gottlose Zeug verpestet ihm die Zimmer; er hält jedes Fell, das ich auspacke, für eine gegerbte Menschenhaut oder doch für ein Stück davon und wollte gestern durchaus einen Fischerspeer begraben, weil er behauptete, seine Spitze sei aus 331 Menschenknochen gemacht. Ich muß nur trachten, diese Sachen bald fortzubringen, um sie vor ihm zu retten.«

»Unsinn, das ist ja lauter Unsinn, was der sich einbildet! Freilich hat der Unsinn leider Gottes viel dreinzureden in dieser Welt. Aber, lieber Herr Bornholm, es wird doch auch noch manches andere geben . . .«

»Es gibt die Geister der Vergangenheit, die Erinnerung an die Bedrückung, die die Eltern dieser Leute durch meinen Vater erfahren haben . . . und dann meine Jugend, mein eigenes, tolles, frevelhaftes Treiben . . . das lebt alles wieder auf.«

»Freilich, freilich,« sagte der Pfarrer zögernd, »es ist damals viel gesündigt worden, das sich vor den Menschen nicht wieder gut machen läßt. Die schleudern dann ihren Bannfluch. Verzeihen Sie, lieber Herr Bornholm, ich bin nicht Ihr Ratgeber, ich bin gar nicht befugt . . . wenn ich aber schon so viel gesagt habe, will ich noch mehr sagen, will ich alles sagen. – Gehen Sie auch nicht nach Velice, lieber Herr Bornholm . . . Wegen der jungen Leute. Wenn ich 332 schief angesehen werde – ich halt das aus. Die jungen Leute, die . . . Es sind doch erst ein paar Jahre, seitdem Frieden – vielleicht sogar nur ein fauler – zwischen ihnen und denen im Dorfe herrscht. Soll der wieder gestört werden, wäre das gut? Sie finden gewiß, daß es nicht gut wäre, lieber Herr Bornholm.« Zagend wendete er sich zu ihm.

Levin erwiderte seinen Blick nicht, er nagte an der Unterlippe und sah starr in die Ferne. Wieder schwiegen beide, und am Eingang des Pfarrhausgartens angelangt, verabschiedeten sie sich kurz. Der Pfarrer hatte aber seine Schwelle noch nicht erreicht, als er Bornholm rufen hörte: »Halt, Hochwürden, halt!« Er blieb stehen und erwartete den Heraneilenden.

»Wollen Sie mir erlauben,« fragte dieser, »Ihnen die Hand zu drücken?«

Der Priester reichte ihm die Rechte: »Ich bitte nur, nicht so stark wie früher.«

»Leben Sie wohl, Hochwürden,« sprach Bornholm langsam und ernst und verließ den Garten. Der Geistliche sah ihm nach und zuckte bekümmert die Achseln, als er ihn die Richtung 333 nach dem Schlosse einschlagen sah. Er hatte ihn doch gebeten, nicht mehr hinzugehen. Aber welchen Eindruck macht die Bitte eines Dieners des Herrn auf solch einen Ungläubigen?

Wie schon der Tag wächst! wie rasch dem längsten entgegen, und drüben in der Kolonie, dem kürzesten . . . »Drüben,« sagt Bornholm noch heute, wenn er an seine zweite Heimat denkt, an seinen Garten mit den herrlichen fremdartigen Blumen, den silberblätterigen Akazien, den Riesenbäumen mit Palmenschäften, Laubwerkkränzen, majestätischen Kronen . . . Er denkt an den blauen, südlichen Himmel, die klare, durchsichtige Luft, in der Auge und Ohr geschärft scheinen, den tiefen, göttlichen Frieden einer australischen Landschaft. Er hat sich ihm dort drüben doch zeitweise ins Herz gesenkt, dieser Frieden. An den Stätten seiner Kindheit und seiner Jugend blüht er ihm nicht mehr.

