Marie von Ebner-Eschenbach
Die arme Kleine
Marie von Ebner-Eschenbach

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Im Oktober stellte sich regnerisches Wetter ein; und wenn am Nachmittag auch nur eine drohende Wolke am Himmel erschien, kam schon ein Wagen aus Velice angefahren, um Luise abzuholen. Sehr früh wurde er geschickt und spät wieder angespannt, um sie nach Hause zurückzubringen. Am liebsten hätte man sie beständig in guter Hut behalten und gar nicht fortgelassen. Sie war für die Tanten und für Kosel, wenn er nicht gerade an Zeitungen dachte oder auf irgend einem Steckenpferdchen einen Schulritt unternahm, ein Sorgenkind geworden. Man wußte, und es fiel ihr nicht ein, es zu leugnen, daß Bornholm sich täglich in Vrobek einfand. Ums Mittagsläuten kam er, blieb manchmal eine volle Stunde, manchmal nur wenige Minuten, und war immer wieder ein anderer Mensch. Heute still und in sich gekehrt, morgen heiter und mitteilsam, und dann 296 plötzlich ergriffen wie von einem bösen Geist, hart, herb, aggressiv. Da erging er sich in Sarkasmen und Lästerungen, die sie abstießen, und mehr als einmal hatte sie die Empfindung gehabt, daß auch er sich von ihr abgestoßen fühle, daß er von einem Kampfbedürfnis getrieben, daherkomme, Unruhe zu säen in ihr stilles Haus und Unfrieden in ihre gleichmütige Seele. Er ahnte nicht, wie sehr ihm das gelungen. Ihre vielgerühmte Heiterkeit war nur noch ein mühsam bewahrter Schein. In Wahrheit lag sie im schwersten Kampfe mit sich selbst. Zu diesem Manne, in all seiner Kraft, Gesundheit, geistigen Überlegenheit, mit all seinem großen Reichtum, zog ein unwiderstehliches, oft bis zur Pein gesteigertes Mitleid sie hin. In solchen Augenblicken wurde diese Luise, die für so ruhig und kühl galt und sich selbst dafür hielt, von dem brennenden Wunsch erfaßt, zu ihm hinzutreten, beide Arme um ihn zu schlingen, seinen Kopf an ihr Herz zu ziehen, ihre Lippen auf seine Stirn zu drücken und zu sagen: Da, ruhe aus, du Unrast, da hast du dein Zuhause, da strömt dir ein Quell 297 unerschöpflicher Liebe und all der Nachsicht, die du brauchst. An diese Liebe kannst du glauben, du Glaubensloser.

Sie stand am Fenster ihres Salons, von dem aus ein Stück des Weges zu überblicken war, der herüberführte von Valahora. Wenn er heute nicht käme – es wäre gut. Sie wünschte es fast. Sie wünschte einmal wieder Renatens besorgte Frage: »Hast du Besuch gehabt?« mit Nein beantworten zu können. Und Bornholm war gestern ungewöhnlich mild gestimmt und vertrauensselig gewesen – da gab es am Tage darauf regelmäßig einen Rückschlag. Vielleicht fand er es heute schon recht unnütz, daß er von der Jugend seiner Mutter, von ihrem Martyrium gesprochen hatte. Sie war auch eine von den vielen gewesen, die, zu schwach, um sich zur Wehre zu setzen, dem Wohl einer Gesamtheit zum Opfer gebracht werden. Höchst alltäglich der Anfang dieser Lebens- und Leidensgeschichte. Zwei junge Liebende, verarmten, in naher Nachbarschaft lebenden Adelshäusern entsprossen, von Eltern erzogen, denen alles eher möglich erschien, als daß eines ihrer Kinder seinen eigenen 298 Willen haben könnte. Ihn, den jüngsten von sechs Söhnen, bestimmte der Vater zur Auswanderung. »Du bist kühn, stark, hast Talent, hast Unternehmungsgeist; geh hin, verdiene dir dein Brot, erwirb ein Vermögen, wenn du kannst.« »Wenn ich eins erwerbe, lege ich es dir zu Füßen,« sprach er im Scheiden zur Geliebten, und sie antwortete: »Warte nicht zu lang, rufe mich, wenn die Trennung dir unerträglich wird. Ich komme über Meer und Länder.« Es ist nie eine Botschaft von ihm zu ihr, von ihr zu ihm gelangt. Ihre Eltern, von den Gnaden ihres begüterten Verwandten Bornholm lebend, seiner Willkür unterworfen, schenkten seiner Werbung um ihre Tochter Gehör, gaben zu, daß deren Briefe zurückbehalten, die Briefe des Ausgewanderten unterschlagen wurden. »Du siehst, er hat dich vergessen, ist untreu,« sagten sie zu ihrem armen Kinde, als aus sicherer Quelle die Kunde kam, dem Geliebten ginge es gut, er sei wohlhabend geworden in Neusüdwales. Bornholm aber war treu, war der großmütige, immer helfende Freund, der Retter aus der Not – der Unehre. Und sie, stark im Dulden, schwach im 299 Tun, abwechselnd bedroht und angefleht, gab endlich nach.