Der weithin tönende Schlag der Schloßuhr verkündete die sechste Stunde, als er den Park erreichte. Die Vögel zwitscherten; unscheinbares Völkchen, bettelhaft angetan im Vergleich mit ihren Geschwistern auf der anderen Hemisphäre, 334 aber was ersetzt den Wohllaut, der den Kehlchen dieser kleinen Sänger entströmt?

Die Sonne war untergegangen, ein lauer Dunst entstieg dem Boden, das junge Grün an Bäumen und Sträuchern prangte in Kraft und Saft, das Riedgras blühte, und die Veilchenbeete dufteten.

Bornholm schritt langsam dem Schlosse zu. Vor der Einfahrt lungerten einige Diener, die seine Frage, ob Herr von Kosel zu Hause sei, bejahend beantworteten, aber keine Anstalt trafen, ihn anzumelden.

Er ging hinauf (ihm das zu wehren, wagten sie nicht), fand im Vorgemach Balthasar so fest eingeschlafen, daß es ihm leid tat, ihn zu wecken, und er an ihm vorüber bei Kosel eintrat. Wie gewöhnlich war der Türvorhang zwischen den zwei Zimmern zurückgeschlagen, er sah Elika am Schreibtisch ihres Vaters sitzen, vor einem großen liniierten und rubrizierten Bogen. Sie hatte seinen Schritt gehört und sich umgesehen. Der Besuch Bornholms schien sie nicht zu überraschen; mit wenigen, ruhigen Worten sagte sie, der Papa werde gleich kommen, er sei in der Bibliothek 335 mit dem Buchbinder, der einige Bände Zeitungen gebracht habe.

»Ich habe die Namen und Nummern hier einzutragen in den Katalog. Aber wollen Sie sich nicht setzen?«

Levin hatte eine Regung des Bedauerns. Armes Ding, das einen Zeitungskatalog führen muß. Armes fünfzehnjähriges Ding . . .

Sie hatten vor dem runden Tisch auf den grünen Fauteuils mit den Metallknöpfen, die Tante Charlotte so albern fand, Platz genommen. »Ich komme, um Abschied zu nehmen,« sagte Bornholm. »Ich habe mich entschlossen, meine Sammlungen doch selbst zu überbringen. Es ist besser und,« fügte er mit forciertem Humor hinzu, »mit weniger Mühsal verbunden, als der Transport dieser Sachen auf Buschwegen gewesen ist.«

Elika hatte alle Mühe gehabt, ihre Bestürzung zu verbergen; es war ihr aber so ziemlich gelungen. »Und wann werden Sie abreisen, Herr Bornholm?« fragte sie.

»Morgen, ganz früh. Ich habe Nachrichten erhalten, die mich zwingen, meine Reise so bald als möglich anzutreten.«

336 Ich weiß, dachte Elika, was für Nachrichten das sind. Ich weiß, was dich forttreibt. Sie sah ihn fest und traurig an. Ihr Blick sagte – und gar wohl verstand er ihn –: Mich täuschest du nicht über den Grund deiner Flucht, ich kenne ihn.

»Ich bitte Sie,« sprach er hastig, »mich bei Ihrer Tante Luise zu entschuldigen. Ich finde nicht mehr Zeit zu einem Gang nach Vrobek, es ist unmöglich . . . Unmöglich,« wiederholte er, einen Augenblick völlig abwesend. »Haben Sie die Güte, ihr meine Empfehlungen zu bestellen und meinen Dank . . . Wollen Sie das für mich tun?«

»Ja.« Sie senkte den Kopf, sie dachte: Wenn du wüßtest, wie schwer es ist . . . Aber dennoch – das und noch viel, viel mehr!