Klägliche Jahre verflossen. Die Gattin Bornholms führte das peinvoll erniedrigende Leben einer edlen, feinfühligen, der Zärtlichkeit und der Eifersucht eines ungeliebten Mannes ausgelieferten Frau. Da verbreitete sich plötzlich die Kunde, ›der Australier‹ kehre in die Heimat zurück. Ohne Zögern, als handle es sich nur um die Ausführung eines längst gefaßten Entschlusses, verkaufte Bornholm seine nordische Besitzung, zog hierher und erwarb das Gut Valahora. Dort spielte sich das Ende der Familientragödie ab. Dem ›Australier‹ gelang es, Beweise für die Niedertracht zu erlangen, mit der an ihm und an der Geliebten gehandelt worden war; er kam und forderte sie von dem Betrüger zurück, forderte Trennung der auf Lüge und Verrat gegründeten Ehe. Im Angesicht des Mannes rief er der Frau zu: »Rede! Wem hat dein Herz von Jugend auf gehört, wem gehört es noch?« – Und im Angesicht des Mannes gab sie ihm Antwort.

Dieses eine und einzige Mal in ihrem Dulderdasein bäumte sie sich auf. Die Entrüstung, die 300 Verzweiflung, die Nähe des Erwählten gaben ihr den Mut, ihre Lippen zum vollen, stolzen Bekenntnis der Wahrheit zu öffnen:

»Wen ich geliebt habe, wen ich liebe, heiß und sehnsüchtig? und ewig lieben werde? – Dich!« – Das leidenschaftlich hervorgestoßene Bekenntnis war zugleich ein Abschied. Sie konnte ihm nicht folgen, ihren Quäler nicht verlassen. Ihre Ehe lösen, ihm folgen werde sie nicht. Sie hatte ja ihr Kind . . . Aber auch das sollte sie von Stunde an nicht mehr haben. Der Gatte entfremdete es ihr, lehrte es, Grauen vor seiner Mutter zu empfinden. Von allem Unverzeihlichen, das sein Vater getan, war das in den Augen Levins das Unverzeihlichste. Übers Grab hinaus haßte und verabscheute er ihn dafür.