Herr von Kosel erschien und war unangenehm berührt, Levin da und allein mit Elika zu finden. Ein »Schön, das ist ja schön,« als er den Zweck von Bornholms Besuch erfuhr, verriet seine innersten Gefühle. »Nach Norwegen. Ja, nach Norwegen also. Und dann? ja wohin dann?«

337 Die Antwort blieb aus.

»Das arme Valahora,« sprach Elika, »und der arme Hansl. Möchten Sie ihn während Ihrer Abwesenheit nicht uns . . .?«

»Er ist versorgt,« unterbrach sie Bornholm. »Er hat einen vortrefflichen Hüter, den Bruder Ihres Hanusch.«

Noch ein paar gleichgültige Reden, in die Kosel einige Sympathiekundgebungen für Norwegen einflocht. Insbesondere für den Glommen-Elf, in den er mit allen seinen Gedanken versank.

»Sie gehen nach Norwegen und dann nach Ihrem Neusüdwales,« sagte Elika, und auf den Lippen brannten ihr die Worte: Sie wollen Luise nicht leiden machen . . . O, wie gern würde ich für Sie leiden, Sie durch mein Leiden erlösen!

Aber dieses Glück war ihr nicht gegönnt, unerlöst zog er wieder fort, der arme Gottlose, mit dem man nicht verkehren durfte, ohne selbst in Verdacht der Gottlosigkeit zu kommen. Nicht einmal viel von ihm sprechen sollte man, den ganzen großen Schmerz um ihn wie etwas Unrechtes, Unwürdiges verbergen . . .

Diese Nacht hindurch schloß sie kein Auge; 338 eine Seele wenigstens sollte mit ihm wachen. Er konnte sich keine Ruhe gönnen vor dieser überstürzten Abreise, zu der die Bosheit der Menschen ihn zwang . . . Und – Elika schluchzte plötzlich auf – seine Liebe zu Luise, die Liebe, die hoffnungslos war und für ihn eine Pein, wie sie es für Josef gewesen . . . Freilich, der Tante Luise wagte er doch nicht zu sagen: Verlassen Sie Ihre Heimat und alle, die Ihnen teuer sind, und kommen Sie mit mir! Wem hätte sie diese schweren Opfer bringen sollen? Einem launenhaften, verdüsterten Menschen, der sie ihr nicht zu danken, ihr das Leben nicht leicht zu machen verstände. – Nein, nein, es war recht gewesen, ein solches Opfer nicht von ihr zu verlangen . . . Elika wußte eine andre, die es gern gebracht hätte, aber diese andre war in seinen Augen nur ein dummes, kleines Mädchen . . .

Am nächsten Tage kam Bartolomäus sehr vergnügt mit Hansl und seinem Wärter nach Vrobek. Der Herr Bornholm war abgereist und schickte da das Pferd. Das Fräuln möge den Hansl beliebig verwenden, als Reit-, Wagen- oder Arbeitspferd, er wäre ganz fromm. Für 339 alles, was er brauchte, habe sein Wärter zu sorgen, das sei alles aufs beste eingerichtet. Das Fräuln wolle nur gütigst den beiden einen Unterstand geben im Meierhof.

Leopold fand, daß die Übersendung des Hansl eine Kühnheit sei. »Ich habe aber kühne Menschen gern, und du auch, Tante Luise,« sagte er zu ihr und lachte. Seine Zähne blinkten so weiß und hell, daß es eine Freude war, und seine lieben Augen blickten die Tante, um Verzeihung bittend, an.

»Und ich auch,« sprach Luise ruhig und tapfer.

Das begab sich im Stall der Meierei, in dem Schekinka II und Hansl friedlich nebeneinander standen, bis an die Bäuche in Stroh, und die Huldigungen sämtlicher Mitglieder der Familie Kosel empfingen.

Elika sah abwechselnd von Hansl zu Luise hin. Die Tante erschien ihr anders als sonst, verjüngt, verschönt. Sie wurde geliebt von Josef und von Bornholm. Geliebt werden, was ist das für eine große Sache – die größte auf Erden.



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