Dem furchtbaren Auftritt im Schlosse war ein Duell ohne Zeugen gefolgt. Die Kugel des Gegners und Rivalen konnte Bornholm nie aus dem Leibe geschnitten werden, mahnte ihn durch unausgesetzte Schmerzen an die bitterste und beschämendste Stunde seines Lebens. Ein Trost blieb ihm: Sein Schuß hatte noch besser getroffen 301 als der des Feindes. Nach langem Siechtum schiffte dieser – ein vom Tode schon gezeichneter Mann – sich wieder nach Australien ein. Er wollte seine Ländereien und seine Homestation noch einmal sehen. Er wollte die Güter, die er für die Vielgeliebte erworben hatte, ihrem Kinde sichern und vertraute die Verwaltung treuen Händen an, aus denen der junge Erbe sie einst empfangen sollte. Ein Gruß des Sterbenden, die Kunde seines Hinscheidens und seiner letzten Verfügungen gelangten nach Valahora. Sie blieben unbestellt und, so lange Bornholm noch lebte, ein Geheimnis für jeden. Und doch war eine da, die sein Bestehen ahnte: Alwide, die ehemalige Dienerin der Mutter Levins. Ihr Mißtrauen war immer wach, unablässig stachelte sie den Sohn zum Hasse gegen den Vater an.

Ein furchtbares Verhältnis gestaltete sich zwischen den beiden Bornholm. Der Alte entsetzlich in seiner geist- und herzlosen Tyrannei, Levin, als Knabe wie ein kleines Kind, als Jüngling wie ein Knabe behandelt, in heller Entrüstung kämpfend und rebellierend.

Dann der plötzliche Tod des Bedrückers und 302 sein Sohn aus tiefster Knechtschaft ohne Übergang in völlige Ungebundenheit versetzt . . . War's ein Wunder, daß sie bald in Zügellosigkeit ausartete? daß der Jüngling aus der tollen Jagd nach dem Glücke, das er sich vom Leben versprach, in die Irre geriet?

»Haben Sie von dem Narren gehört,« schloß Levin seine Beichte, »der hinging, den Fleck zu finden, von dem aus der Himmel sich zur Erde niederzwingen ließe, und unterwegs im Schlamme versank? . . . Nicht für Ihr Ohr die Geschichte dieser Jahre! . . . Was ich verlor? – den Glauben an Gott und die Menschen. Was ich gewann? – Ekel vor mir selbst und Verachtung einer Kultur, die alle Höhen ermißt, alle Tiefen ergründet und vor dem reichen Laster jedes Tor aufreißt und jedes geheimste Pförtchen . . .

Schlecht diese Welt und schlecht ich. Wir hatten einander nichts vorzuwerfen und hatten auch keine Freude aneinander . . . Ich flüchtete von denen, die zwischen Gut und Böse den Unterschied nicht mehr kennen, zu denen, die ihn noch nicht kennen. Und – eine Art Heimat habe ich ja dort gefunden, während 303 alles, was ich hier Heimat nennen könnte, mir eine Stätte der Erinnerung an einen Schmerz oder an einen Frevel ist.«

Damit war er aufgestanden und war fortgegangen und hatte ihr kaum Zeit gelassen, sein Abschiedswort zu erwidern . . .

Zwölf Uhr. Das Gebimmel des Mittagsglöckchens durchzitterte die regenschwere Luft. Nun kommt er nicht mehr, und das ist gut. Er sollte wirklich auch nicht täglich kommen, es gehört sich nicht und stört ihr den Frieden. Sie trat fort vom Fenster, sie hatte noch allerlei in ihrer Wirtschaft zu tun, Arbeiten zu beenden, die halb fertig auf dem Tische lagen, und auch noch Rechnungen abzuschließen. Heute Nacht hatte es sie heiß überlaufen; da war ihr eingefallen, daß sie vergessen hatte, am vorigen Samstag ihre Wochenrechnungen zu bezahlen und ihre Krankenbesuche im Dorfe zu machen. Ihr Interesse für Bornholm begann jedes andere in Schatten zu stellen. Sie gab sich genaue Rechenschaft davon. Seine fremdartige Gestalt hatte sich zwischen sie und die ihr früher liebsten Menschen geschoben und ihr diese ferner gerückt. Die guten Tanten, den armen, langweiligen Vetter Felix, seine Kinder, Elika sogar – alle, alle . . . Wie das nur gekommen war, und was ihr denn an ihm gefiel? Und gefiel er ihr denn überhaupt? Es lag vieles in seiner Art und Weise, das sie beängstigte und verletzte. Aber immer erwachte von neuem ein unberechtigtes und doch unüberwindliches Mitleid . . .

Sie verließ das Zimmer und hatte den Treppenabsatz kaum überschritten, als das Tor der Halle geöffnet wurde und Levin eintrat:

»Guten Tag, Fräulein von Kosel,« rief er zu ihr hinaus und schwenkte den Hut. »Störe ich Sie? haben Sie zu tun? Wenn ja, schicken Sie mich fort. Ich werde Sie nicht lange in Anspruch nehmen, ich möchte Ihnen nur eine Bitte vorbringen.«

»Ich habe wirklich zu tun,« erwiderte sie, »wenn es sich aber um eine Bitte handelt, die muß ich hören. Kommen Sie!«

Luise ging in den Salon zurück, und Bornholm folgte ihr auf dem Fuße. Sie nahm Platz in der Ecke des Kanapees und er ihr gegenüber auf einem Sessel, vor dem mit Weißzeug und Näharbeiten bedeckten Tisch.

305 Er zögerte ein wenig und sprach dann rasch: »Sie sind mir eine Wohltat, Fräulein von Kosel.«

»Das freut mich sehr,« versetzte sie ernst, »desgleichen hört man immer gern. Und Ihre Bitte?«

»Daß Sie sich von mir nicht abwenden, mir Ihre Teilnahme nicht entziehen.«

»Warum sollt ich das?« fragte Luise.

»Man rät es Ihnen, Menschen, die Ihnen teuer sind, raten es Ihnen . . . Ob eindringlich, mit vielen Worten, ob stumm, durch kummervolle Mienen, ist ja gleich . . . Ihr Vetter Kosel – ich komme jetzt auf das, womit ich hätte anfangen sollen – ist bei mir gewesen vorhin. Eben. Er kam – als Sendbote, gewiß – eigene Initiative ist nicht sein Fall – mir anzudeuten, daß meine Besuche bei Ihnen unpassend gefunden werden. Ich war mehr aufs Erraten als aufs Verstehen angewiesen – die letzte Nummer der ›Evening News‹ lag auf dem Tisch . . . Sie begreifen, da konnte er doch nicht bei der Stange bleiben . . . Wie er daheim bestehen soll im Examen über den Erfolg seiner Mission, ist mir unklar, und klar nur, daß er sie hatte . . . und 306 denken Sie, Fräulein von Kosel! mit meiner Kunst, das Unangenehmste für das Nächstliegende zu halten – ergriff mich die Sorge, er habe die Mission von Ihnen.«

»Das ist ein komischer Einfall. Wie konnte er Ihnen kommen?«

»Ich weiß es selbst nicht . . . Er haftete auch nicht . . . Bald kam ein Trostgedanke. Sie würden mir doch kaum durch einen Dritten sagen lassen: ›Ihre Anwesenheit bei mir erregt Ärgernis. Bleiben Sie fort‹ . . . Sie sagen das überhaupt nicht. Sie sind zu stolz und unabhängig, um Ihre Handlungsweise zu ändern, weil alberne Leute an ihr Anstoß nehmen.«

Luise hatte den Kopf gesenkt, erhob ihn nun und versetzte mit einem herzgewinnenden Lächeln: »Ich bin ratlos, ob ich nun erwidern soll, Sie tun mir unrecht, oder, Sie tun mir zu viel Ehre an. Eben heute habe ich mir überlegt, ob ich nicht gut täte, Sie zu bitten, seltener zu kommen.«

»Der Leute wegen?«

»Der Leute wegen, die Sie albern nennen, und die es so gar nicht sind.«

307 »Wohl denn!« rief er, »ich gebe es zu, es sind die respektabelsten Leute, – aber auch durch die sollen Sie sich nicht bestimmen lassen, mich vor die Tür zu setzen. Denn,« wiederholte er, und dabei nahm sein männliches Gesicht einen völlig ungewohnten und fast kindlichen Ausdruck an, »Sie sind mir eine Wohltat, Fräulein von Kosel!«

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